Revolutionsträume im Schwabenländle

Clara Zetkins Briefe aus den Kriegsjahren 1914 bis 1918 dokumentieren den politischen Kampf der Genossin

Von Julia LindRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Lind

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war die Sozialistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin bereits über 30 Jahre im politischen Geschäft tätig, hatte den Aufstieg der SPD miterlebt und war mit führenden Kräften der Partei wie August Bebel, Friedrich Engels und Eduard Bernstein sowie den Liebknechts befreundet. Nicht zuletzt aufgrund ihres Engagements in der internationalen Frauenbewegung war die damals 57-Jährige eine prominente Figur im öffentlichen Leben. Während ihres Pariser Exils nahm Zetkin großen Anteil an der Gründung der internationalen sozialistischen Frauenbewegung und beschloss 1910 auf der zweiten internationalen Frauenkonferenz in Kopenhagen den heute fest verankerten Welt-Frauentag. Zetkin verkörperte zu Beginn des Krieges den Geist der „alten Tante“ SPD – in ihr lebte der Mythos dieser kämpferischen Arbeiterpartei, auf den sich heutige Wahlkämpfer nur allzu gerne berufen. Der von Marga Voigt herausgegebene Briefband gibt Einblick in das Leben dieser umtriebigen Frau: Die in dem ersten Band gesammelten Kriegsbriefe von 1914 bis 1918 dokumentieren ihre Entfremdung von der SPD, ihre Hoffnungen in die Russische Revolution und den steten Einsatz für die Ziele der sozialistischen Revolution auch in Deutschland.

Die Briefe zeigen eine vehemente, willens- und meinungsstarke Frau, die von ihrem Wohnort in Stuttgart einen Kampf David gegen Goliath führt: Sie kämpft gegen die Beschlüsse ihrer eigenen Partei, die mit dem Burgfrieden und der Zustimmung zu den Kriegskrediten gegen grundlegende Überzeugungen der Internationalen verstoßen. Früh erkennt Zetkin, die selbst Mutter zweier Söhne im Kriegseinsatz ist, die verheerenden Ausmaße des Krieges und setzt sich besonders in der von ihr geleiteten Zeitung Die Gleichheit und in der Frauenbewegung für ein Ende des Krieges ein. Deutlich bezeugen ihre Korrespondenzen den Entfremdungsprozess von der SPD: Distanziert sich Zetkin in den ersten Briefen noch ausdrücklich von Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Plänen, sich von der Partei abzuspalten, da gerade zu Zeiten des Krieges der Zusammenhalt gewahrt werden sollte, ändert sich ihre Meinung, als die SPD ein zweites Mal für die Kriegskredite stimmt: Sie wendet sich von den Parlamentariern im Reichstag ab, wirft ihnen eine Mitschuld an der Fortdauer des Krieges vor. In der neu gegründeten USPD gehört sie zum linken Flügel, der Spartakusgruppe, und tritt vehement für die Agitation der Bevölkerung ein, denn, so schreibt sie an Franz Mehring 1917:

Die Ereignisse haben bewiesen, daß der Deutsche das passivste, unpolitischste aller ‚sozialen Tiere‘ ist. Sehen Sie unsere Geschichte an! Politisch waren wir völlig unschöpferisch. Alle Gedanken, Einrichtungen des modernen Lebens stammen aus England und Frankreich. […] Je kleiner noch unsere Zahl, und je geringer unsere Mittel, umso notwendiger, daß wir jede Gelegenheit nutzen, um zu den Massen zu reden. […] Wenn es nicht anders sein kann, so steige ich auf einen Misthaufen und haranguire die Leute von dort.

Unvermittelt stehen in der Briefsammlung offizielle Parteibriefe, Freundschaftsbriefe und geschäftliche Korrespondenzen nebeneinander, wobei ganz unterschiedliche Sprachen und auch Charakterzüge Clara Zetkins freigelegt werden, schwankend zwischen der agitatorischen Parteisprache, einer formal- nüchternen Geschäftssprache und einer überraschend  warmherzigen, bildungsreichen privaten Sprache. Diese Wechsel machen den Briefband facetten- und abwechslungsreich, fordern den Leser allerdings auch heraus. Viele der Briefe, die sich mit den formalen Abläufen des Publikationswesens, der politischen Arbeit und Organisation auseinandersetzen, sind recht mühsam zu lesen. Sie zeugen von einer Routine und Sicherheit im Umgang mit den Funktionären und Amtsträgern der Partei und geben Einblick in eine kleinteilige und endlos wirkende Parteiarbeit des Organisierens, Disponierens, Planes und Verabredens. Es sind eben nicht die schillernden Ereignisse wie der internationale Frauenkongress 1915 in Bern, der in die Geschichte einging, sondern die Mühen der Ebenen, die zeigen welche Vorbereitung und Hindernisse es gab. Dies macht das Lesen nicht gerade zu einer spannungsgeladenen Lektüre, sondern bringt den Leser in die Rolle des Wissenschaftlers oder des Archivars. Die Manifeste und Traktate, die an eine größere Öffentlichkeit gerichtet sind, sind in der Partei-Sprache jener Zeit verfasst, welche auch an die spätere Kadersprache der SED erinnert. Mit klarem Feindbild ausgestattet, agitiert sie in dem Partei-Jargon der Kommunisten. Etwa wenn es in dem Rundbrief an den sozialistischen Frauenrat Großbritanniens heißt: „Ihr könnt überzeugt sein, daß wir eins mit Euch sind in der Brandmarkung des gegenwärtigen Weltkrieges als des furchtbarsten Verbrechens an der Menschheit, dessen sich der kapitalistische Imperialismus schuldig macht.“

Beeindruckend ist Zetkins unermüdlicher Einsatz für die Frauenbewegung beziehungsweise die Sache der Frau. Zetkin spricht der Frau einen ganz eigene Rolle im Klassenkampf zu und entwirft dabei eine eigene Gendertheorie, wenn Sie an die Genossin Anna Lindhagen schreibt: „Gerade weil wir Frauen weibliche Menschen, nicht mißratene, verpfuschte Kopien der Männer sind und unsere eigenen geistigen und sittlichen Werte für die Betrachtung und Lösung der vorliegenden Probleme mitbringen.“ Trotz Einschränkungen des Krieges müht sich Zetkin, Treffen zu organisieren und mit den Parteimitgliedern der neutralen Länder in Kontakt zu bleiben. Sendungsbewusstsein und der Wille zur Macht verdeutlicht sich in den Aufrufen und Manifesten, in denen die Erfolge der internationalen sozialistischen Frauenkongresse vorgestellt und in die europäischen Länder verbreitet werden. Der Zeitung „Die Gleichheit“  widmet Zetkin ihre ganze Kraft, hier ist ihre Plattform, um gegen den Krieg zu agitieren und Artikel zur politischen Lage zu veröffentlichen. Auf Seiten des Deutschen Reiches ist sie als Staatsfeind eingestuft, Briefe werden überwacht und Artikel in der Zeitung regelmäßig zensiert. Zetkin, die sich gegen die deutsche Behäbigkeit regelmäßig echauffiert, ist eine gewisse Lust an Widerstand und Provokation anzumerken. Antrieb gibt ihr die Russische Oktoberrevolution 1917, die Utopie der Sowjetunion ist ihre große Projektionsfläche und Kraftgeber, so verrät sie in einem Brief Mathilde Jakob: „Alles zieht mich nach Rußland. Unter den Russen habe ich jung meine Heimat gefunden, politisch, menschlich, unter Ihnen möchte ich bis zum Ende arbeiten, kämpfen.“

Den  Gefängnisaufenthalt in Karlsruhe nimmt sie wie eine Märtyrerin hin, dieser schwächt sie zwar gesundheitlich, bekräftigt sie aber gleichzeitig in der politischen Haltung. Ihr Schicksal teilt sie mit Rosa Luxemburg, die zur selben Zeit im Weibergefängnis inhaftiert ist. Die Bilder im Briefband bezeugen die Freundschaft zwischen Luxemburg und Zetkin, eine sozialistische Zeitung zeigt die Vorkämpferinnen der Revolution in ihren Gefängniszellen. Ein anderes Bild zeigt die beiden Frauen als ein ungleiches Paar: die zierliche Rosa Luxemburg steht neben der dominant wirkenden älteren Clara Zetkin. Gegenüber den Revolutionsführern Liebknecht und Luxemburg tritt Zetkin geradezu mütterlich auf, sorgt sich um deren Gesundheitszustand und sendet Care-Pakete an die Sekretärin von Luxemburg, Mathilde Jakob: „Sie haben gewiß das Päcklein mit etwas Mundvorrat für Karl erhalten. Lachen Sie nicht darüber. Ich erfuhr von Dritten, daß Karl hungert und flehentlich um Süßstoff und Fett bitte. Da schickte ich, was wir hatten.“ Auch vermisst sie Rosa, sorgt sich um ihren zarten Körper. Die russische Revolution vor Augen agitiert sie während der Novemberrevolution für die Stuttgarter Spartakusgruppe:

Ich hielt fünf Reden im Freien vor Franzosen, Italienern, Rumänen und Serben, Russen [und] den deutschen Wachmannschaften. Die Russen gaben mir einen herzlichen Gruß und Kuss für das revolutionäre deutsche Volk mit. An diesem Tag noch zwei Reden in Ulm auf dem Marktplatz und in Göppingen auf der Straße unter den Jahrmarktsbuden. Ich kam todmüde und heiter heim.

Dieser erste Band der Briefsammlung, der die Jahre 1914 bis 1918 umfasst, ist 445 Seiten lang und mit einem ausführlichen Fußnoten-Apparat versehen; der Anhang umfasst nochmals über 100 Seiten. Neben einem kommentierten Personenregister sowie dem Lebenslauf von Clara Zetkin sind Dokumente wie Zeitungsartikel aus dem Revolutionsjahr 1918 angehängt, die die Folgen der Russischen Revolution für die deutsche Sozialdemokratie diskutieren. Auch die Herausgeberin Marga Voigt ist mit einem Nachwort vertreten, sie skizziert die Entstehungsgeschichte und Editionsrichtlinien der Ausgabe. Zudem führt der Historiker Jörn Schütrumpf in einem Essay in das Leben Zetkins während des Krieges ein und beschreibt die politische Welt, in der sie sich bewegte. Dramaturgisch hätte es durchaus Sinn gemacht, diesen spannenden Essay an den Anfang der Ausgabe zu setzen, um die Leser auf das Leben dieser deutschen Sozialistin einzustimmen und ihre Neugierde auf die Kriegsbriefe zu wecken.

Titelbild

Clara Zetkin: Die Kriegsbriefe. Bd. 1.
Herausgegeben von Marga Voigt mit einem Nachwort von Jörn Schütrumpf und Marga Voigt.
Karl Dietz Verlag, Berlin 2016.
559 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783320023232

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