Vom Ende der Sesshaftigkeit

Johannes Bobrowski und die Sarmatische Zeit

Von Andreas F. KelletatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas F. Kelletat

Am 2. September 1965, im Alter von 48 Jahren, starb Johannes Bobrowski in Ost-Berlin. Zu seinem Begräbnis auf dem Friedhof der Evangelischen Kirchgemeinde von Friedrichsha­gen kamen der Kulturminister der DDR und viele Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten: Erich Arendt, Wolf Biermann, Hubert Fichte, Stephan Hermlin, Uwe Johnson, Hermann Kant, Günter Kunert und Hans Werner Richter, Chef der Gruppe 47, die Bobrowski 1962 ihren Preis verliehen hatte – in einer Kampfabstimmung übrigens gegen Peter Weiss.

Bobrowski gehörte zu jenen, die ihre Jugend in Männer-Massenunterkünften, in Kaser­nen und Lagern verbringen mussten. Nach dem Abitur 1937 in Königsberg folgte der Arbeitsdienst, an den sich nahtlos der Wehrdienst anschloss. Und als der fast um war, begann schon der Krieg. Der führte den Wehrmachtssoldaten nach Polen, Frankreich und Russland, an den Ilmensee und ins zerstörte Nowgorod. In Kurland gerät er am 8. Mai 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er zu Weihnachten 1949 nach Deutschland zurückkehrt, nach Ost-Berlin. Dort wird er bis zu seinem frühen Tod mit seiner Familie leben. Ab Mitte der 1950er-Jahre entstehen jene Dichtungen, in denen er seinen ganz eigenen Ton findet und die seinen Ruhm begründen.

Das Andenken an den Dichter wurde 2015 zu seinem 50. Todestag viel­fach erneuert, etwa durch einen von der Bobrowski-Gesellschaft initiierten Literarischen Abend zu Ehren Bobrowskis, zu dem der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck ins Schloss Bellevue eingeladen hatte, durch Klaus Wagenbachs Neu-Ausgabe des Romans Levins Mühle, des wohl populärsten Werks Bobrowskis, durch Andreas Degens Anthologie Sarmatien in Berlin und durch manch weitere Aktivität wie die Enthüllung einer Gedenkplakette an jenem Gebäude, in dem Bobrowski als Lektor des Ost-Berliner Union Verlages gearbeitet hat, wenige Schritte entfernt nur von der Grenzmauer am Checkpoint Charlie – und dann gab es in der Bonner Schlosskirche im Januar 2016 noch einen von Johannes Geffert geleiteten musikalisch-literarischen Abend „… komm vom Libanon gegangen.“ Drei Könige des Nordens: Buxtehude, Bruhns, Bobrowski.

Bobrowskis Blick war wie der keines zweiten deutschen Schriftstellers beharrlich Rich­tung Osten gerichtet. Und das war die erklärte Absicht des in Tilsit, dem heutigen Sow­jetsk in der Oblast Kaliningrad, geborenen Dichters. Er wollte seinen deutschen Landsleu­ten etwas sagen, was sie nicht unbedingt hören mochten. Dass sie nämlich ihre Nachbarn im Osten kaum kennen, dass wir sogar grundfalsche Vorstellungen hegen von diesen Nachbarn. Im Juli 1961 – sein erster Gedichtband mit dem Titel Sarmatische Zeit war eben erschienen – formulierte er sein zentrales Anliegen so:

Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: Die Deut­schen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewach­sen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedich­ten. Zu Hilfe habe ich einen Zuchtmeister: Klopstock.[1]

Die Deutschen und der europäische Osten: Diesem Schreibprojekt gab er Mitte der 1950er-Jahre den Arbeitstitel Sarmatischer Diwan. Wie einst Johann Wolfgang von Goethe sich im West-östlichen Di­wan den Ländern und Kulturen des Orients zugewandt hatte, so wollte er es mit jener östlichen Region Europas halten, die er „sarmatisch“ nannte.

Das Wort „sarmatisch“ beziehungsweise „Sarmatien“ klingt fremd. Vertraut mag es Kennern der Bach’schen Kantate Preise dein Glücke / gesegnetes Sachsen sein, in der der Kurfürst und polnische König August III. als Herrscher Sarmatiens gepriesen wird. Aber was genau verstand Bobrowski unter „Sarmatien“?

In seinem Nachlass hat sich eine Landkarte erhalten, auf der er fünf sarmatische Zonen einzeichnete. Als Zone 1 Ost- und Westpreußen, als Zone 2 Litauen, Lettland, Estland und Finnland, als Zone 3 das europäische Russland, als Zone 4 Polen und als Zone 5, am linken Rand der Karte den westlichen Ostseeraum mit Lübeck, Helsingör, dem Sund und dem südlichen Schweden.

Es wäre eine nicht unsinnige Übung, seine Gedichte und Prosatexte, einschließlich des noch kurz vor seinem Tod niedergeschriebenen Romans Litauische Claviere daraufhin durchzugehen, wie diese fünf Regionen in seinem Gesamtwerk im einzelnen vertreten sind: Die Zone 5 etwa mit seinen Hinweisen auf Friedrich Gottlieb Klopstock und mit den Porträtgedichten auf Dieterich Buxtehude und Hans Henny Jahnn. Dessen auf Bornholm entstandener Roman-Trilo­gie Fluß ohne Ufer sind Züge jener Buxtehude- und Bruhns-Bilder zu verdanken, die Bobrowski in seiner D.B.H.-Erzählung zeichnet.

Zu bedenken ist freilich, dass er für sein Gedichtbuch am Ende nicht den Titel Sarmati­scher Di­wan wählte, sondern Sarmatische Zeit, was bedeutet, dass es ihm nicht nur um das Geographische ging, um die Ströme und Städte und Landschaften der sarmatischen Ebene, sondern um das Geschichtliche. Im Raume lesen wir die Zeit – genau das hat er getan, aber in ganz anderen Dimensionen, als es unter Kulturwissenschaftlern heute en vogue ist.

Gewiss, viele Gedichte handeln von Ereignissen und Gestalten des 20., 19. und 18. Jahrhunderts, von der in Nowgorod im Krieg zerschossenen Kathedrale, von der dem Warschauer Ghetto entflohenen Partisanin Bajla Gelblung, von Isaac Babel und Rosa Luxemburg, von Adam Mickiewicz und Aleksis Kivi, von Johann Georg Hamann und dem preußisch-litau­i­schen Pfarrerdichter Christian Donalitius. Dann aber geht es auch um den Samländischen Auf­stand von 1525 und die Taufe des Perun. Kiew 988. Und noch weiter zurück reicht Bobrowskis sarmatische Zeit, bis in jene Epoche, in der wir aus Nomaden zu Sesshaften wurden und zu lernen hatten, wie das ist: sesshaft zu sein. In seinem Gedicht Ebene von 1960 evoziert er den menschheitsgeschichtlichen Übergang von der nomadischen Jägerkul­tur zur Kultur des sesshaften Bauern mit domestizierten Tieren und Pflanzen – eine Didaktik der Sesshaftigkeit:

Ebene

See.
Der See.
Versunken
die Ufer. Unter der Wolke
der Kranich. Weiß, aufleuchtend
der Hirtenvölker
Jahrtausende. Mit dem Wind

kam ich herauf den Berg.
Hier werd ich leben. Ein Jäger
war ich, einfing mich
aber das Gras.

Lehr mich reden, Gras,
lehr mich tot sein und hören,
lange, und reden, Stein,
lehr du mich bleiben, Wasser,
frag mir, und Wind, nicht nach.[2]

Als Selbstinterpretation dieses Gedichts lässt sich eine poetologische Notiz nehmen, die er für eine Lesung formuliert hat. Dort heißt es:

Die im Neolithikum begonnene Seßhaftwerdung der Jäger, Fischer, Sammler, die Inbesitznahme des Bodens, die Bindung an ihn hat bis heute im wesentlichen angedau­ert. Dieses Zeitalter geht zuende, mit ihm also Vorstellungen wie Heimat, Heim­weh, politisch: Nationalstaaten, Nationalbewußtsein, die zu Provinzialismen wer­den.
Die Kontinente rücken zusammen, Technik ermöglicht ein Denken in Großräu­men.
Mit diesem Bewusstsein konzipiere ich eine Überschau des unwiderruf­lich Vergehen­den […] aber als ein Reisender, […] Wanderer, ein nicht mehr Dazugehöri­ger, als einer, der kommt und weggeht […].[3]

Auch das war sein Thema. Und dass es das war, erklärt sich aus seinen Erfahrungen und denen seiner Generation: Er erlebte den Untergang der Orte seiner Jugend: Tilsit, Memel und Königsberg, den Verlust seiner ostpreußischen Heimat, in die eine Wiederkehr, so der Titel eines späten Gedichts, nur im Traum beziehungsweise im literarischen Text noch möglich war. „Hingehen, das geht nicht mehr. Hingehen nicht“, heißt es am Ende der Litauischen Claviere: „Herrufen, hierher. Wo wir sind.“

Bobrowski sah die zerstörten Städte und Dörfer Polens und Russlands, die Gefangenen­züge und Flüchtlingsströme, die Lager und die Toten, die Erschießung von Partisanen:

Damals,
in den Mooren,
draußen, ging auf
der Zorn.

Zorn, eine schwere Saat.
Wie will ich rufen
einmal
das Aug mir noch
hell?[4]

Bobrowski lebte in einem Zeitalter der Vertreibung und Ausrottung, in einer Zeit der Heimatlosigkeit von Millionen. In seinen Dichtungen finden sich häufig kleine Sätze und Fragen, die, wie nebenbei gesagt, plötzlich da sind: „Wo bin ich?“ – „Hier sind wir. Wo ist das?“ – „Sag doch, wie leben wir hier?“ – „Wie lang noch bleibe ich hier?“ In seiner wunderba­ren Erzählung Das Käuzchen stellt er Dantons Frage: „Nimmt man das Vater­land an den Schuhsohlen mit?“ – eine Frage, die vor ihm zwei andere Exulanten zitiert haben: Georg Büchner und Heinrich Heine.[5]

Für ein paar Jahrzehnte konnten wir uns der Illusion hingeben, dass es vorbei wäre, bei uns zumindest, die Zeit des Krieges, der Flucht und Vertreibungen, der Heimatlosigkeit und Neusiedelei von Millionen. Aber jetzt, als ich wieder in seinen Gedichten geblättert habe, erschrak ich doch, als ich sah, was ich dort vor Jahren mir angestrichen hatte, die beiden Schlussverse des ersten Gedichts in seinem ersten Gedichtband Sarmatische Zeit. – Anruf heißt dieses 1957 geschriebene Gedicht und seine letzten Zeilen lauten:

Heiß willkommen die Fremden.
Du wirst ein Fremder sein. Bald.

Anmerkungen:

[1] GW (= Gesammelte Werke) IV, 335.

[2] GW I, 80.

[3] GW IV, 336.

[4] GW I, 130 f.

[5] Der vorstehende Absatz paraphrasiert bzw. wiederholt Beobachtungen meines Onkels Alfred Kelletat in seinen diversen Beiträgen zu Johannes Bobrowski.