Nachrichten aus einem Leben unter Beobachtung

Johannes Bobrowskis Briefe liegen nun in einer umfangreich kommentierten Ausgabe vor

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anders als andere große Lyriker und Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, anders als Stefan George, Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder Nelly Sachs hat Johannes Bobrowski nie den Status einer durch biografische Einmaligkeit ausgezeichneten auratischen Gestalt erreicht. Seinem – bescheidenen – Nachruhm war dies nicht zuträglich. Dafür gibt es natürlich Gründe: Bis heute fehlt trotz der sehr verdienstvollen Bobrowski-Chronik von Eberhard Haufe eine Gesamtdarstellung seines Lebens. Und selbst wenn es sie gäbe: Diese müsste sich an keiner wirkungsmächtigen Selbstinszenierung des Autors abarbeiten, dazu war Bobrowski nicht der Typ, auch entzöge sie sich der aufmerksamkeitserregenden Opfer-Täter-Dichotomie deutscher Vergangenheitsdebatten. Bobrowskis Leben war weniger spektakulär als typisch, ein Massenschicksal, das er mit vielen anderen teilte. Zur Erklärung der besonderen Qualitäten seiner Lyrik reicht es nicht hin.

In bisher nicht gekannter Intensität fassbar wird es nun dank der von Jochen Meyer herausgegebenen vierbändigen Ausgabe der Briefe Bobrowskis. Noch deutlicher als bisher werden jene Besonderheiten, die Bobrowski untauglich machen zum Kultautor: Er stand sein Leben lang quasi unter Aufsicht und hatte kaum Spielraum, außerhalb seiner – dadurch umso erstaunlicheren – Texte jene markante Eigenart zu entwickeln, die der Markt vom modernen Autor in seiner öffentlichen Selbstinszenierung verlangt. Gleich nach dem Abitur (1937) wurde der 20-Jährige zum Arbeitsdienst eingezogen, nach dessen Ende folgte noch im selben Jahr der zweijährige Militärpflichtdienst, vor dessen Abschluss der Zweite Weltkrieg begann, der für Bobrowski mit mehrjähriger russischer Kriegsgefangenschaft (bis Weihnachten 1949) endete. In den entscheidenden Jahren des jungen Erwachsenenlebens lebte er in Massenunterkünften und Lagern, seine Briefe, die wichtigste Kommunikationsform mit Familie und Außenwelt, mussten mit der Schere im Kopf verfasst werden. Seit dem 12. März 1940 waren auf Basis der „Verordnung über den Nachrichtenverkehr“ Feldpostbriefe auch ganz offen und offiziell der Zensur unterworfen (darüber steht im sonst so ausführlichen Kommentar der Briefausgabe leider nichts), die drohende Anklage wegen Geheimnisverrat, Spionage oder Wehrkraftzersetzung zwang zu opportunistischer Harmlosigkeit in allen Formulierungen. Noch strenger war die Zensur der wenigen erlaubten Briefe aus der Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr ins geteilte Deutschland, genauer: nach Ostberlin, wurde er bald − und er merkte es − zum Objekt der Beobachtung durch die Staatssicherheit der DDR. Die umfangreiche Briefsammlung ist denn auch mit dem Bewusstsein zu lesen, dass Bobrowski seine Briefe oft so formulierte, dass sie kontrollierenden Augen standhielten und weder ihm noch seiner Familie Schwierigkeiten einbringen konnten. So verwundert es nicht, dass zum Beispiel die Mitgliedschaft seiner Familie in der dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstehenden Bekennenden Kirche nirgendwo thematisiert wird.

Die Edition bringt über 1.200 Briefe. Nie zuvor war so viel detaillierte Information über Bobrowski zugänglich. Die Ausgabe geht zurück auf eine bereits bald nach Bobrowskis Tod von Eberhard Haufe begonnene Sammlung und Sichtung der Quellen, die der Herausgeber Jochen Meyer seinerzeit vom schwer kranken, mittlerweile verstorbenen Haufe übernommen und fortgeführt hat. Haufe hatte noch damit gerechnet, der von ihm veranstalteten Werkausgabe einen zusätzlichen Briefband hinzufügen zu können – nun sind vier Bände daraus geworden. Ein Grund dafür ist natürlich die pure Menge der ermittelten Briefe, die fast vollständig in möglichst diplomatischem Abdruck wiedergegeben werden (editionsphilologische Problemfälle, die zu Herausgeberentscheidungen zwangen, werden im Nachwort erläutert); eine Ausnahme bilden lediglich dienstliche Briefe des Verlagslektors Bobrowski, wenn aus diesen weiter nichts von Belang hervorgeht (Eingangsbestätigungen etc.). Doch das allein erklärt den Umfang nur zum Teil. Der Herausgeber hat die Briefe so ausführlich kommentiert, dass nicht selten trotz etwas kleinerer Drucktype der Kommentar mehr Platz einnimmt als der kommentierte Brief. Dadurch kommt es zu einer Verdopplung des Seitenumfangs (Haufe hatte noch nicht an eine Kommentierung gedacht). Besonderes Gewicht erhält der Kommentar zudem, weil er nicht in einen Anhang ausgegliedert ist, sondern die Erläuterungen zu den einzelnen Briefen als quasi gleichberechtigter Text dem jeweiligen Brief folgen; die Briefe sind so voneinander getrennt durch die eingeschobenen Kommentare. Diese sind immer nach demselben Muster aufgebaut: Einem kurzen, oft nur einzeiligen editorischen Grundkommentar (Angabe der Druckvorlage und ihres Standortes und gegebenenfalls knappe Beschreibung von Auffälligkeiten am Original wie zum Beispiel Lesespuren) folgt ein ausführlicher Stellenkommentar mit biografischen und sonstigen Sach-Erläuterungen.

In Briefausgaben sonst übliche, auf die Briefe bezogene Lesehilfen fehlen, was das Gewicht des Kommentars noch weiter erhöht: Weder werden die Briefe durchgezählt (der Leser erfährt also die exakte Zahl der Briefe nicht – wenn er nicht selbst zählt) noch gibt es ein Inhaltsverzeichnis, das dem Leser hälfe, den Briefkorpus zu überblicken. Das – sehr ausführliche – Register, geordnet nach Briefpartnern, nach Werken Bobrowskis und nach Personen, schlüsselt Briefe und Kommentare gleichermaßen auf, ohne zwischen diesen (etwa durch Schriftart des Registereintrags) zu unterscheiden.

Auch wenn diese Gesamtanlage den Eindruck erwecken kann, die philologische Kärrnerarbeit des Herausgebers erdrücke den Textbestand, ist der Kommentar, für sich allein betrachtet, doch gewichtig und lesenswert. Immer wieder werden Briefe von Bobrowskis Briefpartnern zitiert, biografische Details und Feinheiten des zeitgenössischen politischen und kulturellen Hintergrunds erhellen manch einen für den Leser sonst nicht recht durchschaubaren Zusammenhang. Besonders wertvoll sind die Mitteilungen aus den Stasi-Akten Bobrowskis, die zeigen, wie sich der Beobachtungsring um ihn immer enger schloss. Das MfS sah in Bobrowski zunehmend eine Bedrohung – nur seinem frühen Tod verdankt er, dass es zu keinem Zugriff mehr kam.

Doch nicht genug mit solchen tatsächlich unverzichtbaren Informationen. Meyer macht bei seiner Erklärung der Kommentierungsweise im Nachwort geltend, dass „auch das Ende der Teilung Deutschlands […] die Ansprüche an eine Erläuterung von Lebensdokumenten und Briefen aus den Jahren dieser Teilung von Grund auf geändert“ habe – als „Wessi“ musste er sich Kontexte der DDR erst selbst erarbeiten und las parallel zur Arbeit an der Ausgabe neben anderen zeitgenössischen Periodika systematisch den „Sonntag“, die DDR-Wochenzeitung des „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“. Aus dem dadurch gesammelten Wissen fließt so viel in die Kommentierung ein, dass die Briefausgabe, so Meyer selbst, zum „Epochenpanorama“ wird. An mancher Stelle ist nicht mehr durchschaubar, ob der Kommentar dem Verständnis der Briefe Bobrowskis dient oder umgekehrt die Briefe als Vorwand für die Ausbreitung von Wissen des Herausgebers genutzt werden.

Doch nun zu den Briefen! Aus ihnen ergeben sich Hinweise zu einer Vielzahl gewichtiger Themen wie Bobrowskis (briefliches) Verhalten während des Zweiten Weltkriegs, sein Verhältnis zur DDR, seine literarische Netzwerkarbeit und natürlich seine literarische Entwicklung. Im Folgenden kann nur etwas willkürlich auf einige besonders gewichtige Punkte hingewiesen werden.

Überraschend und unerwartet ereilt den Leser der Verdacht (mehr als ein Verdacht lässt sich nicht begründen) einer dem bisherigen Bobrowski-Bild widersprechenden, naiven Kriegsbegeisterung des jungen Bobrowski gleich zu Kriegsbeginn, die sich aufgrund eines im Kommentar wiedergegebenen Brief des Vaters vermuten lässt. Dieser antwortet am 15.9.1939 auf einen verlorenen Brief des Sohnes: „Laß es Dich nicht kränken, Großerchen, daß Du den Donner der Geschütze nur hörst und nicht ganz vorn bist […]; ich habe [im Ersten Weltkrieg] eigentlich immer ungern geschossen, wer weiß, wen man trifft. Pflicht ist Pflicht, aber ich war später froh, eine Pflicht zu haben, die mir das ersparte.“ So spricht ein Mitglied der Bekennenden Kirche zu seinem Sohn. Es gibt keinen Hinweis, dass Bobrowski es fortan anders gehalten hätte als der Vater. Und er hatte tatsächlich das Glück, während des Krieges als für das Verlegen von Telefonleitungen zuständiger Nachrichtentechniker durchweg hinter der Front eingesetzt zu sein. Was er, vor allem in den Jahren an beziehungsweise hinter der Ostfront, von nationalsozialistischen Verbrechen, Massenerschießungen und dem Genozid mit eigenen Augen mitbekommen hat, ist, so sehr die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld dort – „im Osten“ – sein späteres Werk prägen sollte, durch die Briefe nicht fassbar (es ist unwahrscheinlich, dass ihm dies alles völlig entgangen sein kann).

Immer wieder betont er, ohne in nationalsozialistische Phrasen oder gar antisemitische Ressentiments zu verfallen, seine soldatische Pflicht (auf die sich ja auch der Vater berufen hatte), etwa am 14.3.1940 von der noch ruhigen Westfront an die Mutter: „Und was soll ich Dir nun zu Deinem Ehrentage anders schicken als die Versicherung, das, was ich jetzt tun soll, ganz zu tun und ganz zu sein: ein Soldat.“ Ähnlich heißt es zunächst in einem Brief an die Schwester vom 12.9.1941 zu deren Geburtstag: „wir lernen es schon, das Persönliche hintanzusetzen, weil wir unverrückbar an das geschichtlich Bedeutsame und das Unvergeßliche unseres Einsatzes glauben.“ Doch in diesem Brief bricht später etwas durch, was auszudrücken er sich gleichwohl versagt:

Sehr gering freilich muß es erscheinen, was ich mit meinen dürren Worten Dir von hier aus zu sagen vermag, − weil zuweilen auch manche Härte des Gefühls und manche Unverläßlichkeit mich bezwungen haben mag vor der Unnennbarkeit der Kriegstage und mich wohl auch wieder einmal überwältigen wird. Ach, ich sag Dir die bittern Worte und wollte Dir doch einen Geburtstagsbrief schreiben. Es ist wohl des Bittern so groß geworden, daß das unbeschwerte Lachen vergangen ist.

Worüber in ihm freilich Verbitterung herrscht, die „Unnennbarkeit der Kriegstage“ bleibt rätselhaft. Etwas Aufklärung bietet vielleicht eine in seinem Nachlass befindliche alkäische Ode aus eben diesem Jahr 1941 (der Kommentar verweist nicht darauf), geschrieben im besetzten Teil Russlands:

Die Spur des Krieges aber ist eingebrannt
den Herzen, erst daneben hingeht der Schmerz
um das Zerstörte und Verlorne.
Unwiederbringlich ist alles Leben.

Da steh’n entsetzt die Menschen und schau’n empor.
Du sahst sie, und erregete dir nicht tief
durch ihre dürren Worte plötzlich
mächtig das Leiden der Welt die Stimme?

Und lautlos sprachst Gebete du hin und Fluch,
als wär’n gelöst die Sinne von dir, oh Haß,
Empörung oh schlug auf in Flammen –
doch keine Regung erwies dein Antlitz.

Äußere Anpassung bei innerem Widerspruch, auf diese Formel lässt sich Bobrowskis Verhalten wohl bringen – als seine „Kriegsverletzung“, seine besondere individuelle Schuld sollte es später Grundlage seines um Aufarbeitung bemühten literarischen Schaffens werden. Immer wieder spürbar wird – wie im Brief an die Schwester – ein eigenartiger Widerspruch zwischen Loyalitätsbekenntnissen und eigenen Bedürfnissen. So schreibt er am 24.7.1940 aus der Etappe an Mutter und Schwester: „weil hier der Krieg wieder einschlief, wünschte ich wohl in Deutschland zu sein, aber solang der Krieg währt, möcht ich schon dabei sein.“ Im selben Brief bittet er dann darum, „Hanna B.“, seine litauische Verlobte (die die Eltern noch gar nicht persönlich kennen) und spätere Ehefrau, während seines nächsten Urlaubs zu ihnen nach Hause zu lotsen. Das lässt mindestens auf einen Wertekonflikt zwischen Krieg und Verlobter schließen. Im Vorfeld des Angriffs auf die Sowjetunion schreibt er von „Unruhe […], die mich immer wieder einholt“. Trotz aller (womöglich den amtlichen Mitlesern geltender?) Betonung seiner soldatischen Pflicht fehlen nationalsozialistische Phrasen und antisemitische Ressentiments völlig. Einen einzigen Brief unterzeichnet er mit „Heil Hitler!“ – und der geht ausgerechnet an Ernst Jünger, den er um Informationen über einen in dessen Essay Dalmatinischer Aufenthalt erwähnten Aufsatz von Jakob Philipp Fallmerayer über den Berg Athos bittet. (Jünger hat nie geantwortet, aber dennoch ein Konvolut über Bobrowski angelegt, dem er 25 Jahre später Zeitungsberichte über den nun bekannt gewordenen Autor beilegte.) Im Kommentar heißt es dazu: „der Hitler-Gruß als ein unerwarteter Tribut an die Zeit. Glaubte B. (ganz zu Unrecht), der ‚konservative Nationalist‘, als der J. galt, erwarte dergleichen? War in B.s Einheit die fatale Formel der Zustellung eines Gefreiten-Briefes an den ranghohen Offizier förderlich, war sie gar befohlen? (Allgemein befohlen war sie in der Wehrmacht erst nach dem 20. Juli 1944.)“

Gerne schriebe ich, dass nicht nur keine antisemitischen, sondern überhaupt keine rassistischen Bemerkungen feststellbar sind – und sie fehlen auch fast völlig, aber eben nur fast. In einem Brief vom 7.4.1942 aus Königsberg an Franz Anhuth heißt es: „Du weißt bestimmt, wie nachhaltig einen die preußische Kasernenöde angreift, aber niederdrückender noch stimmt der Umgang mit der Ersatz-Bevölkerung, die zu allergrößten Teilen aus dem Protektorat stammt und in Bezug auf Erbanlagen, geistige und körperliche, übel dran ist. Schwangere müßten nach solchen Einblicken mit Monstrositäten niederkommen.“ Leider versagt der Kommentar an exakt dieser Stelle. Gemeint sein können eigentlich nur tschechische Zwangsarbeiter, die im ganzen Reich eingesetzt wurden.

Andererseits hält Bobrowski – ein Leben lang − an seiner litauischen Verlobten fest und schreibt 1944 über seinen Namen an Ina Seidel (die über eine Verwandtschaft mit Joseph Conrad spekuliert hatte): „Der Name ist alt, einer der beiden ersten bekannten masowischen Namen, die schon auftauchen als Konrad von Masowien den Deutschen Orden nach Preussen ruft. […] Den Verfasser nun der geliebten Shadow-line irgendwie näher zu wissen, macht mir nur Freude.“ Dieses Bekenntnis zu multikultureller, deutsch-slawischer Herkunft ist im Jahr 1944 nicht unbedingt selbstverständlich – und sollte Grundlage seines Nachkriegsschaffens werden.

Schon bereits vor Kriegsende suchte Bobrowski trotz seiner Leiden am Krieg eine literarische Karriere zu beginnen und Kontakt mit Schriftstellern aufzunehmen (auch der Brief an Jünger war wohl ein solcher Versuch); Gehör fand er zunächst bei Ina Seidel, die eine Publikation einiger seiner Landschaftsgedichte aus dem besetzten Russland im „Inneren Reich“ vermittelte. Aus dem Briefwechsel lässt sich eine Art Duell zwischen Seidel und Bobrowski um den NS-Barden Hans Baumann rekonstruieren, den Seidel Bobrowski als Mentor vermitteln wollte. Bobrowski reagierte zögerlich, Baumann sei „Oberleutnant in der Prop-Kompanie unserer Armee. Er könnte mich also wirklich einige Zeit von hier loseisen. Und wenn Sie sich für mich verwendeten, verspräche ich auch gern, ganz artig gegen den hohen und berühmten Herrn zu sein, wenn mich auch bei seiner Arbeit, die ich seit meinen Jungvolktagen [bei der Bekennenden Kirche!] verfolge, zuweilen eine gewisse Ungleichheit, gleichsam ein gelegentlicher Spannungsnachlaß wurmte.“ Er verspricht Seidel am 13.12.1943, sich an Baumann zu wenden, doch plötzlich ergeben sich interessantere Kontakte: „Kürzlich wurde ich (durch einige glückliche Zufälle) dem Betreuungsoffizier der Armee, dem Grafen Moltke, vorgestellt. Er will ein ganzes Heft der russischen Strophen als Sonderausgabe drucken lassen, im Januar wohl. […] Oberleutnant Baumann ist, wie er sagte, für zwei Monate im Einsatz. Eine Meldung bei ihm wäre im Augenblick zwecklos. Ich melde mich natürlich trotzdem, denn es pressiert sowieso ja nicht.“

Ein Kontakt zu Baumann wurde laut Brief vom 27.1.1944 schließlich doch hergestellt. „Er gefiel mir viel mehr, als ich gedacht hatte. Nur war seine Zeit so ausgefüllt, daß nicht viel daraus wurde.“ Solche Briefstellen laden ein zu dechiffrierender Lektüre und zu Deutungen wie der, dass der Bruder des Initiators des Kreisauer Kreises einen Widerstandswert in Bobrowskis Landschaftsgedichten erahnt haben könnte, während dieser sich gleichzeitig dagegen wehrte, einem NS-Propagandisten ausgeliefert zu werden – doch sind solche Spekulationen ebenso wohlfeil wie unbeweisbar. Sie zeigen nur das spannungsgeladene Gefüge, in dem Bobrowski sich in diesen Jahren bewegte.

Einfacher zu deuten sind die wenigen, kurzen Briefe aus der Kriegsgefangenschaft – da schreibt einer offensichtlich, was von ihm erwartet wird, zum Beispiel am 31.8.1946 an die Eltern: „Wir haben hier vor einiger Zeit von dem Zusammenschluß der großen sozialistischen Parteien gehört. Für die kommenden Wahlen wisst ihr nun, was ihr zu wählen habt.“ Sehr viel mehr enthalten diese Briefe nicht – sie fungieren als Lebenszeichen in der Form sozialistischer Propaganda. Oft sind sie durchgehend in Majuskeln geschrieben, wohl weil sie dadurch leichter lesbar waren für das sowjetische Überwachungspersonal. Nach seiner Rückkehr bekennt Bobrowski sich zunächst offensiv als Kommunist, ehe er eine Rückkehr der „alten metaphysischen Neigungen“ (17.1.1951 an Otto Baer) eingesteht.

Besonderes Interesse verdienen Bobrowskis Briefe als Verlagslektor, denn hier sieht man ihn, der immer noch und wieder um ein eigenes literarisches Profil kämpft, auf der „anderen“ Seite des Betriebs. Als Lektor des auf Kinder- und Jugendliteratur konzentrierten privaten Verlages Lucie Groszer fordert er am 11.6.1953 die Überarbeitung eines Textes aus dem thematischen Umfeld des europäischen Kolonialismus: „Vielleicht sollten Sie hier deutlich machen, daß die ehrlichen Bestrebungen der Entdecker und Forscher durch die politische Ausmünzung vonseiten des Imperialismus um ihren Sinn gebracht werden; daß die Entdecker lumpig abgespeist werden, während die kolonialen Mächte unerhörte Gewinne erzielen […]. Das alles müßte mehrfach im Manuskript berücksichtigt sein (im Nachwort noch einmal besonders!).“

In einem Absagebrief (nun bereits aus dem Union Verlag) an Wolfgang Hilbig heißt es am 21.10.64, dessen Gedichte verrieten großes Talent, seien aber zu subjektiv nur auf das eigene Ich gerichtet. „Sie stehen im Leben, im Beruf, also in der Gesellschaft. Warum wollen sie nicht selber die Isolation durchbrechen? […] zum Schluß sagen wir Ihnen gerne, daß wir eine Begabung in Ihnen vermuten. Es ist vorerst nur eine Vermutung, es liegt an Ihnen, sie zur Gewißheit werden zu lassen.“ Als Literaturfunktionär hätte Bobrowski wohl gut in das System der DDR gepasst.

Nicht jedoch als Autor. Die Briefe zeigen die Genese der „sarmatischen“ Welt seiner Lyrik – der die Funktionäre bald ähnliches vorwerfen sollten wie er Hilbig. Er arbeitet an seiner sarmatischen Identität, ein entfernt verwandter Familienforscher liefert ihm dazu in mehreren Briefen umfangreiches Material, am 9.10.1956 schreibt er an Hans Ricke: „Ich komme, wie Du weißt, aus einer Familie, in der Polnisches und Deutsches wunderlich gemischt ist. Ich wuchs auf in ständigem Umgang mit Litauern, Juden – einfachen Menschen und allerlei Landadel usw.“ Abermals sucht er den Kontakt zu anerkannten Schriftstellern, diesmal vor allem zu Peter Huchel, dem er dann tatsächlich seinen Durchbruch verdanken sollte – und zwar in beiden Teilen Deutschlands. Viele der Texte Bobrowskis erschienen erst im Westen, dort erntete er zunächst Aufmerksamkeit, sodass er trotz seiner Unkonventionalität vorübergehend von der DDR als ein Ausweisschild literarischer Qualität nach außen hin akzeptiert wurde (während im Inneren der Bitterfelder Weg propagiert und Peter Huchel in die Verbannung geschickt wurde). In diesen Jahren bewährte sich Bobrowskis Übung im Schreiben unter Beobachtung: Seine „dunkle“ Lyrik erklärte er unentwegt mit politischen Absichten, die in der DDR auf Zustimmung stoßen mussten, das in seine Lyrik eingesenkte Trauern um die verlorene Heimat im Osten war eingerahmt nicht nur durch Reflexion deutscher Schuld (in deren Verantwortung die DDR sich ja nicht sah) sondern auch durch mit dem internationalen Sozialismus innerhalb des Warschauer Paktes gut vereinbare Aufrufe zu Völkerversöhnung. Diese politische Rhetorik war keine Maske, sie war sein Ernst, verkürzte sein literarisches Schaffen aber zu Schlagworten, die seinem Werk gegenüber hoffnungslos unterkomplex blieben. Immerhin konnte er damit unter den Bedingungen der DDR zu Zeiten des Bitterfelder Weges literarisch mit hermetischer Lyrik und überhaupt mit einem Werk reüssieren, das mit keiner offiziell verkündeten Ästhetik vereinbar war.

Die große Wunde dieses Lebens unter Beobachtung war der Opportunismus, die Anpassung nach außen, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Prominentestes Opfer dieser Haltung wurde ausgerechnet Peter Huchel, dem Bobrowski seine Karriere verdankte, zu dem er aber, nachdem Huchel in Ungnade gefallen war, zunächst nicht stehen konnte − bis hin zur Kontaktvermeidung bei einer von beiden besuchten Veranstaltung. Huchel reagierte mit einem wütenden Brief, auf den Bobrowski mit zerknirschter Entschuldigung antwortete (Brief vom 20.2.1963). Dies ist aus dem bereits veröffentlichten Briefwechsel zwischen Huchel und Bobrowski schon bekannt. Die Briefausgabe zeigt aber nun, dass Bobrowski fortan sehr wohl begann, sich doch nach und nach auch gegenüber DDR-Offiziellen auf die Hinterbeine zu stellen und zu versuchen, seinen eingefleischten Opportunismus abzustreifen. Ein deutliches Zeugnis dafür ist ein Schreiben, in dem er am 14.4.1965 dem Deutschen Schriftsteller-Verband der DDR als neues Mitglied den damals noch nicht so bekannten Wolf Biermann empfiehlt. „Auf sein bedeutendes Talent brauche ich nicht hinzuweisen, aber wohl darauf, daß ein Temperament von seinem Schlag dem Leben im Verband nützlich und nötig ist“. Daneben empfahl er, so der Kommentar, Biermann für die nächste Einladungsrunde zur Gruppe 47. Es ist nicht abzusehen, was aus Bobrowski geworden wäre, wäre er nicht bald darauf verstorben. Vielleicht hätte er auch als Person dem ihn überwachendem Staat gegenüber doch noch unverkennbare Statur gewonnen? Doch so oder so bleibt ein literarisches Werk von nun wirklich unübersehbarer Prägnanz und Eigentümlichkeit.

Die Faszinationskraft dieses Werkes auf die Zeitgenossen erklärt sich sicher auch daraus, dass da einer war, für den all die Vorgaben des realistischen Sozialismus und des Bitterfelder Weges einfach nicht zu gelten schienen, ein dunkel hermetischer Moderner von suggestiver Sprachkraft, den die DDR – nach außen hin – akzeptierte, wenn auch nur zähneknirschend und vorübergehend. Dies alles und sehr viel mehr (etwa das komplizierte Verhältnis zu seinem lyrischen Gegenpart Paul Celan) erlaubt die Briefausgabe zu studieren – es wäre anmaßend zu behaupten, alle Facetten wären nach rascher Erstlektüre bereits erfasst. Wer immer sich für Bobrowski oder auch nur die Literatur zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der 1960er-Jahre interessiert, kommt an einer genauen Lektüre dieser Ausgabe nicht vorbei.

Titelbild

Johannes Bobrowski: Briefe. 1937-1958.
Hrsg. und kommentiert von Jochen Meyer, Mainzer Reihe Neue Folge Bd. 16. Hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
2672 Seiten, 199,00 EUR.
ISBN-13: 9783835305779

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