Macht, Staat und Melancholie

John Williams’ grandioser Roman „Augustus“ haucht der Antike Leben ein

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oft liegt Windstille über dem Meer oder die messapische Küste zeichnet sich ab, wenn die Figuren des Romans sich in Tagebuchaufzeichnungen oder Briefen zu Wort melden. Aber selbst die fingierten, ebenfalls nicht von einer Originalquelle entnommenen Passagen aus Gedichten, Senatsbeschlüssen oder Gesetzestexten verbreiten auf merkwürdige Weise eine Atmosphäre der Nachdenklichkeit und Melancholie. Alle Figuren, die in Williams’ letztem, nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegendem Roman vorkommen, sind historisch. Und über die meisten dieser Personen wissen wir recht viel. Hier lernt sie der Leser aber so kennen, wie er sie nicht in den Geschichtsbüchern oder Nachschlagewerken findet.

Im Jahr 13 v.Chr. lässt Williams Gaius Clinius Maecenas an den römischen Geschichtsschreiber Livius einen Brief verfassen, in dem die Anlage und der Anspruch des Romans in nuce zusammengefasst sind: „Ich kenne die Wahrheit nicht, nur meine Erinnerungen. […] Doch gibt es vieles, was nicht in Büchern festgehalten werden kann, ein Verlust, der mir zunehmend zu schaffen macht.“ Das, was nicht in den Geschichtsbüchern steht und was Maecenas gegenüber Livius beklagt, sind die Texte, die Williams erfindet und mit denen er seinen Roman füllt. Wenn Maecenas an Livius, Horaz an seinen Vater, Maecenas oder an Vergil, Philipp von Athen an Seneca schreibt oder wenn wir die Tagebuchnotizen des späteren Schwiegersohnes von Augustus, Marcus Agrippa, lesen, dann finden wir Personen, die von Sehnsucht erfüllt sind und von Trauer übermannt werden, weil ihre Jugend vergangen ist und ihre Zeit abzulaufen droht oder bereits abgelaufen ist.

Selbst wenn Julius Cäsar an Atia, Brutus an Cicero, Gnaeus Calpurnius Piso an Tiberius Claudius Nero oder Nikolaos von Damaskus an Strabo von Amasia schreibt, scheint es weniger um die großen Schlachten, die mächtige Politik und die geheimen Intrigen zu gehen, sondern um das, was John Williams in den Mittelpunkt aller seiner Romane gestellt hat: Die Frage nach dem, was der Mensch ist, welches Bild er von sich hat, wie er auf andere wirkt und was am Ende von all dem der Wahrheit entsprochen hat – wenn es diese überhaupt gibt. Seit seiner Wiederentdeckung in Deutschland durch den 2013 in neuer Übersetzung erschienenen, fulminanten Roman Stoner sind das die Themen, die mit Williams’ Romanen verbunden werden – und wie sie auch in diesem zeitlich am weitesten von Williams’ und unserer Gegenwart entfernten Roman aufgegriffen werden.

Wenn die historischen Zusammenhänge und Ereignisse auch nahezu fehlerlos recherchiert und zusammengestellt sind und der Text eine Auswahl fingierter und erfundener Dokumente immerhin aus der Zeit von 45 v.Chr. bis 55 n.Chr. präsentiert, so könnte man dem Buch doch problemlos vorwerfen, es verpacke den Gefühlshaushalt des modernen Menschen im 20. Jahrhundert mit seinen Ängsten, seiner Sehnsucht, seinem Schmerz und Glücksempfinden in römische Gewänder. Zudem ließen sich auch zahlreiche stilistische und lexikalische Ungereimtheiten finden wie die Vorstellung einer Nation, wenn eigentlich das Imperium Romanum gemeint ist, die man gut und gerne ins Feld führen könnte, um den Roman abzuwerten. Die an manchen Stellen doch um sich greifende Steifheit und Kostümhaftigkeit der Sprache, die dem Leser Peter Ustinov und Deborah Kerr aus Mervyn LeRoys Quo Vadis-Verfilmung vor Augen ruft, ist für negative Kritik ebenso eine Steilvorlage wie die Tatsache, dass man historisch nichts Neues erfährt. Darum geht es aber auch gar nicht. Williams’ Roman ist eine großartige, künstlerische Fiktion. Der Text projiziert ein Bild der Antike und projiziert Gegenwart auf die Antike, er ist aber keine historische Darstellung und will dies auch nicht sein, vor allem und am allerwenigsten ist er eine Biografie der Lebensumstände und der Zeit von Kaiser Augustus. Wer daran interessiert ist, sollte die großartige Biografie Augustus (1998) des Althistorikers Jochen Bleicken lesen. Natürlich war Augustus ein Machtmensch und selbstverständlich müssen die Leser seiner Selbstapologie am Ende des Romans keinen Glauben schenken.

Williams’ Augustus-Roman steht in der Tradition berühmter Roman-Biografien römischer Kaiser wie Robert von Ranke-Graves Ich, Claudius, Kaiser und Gott (1934) und Marguerite Yourcenars Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian (1951). Im Unterschied zu diesen gewichtigen Vorbildern baut Williams seinen Roman aber völlig anders auf. Er erzählt nicht, er lässt erzählen –und zwar die Figuren selbst in den zusammengestellten, fingierten Dokumenten. Er baut die Antike nicht so sehr nach den Quellen und unserem (vermeintlich) gesicherten Wissen nach, sondern lässt sie entstehen aus der persönlichen Perspektive ihrer Protagonisten. Als Mittel zum Spannungsaufbau greift der Autor auf eine eigentlich dramatische Technik zurück: Bis zum dritten Buch und Seite 387 kommt Augustus selbst gar nicht zu Wort, sondern wird ausschließlich in absentia charakterisiert. Die Meinungen und Eindrücke, die sowohl den jungen, noch unerfahrenen Octavianus als auch den älteren, selbst- und machtbewussten Kaiser Augustus einfangen, lassen ein durchaus heterogenes Bild eines Menschen entstehen. Mal ist er der Gütige und Charismatiker, dann wieder der brutale Schlachtensoldat und moralisch Unerbittliche, der seine Tochter aus Staatsräson und seinen Lieblingsdichter Ovid aufgrund von ihm nur zugeflüsterten sittlichen Verfehlungen in die Verbannung schickt. Umgeben ist dieser Mann von Bittstellern, Schmeichlern, hasserfüllten Feinden und wohlmeinenden Freunden und Beratern. Vor allem aber ist Augustus allein. Wir erfahren, wie ein Kaiser trauert, wie er leidet, wie er vergisst und wie er liebt.

Das dritte Buch ist ein vom 9. bis 11. August 14 n.Chr., also nur wenige Tage vor seinem Tod am 19. August, abgefasster Brief des Kaisers an seinen ersten Biografen Nikolaos von Damaskus, dessen Lebensbeschreibung des Kaisers aber nur bruchstückhaft überliefert ist. In diesem Brief legt Augustus Rechenschaft über sein Leben und sein Verhältnis zur Macht ab. Die Selbsteinschätzung, die er gegenüber dem Briefpartner zur Sprache bringt, mag man über weite Strecken wiederum als Modernisierung eines antiken Menschen kritisieren, eine Apologie auch gegenüber den in den ersten beiden Büchern durchscheinenden negativen Stimmen zu Augustus ist sie aber nicht. Zum einen muss man als Leser dem Kaiser seiner vom nahenden Tod gezeichneten Lebensbilanz nicht alles glauben. Zum anderen liegt der Kern von Williams’ Roman-Konzeption gerade in der Darstellung von überzeitlichen menschlichen Grundfragen, die hier im Gewand des berühmtesten antiken Kaisers erscheinen: „Ich bin ein Mensch und so dumm und schwach wie alle Menschen; falls ich gegenüber meinen Mitmenschen einen Vorteil hatte, dann den, dass ich eben genau dies über mich gewusst habe und daher auch die Schwächen anderer kannte und folglich nie damit rechnete, bei ihnen größere Stärke und Weisheit als bei mir selbst zu finden. Dieses Wissen war eine der Quellen meiner Macht.“

Letztlich ist die Frage, die sich Augustus stellt, nämlich in welchem Verhältnis Wahrheit und Lüge, Anspruch und Wirklichkeit zu beurteilen sind, bei dem, was man sich als sein Leben zurechtgelegt hat, nur bedingt an seine Person als Kaiser gebunden. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich nur besonders gut an einer Figur zeigen, dessen historisches Bild gerade aufgrund der guten Quellenlage der augusteischen Zeit gefestigt und allgemein bekannt scheint. Es gibt mit Augustus’ Tochter Julia aber in diesem Roman auch eine heimliche Hauptfigur, die ab dem zweiten Buch mit verhältnismäßig langen und zahlreichen Auszügen aus ihrem Tagebuch zu Wort kommt. Von ihrem eigenen Vater wurde sie auf eine der Pontinischen Inseln im Tyrrhenischen Meer, Pandateria, verbannt, weil sie gegen die augusteische Ehegesetzgebung verstoßen, vor allem aber weil sie Affären mit Mitgliedern einer Verschwörung gegen Augustus hatte und nur so von ihrem Vater vor der sicheren Verurteilung zum Tode bewahrt werden konnte. Ihre Reflexionen über körperliche Lust und Leidenschaft, über Liebe, Macht und Lebenssinn, über die Sehnsucht nach der Heimat und vertrauter Gesellschaft zeichnen vermutlich nicht das authentische Profil einer antiken Kaisertochter. Doch wer immer Ovids Tristia gelesen und die tiefe Melancholie gespürt hat, die aus diesen Texten spricht und sie nicht nur als literarisch-rhetorische Kunstfertigkeit begreift, wird ahnen, dass sich auch in den schwermütigen Gedanken dieser Julia ein sowohl historisch richtiger als auch überzeitlich wahrer Kern verbirgt.

Titelbild

John Williams: Augustus. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englischen von Bernhard Robben.
dtv Verlag, München 2016.
480 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783423280891

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch