Eine Geschichtslektion, die alle alternativen Versionen dekonstruiert

Der Roman „Die große Heimkehr“ von Anna Kim

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literaturkritik ist doch hin und wieder keinen Deut besser als ihr Ruf. Der jüngste Roman von Anna Kim hat unmittelbar nach seinem Erscheinen eine riesige Welle von Besprechungen ausgelöst. In Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunk- und Fernseh-Stationen war man sich weithin einig: Die große Heimkehr sei ein sorgfältig recherchiertes, großartiges Buch, das die spannungsreiche Geschichte der koreanischen Halbinsel seit 1945 in eindrucksvollen Bögen aufrolle und die Sicht der Sieger endlich konfrontiere mit den Leiden der Verlierer, die in Nordkorea wie in Südkorea kaum je anderes erlebt hätten als Gewalt, Unterdrückung, Willkürherrschaft. Kurz: Kim erteile ihrem Publikum eine Geschichtslektion par excellence.

Das Analyse-Instrumentarium, das gewöhnlich genutzt wird, um derartige Werturteile mit einer nachvollziehbaren Begründung abzusichern, ist in diesem Fall, so scheint es, weitgehend überflüssig. Denn Anna Kim (geboren 1977 in Daejeon/Chungnam, seit 1983 lebt sie in Wien) genießt seit ihrem ersten Roman Die Bilderspur (2004) eine Reputation, die in der österreichischen, inzwischen auch in der gesamten deutschsprachigen Literaturlandschaft ihresgleichen sucht. Und nach ersten recht renommierten Auszeichnungen – darunter das Elias-Canetti-Stipendium und das Robert-Musil-Stipendium, hat sie für ihren zweiten Roman, Die gefrorene Zeit (2008), eine vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege angesiedelte Geschichte, schließlich 2012 den Literaturpreis der Europäischen Union erhalten.

Angesichts solcher Daten ist kritische Lektüre, close reading schon gar, nicht länger angesagt; und so bescheinigt die Kritik diesem Roman, der das eine Mal als Zeitroman, das andere Mal als Soziogramm gelesen wird, auf Anhieb gründliche Recherche-Arbeit, ohne – das versteht sich – selbst Einblick nehmen zu können in jene Archive und Bibliotheken, die Anna Kim im Hinblick auf dieses Buch aufgesucht und konsultiert hat.  Kritische Anmerkungen zum Handlungsgefüge und zur Figurenkonstellation des Romans finden sich interessanterweise eher in dem einen oder anderen Literaturblog als in den namhaften Feuilletons.

Auch Die große Heimkehr nimmt die Schlüsselbegriffe wieder auf, die Anna Kim seit ihrem ersten Roman immer wieder neu und oft in faszinierender Manier veranschaulicht: Verlust, Sehnsucht, Suche, Erinnerung. Hauptschauplatz ist dieses Mal Korea. Hanna, eine junge Frau, die in Korea zur Welt gekommen, aber schon als Kind mit ihren deutschen Adoptiveltern nach Europa übersiedelt ist, kehrt zu einem Besuch zurück in ihre Heimat. In Seoul begegnet sie auf der Suche nach ihren Wurzeln einem alten Mann, Yunho Kang (seine Bekannten sagen, er sei „der Archivar“), und von da an trifft sie ihn immer wieder, um zu hören, was er über sein ziemlich aufregendes Leben und weit darüber hinaus über die Geschichte Koreas zu erzählen hat.

Im Mittelpunkt seiner Erzählung stehen die spektakulärsten Abenteuer, die der inzwischen 78-Jährige erlebt hat, in Seoul und Osaka in den Jahren 1959 und 1960. Die Hauptfiguren: Yunho, Johnny und Eve Moon (die sich auch Yunmee Moon und Mizuki Takahashi nennt); eine Ménage à trois als Kernstück eines regelrechten Thrillers inmitten der jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Nord- und Süd-Korea. Yunho und Johnny haben schon als Kinder die unfassbarsten Gräueltaten miterlebt, die im Verlauf dieser Auseinandersetzungen von beiden Seiten betrieben und gefördert worden sind (ohne dass die  von General Douglas MacArthur befehligten UN-Truppen jemals entscheidend eingegriffen hätten). Im letzten Stadium der Amtszeit des Präsidenten Rhee Syng-man, der in Seoul gefürchtet ist wie die Pest, flüchten die drei Freunde (wie viele Koreaner vor und mit ihnen) nach Osaka; längst hat Eve – in vielem den beiden Männern überlegen, ist sie doch schon einmal, nämlich aus Pjöngjang nach Seoul geflüchtet und überdies bestens vertraut mit allem, was gemeinhin als illegal gebrandmarkt wird – in allen Belangen das Sagen übernommen.

In Japan werden die Flüchtlinge zwar aufgenommen, beliebt aber sind sie nicht. Im Gegenteil, die Rückkehr aller Koreaner in ihre Heimat wird von der japanischen Regierung als „humanitäre Angelegenheit“ betrachtet und dementsprechend forciert; und Nordkorea verspricht allen Koreanern, sofern sie sich entscheiden für die „große Heimkehr“, Wohnung, Ausbildung und Arbeit. Allerorten Propaganda, Arrangements, Illusionen. Zerrissene Familien in Wahrheit. Auch die Ménage à trois kommt an ihr Ende. Und Hanna verabschiedet sich von Yunho.

Sie sei immer schon neugierig gewesen, ganz begierig zu erfahren, „was Welt bedeutet“, antwortet Anna Kim in der Auftaktveranstaltung zu ihrer Poetik-Vorlesung an der Universität Innsbruck am 28. März 2017 auf eine diesbezügliche Frage, und sie habe deshalb nie darauf verzichtet, im Vorfeld ihrer literarischen Arbeiten umsichtig zu recherchieren, um neue und ihr bislang noch fremde Gedankenpositionen kennenzulernen; in diesem Buch ganz besonders, auch um die Mechanismen der Geschichtsschreibung in ihrem Heimatland zu erforschen und zu dekonstruieren. Dem wäre nichts entgegenzuhalten, wenn im Roman neben Yunhos Geschichte, die Hanna (bemerkenswert: wortwörtlich) nacherzählt, noch eine Serie alternativer Versionen zur Sprache käme. Doch dem ist nicht so, und wenn auch Yunho, der offenbar souverän Bescheid weiß über die Geschichte Koreas und Japans im Rahmen der gesamten Weltgeschichte, gelegentlich selbst durchblicken lässt, er sei ein unzuverlässiger Erzähler, ist nicht zu übersehen, dass Hanna mehr und mehr in den Bann seiner Erzählungen gerät und sich an seine Sicht der Dinge anschließt – wie an ihn selbst. So aber wird das angepeilte Hinterfragen der Geschichtslektion im Keim erstickt.

Titelbild

Anna Kim: Die große Heimkehr. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
558 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425459

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