Viermal Leben

Paul Austers Roman „4321“ gibt Antworten auf alte Fragen

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

4321, der neue Roman des großen New Yorker Schriftstellers Paul Auster, hat nicht einen, sondern gleich vier Helden: Sie alle tragen den Namen Archibald Ferguson, genannt Archie, kommen in den 1940er-Jahren in Newark zur Welt und teilen den familiären Background. Doch damit enden die biographischen Überschneidungen zwischen den Archies auch schon und es entwickeln sich vier unterschiedliche Leben, erzählt in parallel verlaufenden, aber klar voneinander geschiedenen Geschichten, aus denen ein monumentaler Roman geworden ist.

Wollte man die Werke Paul Austers möglichst kurz beschreiben, so wären der Einfluss des Zufalls und die Frage nach den unzähligen Möglichkeiten und Wendungen, die in einem Leben auftauchen können, besonders hervorzuheben. Außergewöhnliches geschieht Austers Figuren nämlich nicht, weil sie per se auserwählt oder gar vom Schicksal begünstigt wären, sondern meist aufgrund einer ganz eigenen Mixtur aus Fleiß, der Bereitschaft auf materielle Annehmlichkeiten – zumindest vorübergehend – zu verzichten und der sie alle verbindenden Liebe zu Literatur und Film. Auch alle vier Archies hegen eine besondere Leidenschaft für unterschiedliche Bereiche der Kunst und des Schreibens, doch was sich daraus entwickelt, ist ebenso durch günstige Zufälle sowie unvorhersehbare Schicksalsschläge beeinflusst wie durch die Kraft des eigenen Willens. Neben den Prägungen der frühen Kindheit ist es insbesondere die Zeit des Erwachsenwerdens, die dafür sorgt, dass die Archies sich zu unverwechselbaren Persönlichkeiten entwickeln, denen man in 4321 so lange folgen kann, bis die Weichen für das weitere Leben vorerst festgestellt scheinen.

Berühmt geworden ist Paul Auster in den 1980er-Jahren mit der „New York Trilogie“ und daraus vor allem durch die short story Stadt aus Glas, die bereits einige Jahre zuvor eigenständig erschienen war. Die dort erzählte Geschichte nimmt ihren Lauf, als in der Wohnung des Krimiautors Quinn des Nachts das Telefon klingelt und eine unbekannte Stimme einen Mann namens Paul Auster zu sprechen wünscht. Das doppelbödige Verwirrspiel aus Autoridentität und Alter Ego gehört schon seit seinen literarischen Anfängen zu Austers Œuvre und rückblickend scheint es, als ob 4321 die große, lang und ausufernd fabulierende Antwort auf die vor mehr als drei Jahrzehnten gestellten Fragen sein könnte, die den schlaflosen Quinn während seiner Tätigkeit als Detektiv durch die Straßen New Yorks führen: Wer ist eigentlich dieser Paul Auster, wer ist Quinn und wie unterscheiden sie sich überhaupt voneinander? Ist der eine nur die Phantasie des anderen und wer werden sie, wenn sie schreiben? Austers Romane fragen danach, was eine Person ausmacht, welche Einflussfaktoren ihre Geschicke lenken, und sie loten aus, was geschehen könnte, wenn das Unerwartete eintritt und plötzlich alles anders ist. Die Varianten der Lebensgeschichten von Archie Ferguson geben darauf verschiedene Antworten, doch Verwandte im Geiste sind die vier Doppelgänger allemal.

Paul Auster, der im nächsten Jahr für die Wahl zum Präsidenten der amerikanischen PEN-Gesellschaft kandidieren will, um seine Stimme der Donald Trumps entgegenzusetzen, scheint den Glauben an die besonderen Fähigkeiten der Menschen noch nicht verloren zu haben. Damit verbunden scheint auch die Hoffnung, dass sich etwas bewirken lässt, wenn man sich engagiert einsetzt – egal ob es sich dabei um ein rein persönliches Ziel oder ein öffentliches Anliegen handelt.

Keiner der vier Archies führt ein Inseldasein und so sind ihre Geschichten eng verbunden mit der Geschichte der USA, insbesondere in den unruhigen politischen Zeiten der 1960er- und 70er-Jahre. Die amerikanische Ostküste ist Schauplatz studentischer Proteste, doch es geht darüber hinaus um Rassenunruhen im ganzen Land sowie die weltpolitischen Großereignisse und Katastrophen wie den Vietnamkrieg, die die Figuren nachhaltig prägen. Aus 4321 wird durch diese historische Detailtreue auch ein politisches Buch, doch das sind Austers Romane spätestens seit Mann im Dunkel aus dem Jahre 2008, in dem die Konsequenzen der amerikanischen Außenpolitik und der Irakeinsatz eine zentrale Rolle spielen, sowieso. Nach 9/11 hatte sich Paul Auster mit öffentlichen Statements eher zurückgehalten und nicht – wie etwa sein Kollege Don DeLillo mit Falling Man – versucht, in Form eines Romans auf den Terror zu antworten, auch wenn das 2005 erschienene Buch Brooklyn Revue geradewegs auf die Katastrophe zusteuert.

Dass Paul Austers Schreiben untrennbar mit der Geschichte seines Landes verbunden ist, zeigt 4321 in vielen Facetten und nimmt dabei zugleich allen eindeutigen biographischen Deutungsversuchen den Wind aus den Segeln, denn auch dieser Roman ist ein Teil der austerschen Textwelt. Selbstverständlich gibt es in jedem Leben von Archie Ferguson Parallelen zur Biographie Paul Austers, die dieser erst kürzlich in Winter Journal und Bericht aus dem Inneren als autobiographische Selbstzeugnisse vor dem Leser ausgebreitet hat. Doch die Verschränkungen von Leben und Werk sind hier vielleicht weniger eindeutig, als es zunächst scheint. Oder anders ausgedrückt: Wie sollte man einem Erzähler trauen, der irgendwie immer auch über sich selbst zu schreiben scheint, um sich letztlich dann doch stets wieder zu entziehen und hinter unkalkulierbaren Wendungen der Handlungen in seinen Texten zu verbergen? Sind Austers biographische Erinnerungen dann nicht genauso Literatur wie seine Literatur möglicherweise auch biographisch ist? Aber welcher Archie Ferguson wäre er dann? Die Antwort kann nur lauten: Keiner und alle zugleich.

Titelbild

Paul Auster: 4 3 2 1. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann, Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
1264 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783498000974

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