Ästhetik der Illusion

Gertrud Koch analysiert und verteidigt die Wiederkehr des nur Scheinhaften in den Künsten

Von Jörg SpäterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Später

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist ja nur ein Film“, sagen Eltern zu ihren Kindern, um sie zu beruhigen. „Es ist wie im Film“, sagt man, um auszudrücken, dass etwas wunderschön ist. In beiden Fällen dient der Verweis auf den Film der Botschaft: „Das ist weder wirklich noch realistisch.“ Der Film, zumindest der Spiel-Film, ist, folgt man dem Sprachgebrauch, irgendwie mit dem Unwirklichen verbunden. In seinen Anfangsjahren hat Eisenstein ihn eine „Traumfabrik“ genannt, Kracauer sprach von den Tagträumen der Gesellschaft. Und tatsächlich ist der Film eine „Als-ob-Wirklichkeit“, eine Schein-Realität und basiert somit auf llusionen.

Dass nicht nur der Film, sondern Kunst überhaupt Illusionen produziert, wurde oft als problematisch empfunden. „Wir leben in einer Situation, wo etwas ästhetisch glänzend Geformtes falsch sein kann, das Schöne darf uns nicht mehr als wahr erscheinen, da das Wahre nicht als schön empfunden wird“, proklamierte Bertolt Brecht Ende der 1920er Jahre. Seitdem hat die Ideologiekritik Einzug in die nicht mehr bloß schönen Künste gefeiert. Gegen die bloß äußerliche Soziologisierung hat dann allerdings Theodor W. Adorno Einspruch erhoben und anstelle von Brechts Frage des Cui bono? die immanente, dialektische Kritik gesetzt. Gertrud Koch, Professorin für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin, ist noch in die Frankfurter Schule gegangen – in der Filmszene lief das Trio Koch, Miriam Hansen, Heide Schlüpmann in deren jungen Jahren als „die Girls der Frankfurter Schule“. In ihrem neuen Buch zur Ästhetik des Films verkündet die inzwischen zur grande dame der Filmtheorie gereiften Koch die Wiederkehr der Illusion, und zwar nicht nur im Film, sondern auch in anderen Künsten. Und sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Illusion für legitim hält.

„Warum Illusion jetzt?“, fragt Koch. Sie hat deren Wiederkehr an unerwarteten Plätzen entdeckt, unter anderem im Theater und bei den bildenden Künsten. Sie deutet das als Entgrenzung des Films, der sich sozusagen bei den anderen Künsten eingeschmuggelt hat. Mittels des Films entdeckten diese Künste nun, dass im Zentrum jeder Ästhetik ein Moment der Illusionsbildung stecke. Und im Geiste Adornos hält Koch fest: „Ästhetische Illusion täuscht nicht eine Welt vor, die es nicht gibt, sondern verweist negativ auf das ihr Vorgängige der empirischen, der körperlichen Welt.“ „Illudierung“ – so der Begriff für die Illusionsbildung in Filmwahrnehmung und -herstellung – ist demnach kein Massenbetrug, jedenfalls nicht zwangsläufig. Zwar werde auf der Leinwand ein Schein erzeugt und der Film beruhe auf einer Täuschung, aber die Illudierung des Betrachters sei ein prozessualer Modus der filmischen Erfahrung. Wer weiß, dass er oder sie einen Film sieht und das Wie des Sehens reflektiert, erhält, so Koch, einen komplexeren Begriff von Erfahrung und Illusion.

Die ästhetische Illusion ist beispielsweise etwas anderes als die psychologische Illusion. Es entsteht nicht unbedingt ein Problem, wenn der Weltbezug eines Filmes schief oder verzerrt ist. Man darf sich das wohl ähnlich vorstellen wie das Kafkaeske in der Literatur. Der Film steht in keinem Abbildungsverhältnis zur Welt, sondern materialisiert eine projizierte eigene Welt, die gleichwohl in einer mimetischen Beziehung zur vorfilmischen Welt steht. Die ästhetische Illusion im Film steht nicht in Widerspruch zu einer realistischen Haltung zur Welt. Walter Benjamin hat dieses filmästhetische Verfahren eine „unähnliche Ähnlichkeit“ genannt.

Ohne Illusion wäre der Film also arm, er könnte keinen eigenen filmischen Erfahrungsraum schaffen. Letztendlich geht es um komplexe Welterfahrung und ihre Reflexion, also um (nicht-materiellen) Reichtum und Armut für unser Leben. Die Ästhetik der Illusion, so zeigt Koch nicht nur anhand des Films, sondern auch in Videoinstallationen und anhand neuer Arrangements auf der Theaterbühne, rückt ins Zentrum einer Poetik, die auf die Erfahrung der Dynamisierung von Raum und Zeithorizonten in einer globalisierten und digitalisierten Welt Bezug nimmt.

Um allerdings einer anderen Illusion vorzubeugen: Kochs Buch ähnelt eher einer Vorlesung als einem Spielfilm. Vieles ist voraussetzungsvoll, manches wie der Exkurs über den religiösen Modus im Ästhetischen schweift zu sehr ab. Sogar die ägyptischen Mumien „als vorfilmische Formation einer Verkörperung der Toten“ werden von Koch bedacht. Insgesamt jedoch glänzt Kochs Wiederkehr der Illusion nicht nur mit Scharfsichtigkeit, klarer Komposition und  argumentativer Tiefe. Vor allem ist Kochs Illusionsästhetik selbst erfahrungsgesättigt. Ihre eigene intellektuelle Beschäftigung mit der Welt und der Kunst begann vor einem halben Jahrhundert in Frankfurt am Main in der alten Bundesrepublik, von der sie am Rande berichtet: „Im Westend beginnt Alexander Kluge, Filme zu drehen, Peter Handke erlebt 1966 seine Publikumsbeschimpfung in der Regie von Claus Peymann am Theater am Turm, das Rainer Werner Fassbinder als Ko-Intendant einige Jahre später für eine Spielzeit übernimmt.“ Kurz darauf begann Koch ihr Studium und damit wohl auch die lange Vorgeschichte dieses Buches.

Es war die Hochzeit der Kritischen Theorie. Wenn die traditionelle Ideologiekritik die Illusion der Ästhetik herausgestellt hatte, so würdigt Koch nun in diesem Frankfurter Geist die Ästhetik der Illusion. Von Adornos ästhetischer Theorie, mit der Koch ihr Buch beginnt und beendet, hat sie gelernt, dass in der Kunst die Illusion vorausgesetzt und transzendiert wird. Die Wahrheit der Kunst geht durch die Illusion hindurch. Diese Frankfurter Erfahrung leitet die Professorin für Filmwissenschaften an der FU Berlin nach wie vor. Sie ist dabei immer aufmerksam für neue Entwicklungen. Denn sie weiß: So wie die Wahrheit der Kunst durch die Illusion hindurch muss, so auch die Theorie durch das reale Leben.

 

Titelbild

Gertrud Koch: Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
297 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297599

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