Zu viele Fakten – zu wenig Narration

Horst Dieter Schlosser verliert in „Die Macht der Worte“ vor lauter Daten zur deutschen Geschichte sein Ziel aus den Augen, über die Wirkung von Leitbildern im 19. Jahrhundert zu schreiben

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Bedeutung Begriffe als Leitbilder in einer Diskussion entfalten können, erfahren wir täglich in der medialen Darbietung politischer Ereignisse und den dazugehörigen Meinungen. Im sogenannten postfaktischen Zeitalter geben nicht nur dezidierte Populisten der einseitigen Verbreitung der eigenen Emotion und Ansicht sowie der Verwendung sog. alternativer bzw. gefühlter Fakten den Vorzug vor einer empirisch fundierten, diskursiv und kritisch geführten Auseinandersetzung. Angesichts der Bedrohung, die für die offene Gesellschaft von diesem Kommunikationsverhalten und Gebaren ausgeht, ist es in der Gegenwart dringend geboten, die demokratischen Werte und wissenschaftlichen Standards in der politischen Kontroverse zu verteidigen und hochzuhalten.

Ein Blick in die Vergangenheit kann dabei helfen, die gegenwärtigen Mechanismen und Verhaltensweisen zu verstehen, wenn man erfährt, wie schon früher Worte ihre Macht entfalten konnten und in politischen Kontexten verwendet wurden. Eine Darstellung von Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert, wie sie Horst Dieter Schlosser im Untertitel seines Werkes Die Macht der Worte ankündigt, verspricht daher, für die Gegenwart wichtige Kenntnisse und Impulse liefern zu können.

Nach einer kurzen Einleitung über die Macht sprachlicher Symbole, in der Schlosser auf die entwicklungsleitende Perspektive hinweist, dass das „Wort“ der „Tat“ vorausgeht, gibt er einen knappen inhaltlichen Überblick zu zentralen deutschen Leitbildern. Zu ihnen zählt er „Freiheit“ und „Einheit“, die er als die deutschen „Urleitbilder“ bezeichnet, da mit ihnen weitere Leitbilder wie „Volk“, „Nation“, „Vaterland“, „Gottesgnadentum“, „Reich“, „Republik“, „deutsch“, „Deutschland“, „Revolution“ usw. in Verbindung stehen.

Auf die etwa dreißigseitige Übersicht folgt eine 230-seitige Darstellung, in der Schlosser die Entwicklung der Leitbilder im Kontext der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts verorten will. Doch bereits die Überschriften der einzelnen Kapitel lassen erkennen, dass er seinen Fokus verschiebt. Statt die Leitbilder zu analysieren und ihre Geschichte zu schreiben und sie somit ins Zentrum seiner Darstellung zu rücken, referiert Schlosser vor allem bedeutsame Daten der politischen deutschen Geschichte, die er in Auswahl mit Zitaten aus bekannten Quellen illustriert und gelegentlich in Beziehung zu den Leitbildern setzt. Eine vertiefte Interpretation einzelner Leitbilder oder eine Narration ihrer Geschichte findet jedoch nicht statt. Die Darstellung der deutschen Geschichte erweist sich zudem als redundant, da Schlosser sowohl inhaltlich und als auch formal allenfalls das Niveau der Geschichtsbücher für die gymnasiale Oberstufe erreicht. Weder bietet er eine Auseinandersetzung mit den wesentlichen historiographischen Arbeiten, noch erläutert er sein methodologisches Vorgehen oder definiert die zentralen von ihm verwendeten Begriffe.

Für Historiker, Germanisten sowie Lehrer genügen die Lektüre des zusammenfassenden Überblicks zu den deutschen Leitbildern und der kurzen Zusammenfassung am Ende des Buches. Darüber hinaus erfahren sie nichts Neues. Als Ganzes kann das Buch Verwendung finden als historisches Repertorium in Abiturkursen und in Bachelorseminaren, da Schlosser die üblichen abiturrelevanten politischen und teilweise auch gesellschaftlichen Ereignisse kurz skizziert. Allerdings sind für diese Zwecke auch ausreichend andere und ausgewogenere historische Darstellungen vorhanden. Eine wissenschaftlich methodisch fundierte Geschichte der deutschen Leitbilder, die sich ihrer Entwicklung diskursiv und narrativ umfassend annimmt, bleibt ein Desiderat.

Titelbild

Horst Dieter Schlosser: Die Macht der Worte. Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln 2016.
308 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783412505578

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