Von Czernowitz nach Heidelberg: Integration und Ausgrenzung

Olha Flachs über Max von Waldberg und ein Kapitel in der Geschichte der Germanistik

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Biographien stehen auch in der Wissenschaftshistoriographie wieder hoch im Kurs. Und doch geschieht es selten, dass Leben und Wirken der dargestellten Gelehrten nicht allein detailreich geschildert werden, sondern im zeitgenössischen Kontext plötzlich in neuem und noch dazu gerechteren Licht aufscheinen. Dieser Glücksfall liegt in Olha Flachs’ Biographie von Max von Waldberg vor, die an einschlägige Vorarbeiten (Gerhard Sauder, Wilhelm Kühlmann) anknüpft und viel Neues bietet.

Die Verfasserin holt weit aus, um die Gestalt Waldbergs angemessen zu positionieren. Ausführlich schildert sie die Herkunft und kulturelle Atmosphäre der 1884 frisch geadelten Familie von Waldberg aus Jassy im Fürstentum Moldau (heutiges Rumänien). Der alten jüdischen Familie entstammten Rabbiner und sehr reiche Bankiers, sie waren vielsprachig, wohltätig und identifizierten sich mit der deutschen Sprache und der österreichischen Kultur, in deren urbanen Zentren sie zu Hause waren.

Unweigerlich brachten Familien wie die Waldbergs irgendwann künstlerische und wissenschaftliche Begabungen hervor. Max von Waldberg schrieb, kaum dem Gymnasium entwachsen, elegante Feuilletons, Theaterkritiken und Erzählungen für den Teplitz-Schönauer Anzeiger, bevor er das Studium in Czernowitz aufnahm. Weshalb er nicht in Wien, sondern an der Universität der Bukowina studierte, die Theodor Mommsen einmal als „k.u.k. akademische Strafkolonie“ bezeichnete, gehört zu den vielen ungelösten Rätseln in Waldbergs Leben. In Czernowitz wurde er 1881 mit einer unbedeutenden Fleißarbeit zu Lessings Stil in der Hamburgischen Dramaturgie promoviert, doch seine eigentliche wissenschaftliche Ausbildung erhielt er von 1881 bis 1884 in Berlin bei Wilhelm Scherer, dessen weiträumiger philologischen Konzeption er zeit seines Lebens verpflichtet blieb.

Wie Scherer interessierte er sich nicht allein für die Literaturgeschichte, sondern auch für die Gegenwartsliteratur: als Mitglied der Berliner „Zwanglosen Gesellschaft“ schrieb er beispielsweise eine brillante Rezension zu Fontanes Irrungen, Wirrungen, die ihm die Zuneigung des Autors eintrug. In „beständigem Contacte“ mit und „unter Aufsicht“ von Scherer überarbeitete Waldberg sein in Czernowitz begonnenes Buch Die galante Lyrik, das bis heute ein Standardwerk zum Thema geblieben ist. Mit dieser Arbeit habilitierte er sich 1884 in Czernowitz, wo er bereits 1889 zum Extraordinarius für deutsche Sprache und Literatur ernannt wurde. Nachdem er das kulturelle Leben, die Bibliotheksverhältnisse und Arbeitsbedingungen in Berlin kennengelernt hatte, hielt Waldberg in Czernowitz allerdings nichts mehr; er war froh, 1889 mit Unterstützung des Germanisten Wilhelm Braune eine Privatdozentur in Heidelberg zu erhalten.

Damit war sein Schicksal – sehr ähnlich wie das seines Fachkollegen Richard M. Meyer in Berlin – aufgrund der jüdischen Herkunft entschieden. Obwohl die Kollegen und die Fakultät nahezu alle Anstrengungen unternahmen, um für Waldberg eine ordentliche Professur etatisieren zu lassen, erhielt er von dieser bis zu seinem Lebensende nur den Titel, aber weder alle Rechte noch die Besoldung. Was solch ein Akt äußerer Integration und interner Ausgrenzung für soziale und psychische Folgen hatte, ist in größerem Zusammenhang nie untersucht worden. In auswärtigen Berufungsverfahren (Bonn, Marburg) wurde der Name Waldbergs zwar wiederholt genannt, eine Berufung scheiterte indes meist frühzeitig schon am akademischen Antisemitismus.

Heidelberg war keinesfalls die Wunschuniversität Waldbergs, aber er richtete hier erstmals einen Studienbetrieb in der Neueren deutschen Literaturgeschichte ein – und sich selbst auch. Nachdem er mit der Galanten Lyrik und der Renaissance-Lyrik auf sich aufmerksam gemacht hatte, wählte er, wie fast alle Scherer-Schüler, ein Forschungsbiet, das au fond neu erschlossen werden musste. Und wie viele Scherer-Schüler scheiterte er an ihm – wie die meisten von ihnen auf höchstem Niveau.

Seit Ende der 1880er-Jahre arbeitete Waldberg an seiner „Geschichte des deutschen Romans“, einem Projekt, das sich in annähernd 30-jähriger Bearbeitung in eine Geschichte der französisch-deutschen Literaturbeziehungen auf dem Gebiet des empfindsamen Romans wandelte und, nach seinen Worten, „fast zur Frage nach der Genealogie der modernen Seele zu erweitern schien“. 1906 erschien zunächst Der empfindsame Roman in Frankreich, der die Entwicklung der Gattung von den Anfängen in der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zu seinem Höhepunkt, dem Erscheinen von Rousseaus Nouvelle Héloise  darstellte – eine Forschungsleistung, die eher von Romanisten als von Germanisten erkannt wurde. Auf den im Buch angekündigten zweiten Band, die Geschichte des empfindsamen Romans in Deutschland, wartete die Fachwelt vergebens. Vier Jahre später, 1910, erschien ein anderes Teilergebnis seiner Forschungen, die Studie Zur Entwicklungsgeschichte der ‚schönen Seele‘ bei den spanischen Mystikern, in der Waldberg die Vorgeschichte der Empfindsamkeit ins 16. Jahrhundert zurückverfolgte. Auch in dieser Studie kündigte Waldberg weitere Arbeiten zur Geschichte des Romans an. Keine von ihnen erschien. Und von Waldberg auch weiter nichts Bedeutendes mehr.

An dieser Stelle ist zur Arbeit von Olha Flachs die einzige erhebliche Korrektur erforderlich. Die Verfasserin macht den Nationalsozialismus für das Scheitern von Waldbergs Projekt verantwortlich – gescheitert war es jedoch schon vor dem Ersten Weltkrieg, wie Waldberg sich und seinen Freunden eingestand. Die Gründe für das Scheitern sind unbekannt. 1910 aber war das publizierte Œuvre Waldbergs so gut wie abgeschlossen: bleibende Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts und zur Geschichte des empfindsamen Romans sowie die –­ noch von Scherer vermittelte – Edition von Goethes Wahlverwandtschaften im Rahmen der sogenannten Sophien-Ausgabe. Waldberg zählt zu den bedeutenden Köpfen der Scherer-Schule. Wie Konrad Burdach verband auch er eine nationalistische Orientierung mit einer kosmopolitischen philologischen Konzeption.

Die wichtigste Leistung der Arbeit von Olha Flachs liegt in dem detailliert geführten Nachweis, dass Waldbergs wissenschaftliche Leistungen mit seinem publizierten Œuvre nicht identisch sind. Er hat in seinen Heidelberger Jahren den neugermanistischen Studien­betrieb nicht nur eingeführt und geleitet – der Ordinarius Friedrich Gundolf war in den zwanziger Jahren weitgehend davon befreit –, sondern darüber hinaus nicht weniger als 136 Dissertationen betreut. Vielleicht zog er das persönliche Wirken dem allenfalls indirekten des Schreibens vor. Die von ihm angeregten Dissertationen werden in Flachs’ Arbeit erfasst, nach Fachgruppen geordnet und wissenschaftshistorisch charakterisiert, wozu die 55 überlieferten und ausgewerteten Gutachten Waldbergs eine einzigartige Quelle darstellen. Um von Waldbergs Philologie eine Ahnung zu erlangen, bedarf es nur der Betrachtung der zahlreichen konzeptionell neuartigen Themen, die er vergab; sie reichen von der Ideen-, Gattungs- und Rezeptionsgeschichte bis zur Theater- und Buchhandelsgeschichte – bei vielen von ihnen stehen die Literaturbeziehungen zur Romania im Vordergrund.

Max von Waldberg promovierte so herausragende Wissenschaftler wie Karl Vossler, Leonardo Olschki, Hugo Friedrich oder Richard Alewyn. Dass keiner dieser späteren Professoren die Gelegenheit suchte oder fand, das intellektuelle Profil ihres Förderers an sichtbarer Stelle für die Geschichte der Philologie zu umreißen, dürfte weniger auf mangelndem Respekt oder auf Pietätlosigkeit beruhen als auf einer – vielleicht unverschuldeten – Ahnungslosigkeit, mit wem sie es zu tun hatten.

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Olha Flachs: Max Freiherr von Waldberg (1858-1938). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik.
Mattes Verlag, Heidelberg 2016.
417 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783868091090

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