Die Entwicklung einer Revolution

Konstruktivistische Ideen haben sich im Laufe der Jahrzehnte in zahlreichen Disziplinen eingenistet und sich dabei selbst einem ständigen Wandel unterzogen – Siegfried J. Schmidt zeichnet den Weg dieser Denktradition nach

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das einigende Credo des Konstruktivismus – hier verstanden als Sammelbezeichnung für mehrere erkenntnistheoretische Strömungen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts – ist die Annahme, dass ein erkannter Gegenstand vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. Oder wie es Siegfried J. Schmidt im Vorwort seines Buches Konstruktivismus auf dem Wege formuliert: „Alles ist Konstruktion, von Beobachtern für Beobachter gemacht im Ermöglichungsraum neurobiologischer Handlungsbedingungen“.

Der Autor zeigt in seinem Buch, wie der Konstruktivismus sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat. Zum einen konzentriert er sich dabei auf die Tatsache, dass die Überlegungen, Argumentationsweisen und empirischen Befunde des Konstruktivismus in verschiedene Disziplinen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften hineinwirken. Zum anderen legt er dar, wie sich der Konstruktivismus selbst – durch Kritiken von außen – immer weiter ausdifferenzierte. Das Buch versammelt Originalbeiträge und überarbeitete Versionen von Aufsätzen und Vorträgen, die Schmidt seit 1968 entworfen hat.

Gegliedert in drei Teile – „Konstruktivismus auf dem Wege“, „Entwicklungstendenzen in Medienkulturgesellschaften“ und „Literatur Kunst Medien im Modernisierungsprozess“ – bietet die Textsammlung einen umfassenden und strukturierten Überblick über die Strömungen und Ansätze dieses theoretischen Konzeptes. Dass sich Inhalte in den einzelnen Aufsätzen gelegentlich wiederholen, fällt nur dann auf, wenn man das Buch am Stück liest. Es eignet sich durch die Aufsatz-Struktur jedoch auch ideal zum Querlesen.

Interessant und bereichernd ist gleich das erste Kapitel, in dem Schmidt die enge Beziehung zwischen Konstruktivismus und Neurobiologie durch Einführung einer weiteren Verbindung ergänzt und die Sprachphilosophie als wesentliche Vorläufertradition des Konstruktivismus identifiziert. Am Beispiel unter anderem von John Locke, Johann Gottfried von Herder, Wilhelm von Humboldt weist er nach, inwieweit Sprache und Denken miteinander verbunden und für Fragestellungen nach Wahrheit, Richtigkeit oder Angemessenheit der Erkenntnis von wesentlicher Bedeutung sind.

Einen guten Eindruck von der Diversität des heutigen konstruktivistischen Diskurses gibt das zweite Kapitel. Durch seine kenntnisreiche Darstellung der Plausabilität sowie seinen offenen Umgang mit kritischen Fragen und den Schwachstellen des Konstruktivismus bindet Schmidt seinen Lesern, ob vorgebildet oder Neueinsteiger, in den Diskurs mit ein. Im dritten Kapitel schlägt er den Bogen zu Kunst und Literatur, die die Kontingenzproblematik erfahrbar machen. Bereichernd ist schließlich auch das Nachwort, in dem Schmidt Denkwege und Entwicklungen sowie den aktuellen Stand „des“ Konstruktivismus zusammenfasst. Das Buch endet mit einem Gedanken, der die eigene Wahrnehmung von Welt und Zeit infrage stellt. Konstruktivismus auf dem Wege ist durchweg unterhaltsam, lehrreich und inspirierend.

Titelbild

Siegfried J. Schmidt: Konstruktivismus auf dem Wege.
Shoebox House Verlag, Hamburg 2017.
216 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783941120242

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