Der Weltveränderer

Heimo Schwilk zeichnet Luther in seiner Biografie „Der Zorn Gottes“ als großen Nonkonformisten

Von Günther RütherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Rüther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Luther gehört zu den außergewöhnlichen Menschen, die unsere Welt veränderten. Er zählt zu den sogenannten „Großen Deutschen“, deren Schriften und Gedanken zu einem Politikum wurden und wohl heute noch für viele darstellen. Dies hinderte sie aber nicht daran, eine weltweite Verbreitung zu finden. Sie erreichten von der ersten Stunde an nicht nur die Intellektuellen, sondern auch den einfachen Mann und die Frau, zu deren Emanzipation sie beitrugen. Luther revolutionierte nicht nur seine Zeit im 16. Jahrhundert, in dem er lebte. Mit der Ausbreitung seiner Lehre veränderte sich die politische Landkarte und mit seiner fundamentalen Kritik an der Papstkirche leitete er noch zu seinen Lebzeiten die Reform der katholischen Kirche ein. Mit seiner Übersetzung der Bibel ins Deutsche machte er sie zu einem Leseereignis für eine breite Schicht der Bevölkerung und eröffnete ihr den unmittelbaren Weg jenseits des Streits der Konfessionen zum alten und neuen Testament. Die Bibel wurde zum Buch des deutschen Volkes. Mit seiner epochalen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen stärkte er den Glauben des Einzelnen gegenüber der Papstkirche, der es damals im Geiste der Zeit zu sehr darum ging, ihre Dominanz zur Unterdrückung des Bürgers und ihre religiöse Macht zur Rechtfertigung ihrer Privilegien einzusetzen.

In seinem Streit mit dem Papst, den er in seinem Kampf gegen den Ablass als „Antichristen“ schilt, stellte er zwei programmatische Sätze an den Anfang seiner Abhandlung Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sie lauten: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ Und fügt an: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Damit stellte er den Einzelnen in die soziale Verantwortung und grenzte sich von jeder Form individueller Hybris ab. Es ging ihm aber auch darum, die weltlichen und kirchlichen Autoritäten in die Pflicht zu nehmen. Beide Sätze bedeuteten eine unverhohlene Kampfansage an die Papstkirche und den Absolutismus. Heute werden diese Sentenzen, die sich damals auf einzigartige Weise gegen den Zeitgeist stellten, gerne dazu benutzt, sie als Begründung für vielfältige Formen des modernen Lebens heranzuziehen und zur Rechtfertigung freigeistigen Konjunkturrittertums zu missbrauchen. Selbst die Kirchen sind davon nicht frei. Allzu gerne überbieten sie sich in der Anbiederung an den Zeitgeist und opfern ihre Lehre und Tradition auf dem Jahrmarkt des Populismus. Was einst von einem mutigen, Kopf und Kragen riskierenden, Aufbegehren eines Einzelnen ausging, dient heute im Namen eines falsch verstandenen Individualismus ebenso wie in einem ausgrenzenden Konformismus häufig dazu, soziale Verantwortung und Gemeinwohl auszublenden. Die Freiheit des Christenmenschen scheint dort zu enden, wo sie sich gegen den Zeitgeist stellt. Dabei wird vergessen, dass Luther nicht nur ein Modernisierer, sondern auch in seinem tiefsten Inneren ein Konservativer war. „Luther war kein Rebell“, schreibt Heimo Schwilk in seinem Buch Luther. Der Zorn Gottes – Biografie:

„Er taugt nicht als Vorbild für Greenepeace oder die Occupy – Bewegung. Er verabscheute den Aufruhr. Bei aller religiösen Leidenschaft war er stets loyal gegenüber der staatlichen Obrigkeit. Er war kein Umstürzler wie Savonarola oder Thomas Münzer, kein Revolutionär, obwohl er durchaus revolutionär gewirkt hat. Gottesbindung und Obrigkeitstreue waren die Säulen, auf denen sein Lebenswerk ruhte.“

Es gibt nur wenige Gestalten auf der Erde, deren Einfluss so wirkmächtig war und noch ist, wie der seine. Dies ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er einen geistigen Kampf führte. Dieser geistige Kampf, aber zugleich die innere Zerrissenheit und manches Mal auch Widersprüchlichkeit in seinem Denken und Handeln, schuf in Luthers Leben und Werk den Raum für Interpretationen, die ihn bis heute aktuell und lesenswert machen. Sie tragen aber auch dazu bei, sich einseitig auf ihn zu berufen. Luther würde vermutlich einen weiteren seiner vielen großen Zornesausbrüche folgen lassen, wenn er hörte und läse, was heute alles in seinem Namen gepredigt wird. Wer Heimo Schwilks Biografie liest, erfährt, dass sich der Reformator eben nicht in eine Schublade stecken lässt. Er spürt seine Widerborstigkeit in jeder seiner neuen Veröffentlichung, mit denen er versuchte, sich zu erklären und seine zahlreichen Gegner in Schach zu halten oder niederzumachen. Es ist nicht Schwilks Absicht, diese wortgewaltigen Ausbrüche auszugleichen, zurechtzurücken, zu erklären. Er lässt sie so stehen, wie sie sich aus der intensiven Beschäftigung mit dem Werk ergeben. Sein Weg zu Luther besteht darin, ihn von seinem Wort her und aus seiner Zeit zu verstehen. Sein besonderes Verdienst besteht darin, den Leser ganz nahe an seinen „Helden“ heranzuführen und ihm dabei zu helfen, sich in sein Leben und Denken einzufühlen. Dies unterscheidet seine Studie von der nach wie vor großartigen Biografie von Richard Friedenthal aus dem Jahr 1967, der atemberaubenden Arbeit der Oxforder Historikerin Lyndal Roper vom September 2016, oder die Anfang des Jahres in neuer Auflage erschienene umfangreiche und akribische Biografie von Heinz Schilling, dem Berliner Historiker und Professor an der Humboldt-Universität.

Alle miteinander sind lesenswert. Sie werden von dem Forschungsinteresse geleitet, das Lutherbild zu erweitern und neue Dimensionen des Verständnisses aufzuzeigen. Das ist nicht das Anliegen des hier angezeigten Buches. Schwilk führt zu den Quellen zurück. Er zielt darauf ab, dem Leser Luther in seiner Zeit als Familienvater, Bürger, Theologe, Bibelprofessor und Streiter gegen die Papstkirche und ihre Verteidiger so authentisch wie möglich vor Augen zu führen. Dabei greift er vor allem auf seine Schriften zurück und nur soweit unbedingt notwendig auf die zahlreichen darüber erschienenen Publikationen, die mittlerweile ganze Regale füllen. Er schreibt im Präsens, um Luther ganz nah an sich und den Leser heranzuführen. Schon die ersten Zeilen machen dies deutlich:

„Genug! Jetzt ist es genug! Der Punkt ist erreicht, an dem man einschreiten muss! Bruder Martin verlässt die Stadtkirche St. Marien in Wittenberg mit festem Schritt. Er will ein Zeichen setzen, dem unwürdigen Treiben ein Ende machen. Was er eben in seinem Gotteshaus von einem seiner Beichtkinder gehört hat, bestätigt alle seine Befürchtungen. Seine seelsorgerliche Verantwortung ist in Gefahr – und damit das Heil der ihm anvertrauten Schäfchen. Ein Wittenberger verlangte die Absolution, denn er hatte sich tags zuvor mithilfe eines Ablasses von der Sünde der Blutschande freigekauft.“

Der Leser steht mit diesen einführenden Worten mitten im Geschehen des Buches und erfährt, was Luther bewegte, was ihn antrieb und wofür er kämpfte. Von hier aus entfaltet der Autor sein Leben von der Jugend, über das Studium der freien Künste, die große Krise und Berufung, den Eintritt ins Augustinerkloster in Erfurt, den Weg seines Theologiestudiums und seine rasche Karriere als Theologe. Der Leser erfährt, warum er von seinem Kloster nach Rom geschickt wurde und wie „Lügen und Laster der Päpste“ auf ihn einwirkten. Im Mittelpunkt aber steht Schwilks Schilderung der großen Kontroversen des Reformators mit dem Papsttum, insbesondere seine Auseinandersetzung mit Papst Leo X. und seinen Emissären. Dabei rückt er Luthers Gnadenlehre in den Mittelpunkt. Sie bietet ihm Gelegenheit, sich kritisch mit dem Freikauf von Sünden auseinanderzusetzen, wie es die Ablassprediger lehren. Der Streit mit der Papstkirche wird farbig und facettenreich geschildert. Dazu zählt auch die große Disputation mit Johannes Eck in Leipzig, der Luther als Ketzer abstempelte und ihn auf eine Stufe mit Johann Hus und den Hussiten zu stellen versuchte. Schließlich widmen sich zwei Kapitel der Grundsatzkritik, die Luther an der katholischen Kirche seiner Zeit übte. Seine Wortgewalt und Rücksichtslosigkeit gegenüber der weltlichen und heiligen Macht machten ihn zum Ketzer, der sich schließlich auf dem Reichstag zu Worms im April 1521 im Angesicht des Kaisers Karl V. verantworten musste. Die Zahl von Luthers Gegnern war groß, aber er hatte auch Freunde, die ihm in dieser misslichen Situation zur Seite standen. Sie retteten ihn schließlich vor dem Zugriff des Kaisers und des Papstes und führten ihn auf die Wartburg, um ihn zu schützen.

Schwilk schildert Luther als einen Menschen, der zu keinen Kompromissen bereit ist und keinem Streit aus dem Wege geht, wenn es um das von ihm als richtig und wahr erkannte Wort Gottes geht, so wie es die Bibel lehrt. Dadurch brachte er nicht nur den Papst in Verlegenheit, sondern auch seine Förderer, den sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise und Philipp von Hessen. Sein Starrsinn machte selbst vor seinen religiösen Mitstreitern keinen Halt, wenn er den Eindruck hatte, dass sie sich von den Grundsätzen seiner Lehre entfernten; auch sein Freund Philipp Melanchthon bekam dies zu spüren. Die große Auseinandersetzung mit dem bedeutenden Gelehrten Erasmus von Rotterdam, bei der es um die Frage der Willensfreiheit ging, ist dafür ein Beispiel.

Der letzte Teil des Buches schildert Luthers Kampf gegen die Verwässerung seiner Lehre. In den Mittelpunkt rückte dabei sein Verständnis des Abendmahls. Diesem für ihn zentralen Thema wandte er sich in seiner letzten Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis in der Auseinandersetzung mit dem Zürcher Reformator Huldrych Zwingli zu. Für ihn stand dabei unverbrüchlich fest, dass derjenige, der Brot und Wein als „Zeichen“ und „Symbole“ deute, das Abendmahl zum „Erinnerungsmal“ degradiere. Mit dieser Auslegung kam Luther dem katholischen Verständnis vom Abendmahl ganz nahe.

Schwilks Lutherbuch schildert gekonnt und souverän das bewegte Leben des Reformators. Seine Stärke liegt darin, dass es dem Leser Luthers Leben und Werk auf ungemein anschauliche, aber doch stets differenzierte Weise darlegt. Es stellt den Reformator in den Mittelpunkt und verteidigt ihn, soweit es möglich ist. Darin liegt zugleich eine Schwäche, denn es zeigt recht wenig Verständnis für seine Gegner. Nicht von ungefähr, schreibt Schwilk im Nachwort, dass diese Darstellung dem katholischen Leser nicht immer gefallen wird. Damit liegt er gewiss richtig. Vermutlich gilt dies auch für manchen evangelischen Pfarrer oder manche evangelische Pfarrerin. Aber muss sie das denn überhaupt?

Titelbild

Heimo Schwilk: Luther. Der Zorn Gottes – Biografie.
Blessing Verlag, München 2017.
464 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783896675224

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