Der rebellische, der gehorsame und der tragische Luther

Zu Gustav Freytags Darstellung des Reformators in seinem Werk „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“

Von Martin WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Wagner

Die Luther-Rezeption des neunzehnten Jahrhunderts hat keinen guten Ruf. Sie gilt als nationalistisch, repetitiv, intellektuell und ästhetisch belanglos. Ganz falsch ist dieses gängige Urteil nicht. Und doch gibt es hier mehr zu entdecken, als manche Überblicksdarstellung glauben machen will. Gustav Freytags Porträt des „Doctor Luther“ in seinem mehrbändigen Projekt Bilder aus der deutschen Vergangenheit (1859 ff.) ist dafür ein gutes Beispiel.

Die Bilder aus der deutschen Vergangenheit erlebten im neunzehnten Jahrhundert zahlreiche Neuauflagen. 1883, zu Luthers 400. Geburtstag, erschien Freytags Biographie zusätzlich auch als selbständige Publikation, in einem Bändchen von gut 150 Seiten. Ab 1863 lag die Biographie in dänischer, ab 1897 auch in englischer Übersetzung vor (bereits in den Jahren zuvor stand „Doctor Luther“ auf den germanistischen Lehrplänen zahlreicher amerikanischer Colleges). Heute kennt man den Text größtenteils nur noch durch seine Aufnahme in Überblicksdarstellungen zur Rezeptionsgeschichte des Reformators – und zwar als Beispiel seiner unsäglichen nationalistischen Vereinnahmung.

Dabei führt ein close reading des Textes und eine Auseinandersetzung mit seiner Genese nicht nur zu überraschenden Einsichten in die Struktur konservativer und nationalliberaler Ideologiebildung, sondern erlaubt auch einen Blick in die Werkstatt des Erfolgsautors des Romans Soll und Haben (1855) und des Standardwerks Die Technik des Dramas (1863).

Freytag versucht mit seiner Darstellung von Luthers Leben als „tragisch“ zwischen den beiden etablierten Polen im Verständnis des Reformators als Freiheitsheld einerseits und Fürstenknecht andererseits zu vermitteln. Der tragische Luther ist für Freytag ein Mensch, dessen strikter Gehorsam ihn paradoxerweise immer wieder zu Akten der (partiellen) Rebellion führt. Bei diesem Begriff des Tragischen nimmt Freytag deutliche Anleihen aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik. Auch Hegel konzentriert sich in seiner Diskussion der Tragödie darauf, wie das Einstehen für etablierte Institutionen zum Konflikt führt. Zugleich aber lässt sich beobachten, wie Freytag sich im Zuge seiner Überarbeitungen der Luther-Biographie von Hegel entfernt und einen neuen Begriff des Tragischen entwickelt, der dann auch Freytags Ausführungen über den Mechanismus des Tragischen in Die Technik des Dramas wenige Jahre später wesentlich prägt.

Zunächst aber sei hier einem Missverständnis vorgebeugt. Keinesfalls soll mit dieser Relektüre Freytags einer Rehabilitierung des politisch Abwegigen das Wort geredet werden. Germanisten lagen sicher nicht falsch, wenn sie Freytags Luther-Porträt in die Reihe jener (durchaus erfolgreichen) Versuche  stellten, aus Luther einen Nationalhelden und eine historische Identifikationsfigur des protestantischen Deutschlands zu machen. Es geht bei Freytag, wie so oft im neunzehnten Jahrhundert, um die Erfindung und Etablierung einer im Kern protestantisch geprägten deutschen Tradition.

Freytag geht dabei wenig subtil vor. Den berühmten Auftritt Luthers beim Reichstag in Worms im Jahr 1521 etwa, bei dem Luther in Gegenwart des Kaisers ablehnt, seine kirchenkritischen Thesen zu widerrufen, nutzt Freytag zur Inskription des Reformators in die Tradition germanischer Helden. In einem der Zusätze einer späteren Neuauflage ruft Freytag Worms als Schauplatz des Nibelungenlieds in Erinnerung: „Der Hof war nach altem Volksglauben einst der Königssitz des Burgunden Gunter gewesen, dort hatte dieser mit dem finstern Hagen den heimlichen Anschlag gegen das Leben des Helden Siegfried gemacht.“ Freytag überlässt es dem Leser, das Offensichtliche auszubuchstabieren: Wie einstmals dem germanischen Nibelungen-Helden Siegfried, so droht nun Luther Verrat. Doch Luther, so lernen wir bei Freytag, scheint der Gefahr gewachsen. Denn wenn er vor dem Kaiser spricht, dann mit einer Stimme, „die hell und hoch war, wie die Karl’s [sic] des Großen“.

Was wir in Worms erleben, so Freytag dann wieder in etwas anderer Tonlage, ist die große nationale Konfrontation zwischen dem „burgundische[n] Habsburger und de[m] deutschen Bauernsohn“. Luthers Schicksal sollte es sein, schreibt Freytag schließlich in Anlehnung an den Cherusker-Fürsten Hermann, der die Römer wenige Jahre nach Christi Geburt im Teutoburger Wald besiegte, „die Tempel des mittelalterlichen Roms zu zerschlagen, gründlicher, grimmiger, großartiger als in der Vorzeit seine Urahnen getan“. Siegfried, Hermann, Karl der Große (und irgendwo dazwischen noch der typische deutsche Bauernsohn) – in dieser imaginierten Traditionslinie deutscher Helden sieht Freytag auch Luther.

Auch in dem nationalen Narrativ der Bilder aus der deutschen Vergangenheit insgesamt spielt Luther eine entscheidende Rolle. Die deutsche Geschichte, die Freytag erzählt, ist wesentlich die einer Loslösung vom Fremden. Eine Geschichte, die 1517 mit dem Thesenanschlags Luthers und dem Bruch mit der römisch-katholischen Kirche ihren Anfang nimmt und 1813 mit den Siegen in den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleon ihren Höhepunkt erreicht (einen guten Überblick über dieses historische Großnarrativ der Bilder verschafft ein Aufsatz von Larry L. Ping aus dem Jahr 2009).

Freytags nationalistische Interpretationsansätze sind abwegig – und dabei nicht einmal originell. Vergleiche zu Hermanns Kampf gegen Rom etwa gehören zum Standardinventar der Luther-Literatur zwischen den Befreiungskriegen und dem Ersten Weltkrieg. Das hat zuletzt auch Norbert Mecklenburg wieder in einer umfangreichen und lang vorbereiteten Studie zur Rezeption Luthers deutlich gemacht. Mecklenburg, der sich klar zu einer Allianz von Literaturwissenschaft und Literaturkritik bekennt, hält sich dabei auch mit Werturteilen nicht zurück. Der Großteil der Luther-Schriften aller Jahrhunderte (und vor allem des so überaus produktiven neunzehnten Jahrhunderts) gilt ihm wenig. Für lesbar – oder gar lesenswert – hält Mecklenburg von den unzähligen literarischen Luther-Texten kaum einen. Mecklenburg fasst zusammen:

Unter den Hunderten und Aberhunderten von dramatischen, epischen, lyrischen Werken erweisen sich nur wenige als künstlerisch und geistig belangvoll, die darum desto größere Aufmerksamkeit verdienen. Zugespitzt gesagt, ragt nur eine Handvoll weit über alle anderen hinaus: eine Erzählung, in der Luther als episodische Figur vorkommt: Kleists Michael Kohlhaas, ein Gedicht Conrad Ferdinand Meyers von nur wenigen Verspaaren, ein Drama, das nie geschrieben wurde: Luthers Hochzeit von Thomas Mann, sowie, weil bleibend provozierend und zum Denken anregend, ein Theaterstück von Dieter Forte und ein Roman von Stefan Heym.

Mecklenburgs Auswahl des „künstlerisch und geistig belangvollen“ ist, vor allem was das neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert anbelangt, verdächtig kanontreu: Kleist, Meyer, Mann. Das heißt nicht, dass Mecklenburg deswegen schon mit seiner Einschätzung falsch liegt. Doch es lohnt sich, das Inventar der Luther-Literatur noch einmal genauer durchzusehen. Was wir dabei finden, ist vielleicht nicht das, was Mecklenburgs klassisch geschultes Auge als künstlerisch und geistig belangvoll akzeptieren würde. Bedenkenswerte, überraschend brüchige und experimentierfreudige Texte lassen sich jedoch sehr wohl finden.

Werfen wir daher nun noch einen weiteren Blick auf Freytags Luther-Porträt, abseits der deutschnationalen Verbrämung, so entscheidend diese die Rezeption auch geprägt hat. Hinter der nationalistischen Fassade findet sich in Freytags Luther-Biographie ein Ringen um die narrative Form, das, wegen seiner politischen Implikationen, nicht nur Literaturwissenschaftler interessieren sollte. Luthers Leben, so liest man schon zu Beginn der Biographie, sei „tragisch“. Doch was das Tragische genau ist, das variiert im Laufe des Textes und im Zuge seiner späteren Überarbeitungen wesentlich. Drei dieser Variationen des Tragischen sollen im Folgenden näher betrachtet werden. In ihrem politischen Gehalt eigen ist allen dreien – und dies ist der erste interessante Punkt – dass sie der üblichen Dichotomie zu entrinnen suchen, nach der Luther entweder Freiheitsheld und Rebell ist oder Fürstenknecht und Prediger des deutschen Untertanengeistes.

Luther, der Untertan: Das ist ein Bild, das schon der Vormärz-Publizist Ludwig Börne propagiert, und es findet sich auch in der marxistischen Tradition wieder – einschlägig etwa in Friedrich Engels’ Der deutsche Bauernkrieg (1850). Luther wird hier als Parteigänger der deutschen Fürsten kritisiert, der im entscheidenden Augenblick den rebellierenden Bauern die Solidarität versagt und ihr Abschlachten sanktioniert. Auch Nietzsche beerbt dieses kritische Bild des Reformators, wenn auch in anderer Spielart (das Schicksal der Bauern bekümmert ihn weniger) und in keiner einheitlichen Weise im Gesamtwerk. Eine deutliche Stellungnahme aber findet sich etwa in seinem Aphorismus 207 aus Morgenröthe (1881). Unter der Überschrift „Verhalten der Deutschen zur Moral“ stellt Nietzsche dort zunächst allgemein den deutschen Untertanengeist fest: „Ein Deutscher ist grosser Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut: denn er gehorcht, wo er kann, wie diess einem an sich trägen Geiste wohlthut.“ Und dann stellt er Luther als den ältesten Ahnherrn dieses Geistes vor:

Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, – das ist deutsche Tugend. Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus derselben Empfindung gesagt: es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, – es war sein Gottesbeweis, er wollte, gröber und volksthümlicher als Kant, dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche […].

Nietzsches Verurteilung Luthers als Auslöser einer deutschen Misere der zwanghaften Unterwerfung ist umso bemerkenswerter, als sie einer mindestens ebenso prominenten Tradition diametral entgegensteht, in der Luther als Zeuge eines deutschen Willens zur Freiheit und sogar zum Widerstand begegnet. Hegel ist ein prominenter Vertreter dieser Sichtweise in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts – wobei auch er schon auf eine bestehende Interpretationslinie der Aufklärung zurückgreifen kann. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die Hegel ab 1805 hält, räumt er der „Lutherischen Reformation“ als Gelenkstelle zwischen den Teilen über die „Philosophie des Mittelalters“ und die „Neuere Philosophie“ einen prominenten Platz ein. Ihre Bedeutung besteht für Hegel nicht zuletzt in der Ersetzung von blindem Gehorsam durch Freiheit. Diese Sicht auf Luther als entscheidende Figur in einer Geschichte der sich vom vormodernen Obrigkeitsdenken emanzipierenden Menschheit wirkt bis heute nach.

Heinrich Heine beerbt diese Idee in seinem Text Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834), wenn er Luther, Lessing und Kant als Hauptstationen einer deutschen intellektuellen Revolution benennt. Dabei ist die philosophische Revolution bei Heine grundsätzlich als Vorstufe zu einer politischen Revolution gedacht. Die Vollendung der Reformation in der Revolution – das war, wie man wiederum bei Norbert Mecklenburg nachlesen kann, auch bei anderen Autoren des Vormärz eine beliebte Denkfigur.

Doch nicht nur im Vormärz, sondern auch bis in das diesjährige Jubiläumsjahr hinein verlassen sich Versuche, Luther einem breiteren Publikum zu vermitteln, auf das Bild von Luther als Rebell und Freiheitsheld. Wirft man einen Blick auf die zwei neuesten großen deutschen Luther-Biographien, so hat man die Wahl zwischen Willi Winklers Luther. Ein deutscher Rebell und Heinz Schillings Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Sowohl Winkler als auch und vor allem Schilling kommen, etwa in den Kapiteln zum Bauernkrieg, schließlich zu deutlich differenzierteren Bewertungen Luthers. Doch die grundsätzliche Stoßrichtung ist klar, gerade bei Winkler, der sich nicht scheut, auf den ersten Seiten seines Buchs Luthers Auftritt in Worms als „einen Weltaugenblick der Rebellion“ zu bezeichnen: „Unverschämter, selbstbewusster, moderner geht es im mittelalterlichen Jahr 1521 nicht. Mit dem Gewissen hat in Worms niemand gerechnet […].“ Dass eben dieses Gewissen, auf das sich Luther beruft, wenn er ablehnt, seine Schriften zu widerrufen, in Luthers eigenen Worten, „gefangen“ im Wort Gottes sei, lässt Winkler dann freilich erst einmal unkommentiert. Denn das klingt nicht mehr unbedingt so modern und rebellisch (auf die Diskrepanz zwischen Luthers Worten und ihrer gängigen modernen Vereinnahmung weist Peter Marshall hin in seiner auf sehr knappem Raum doch überaus differenzierten englischsprachigen Einführung The Reformation: A Very Short Introduction).

In Freytags Versuch, Luthers Leben als tragisch darzustellen, geht es nun darum, gleichsam einen Mittelweg zwischen der etablierten Dichotomie von Freiheitsmensch und Gehorsamsideologie zu finden. Der Wunsch Freytags und seiner konservativen und nationalliberalen Leserschaft ist es, sich mit Luther ein Modell heldenhaften Lebens zu entwerfen, in dem das anerkannte Freiheitsstreben einer grundsätzlichen Akzeptanz etablierter Ordnung und Autorität nicht widerspricht. Darüber hinaus – dies ist der zweite Punkt, der an Freytags Luther-Biographie interessant ist – erscheint dieser Versuch für Freytag von erheblicher Produktivität in der Formulierung einer Theorie des Tragischen gewesen zu sein. Denn wenn Freytag 1863 sein Standardwerk Die Technik des Dramas veröffentlicht, dann findet sich darin eine Definition des Tragischen, die genau derjenigen entspricht, die er, nach einem Prozess der Überarbeitung im Zuge einer Neuauflage, zuvor bereits in seinem Lutherbuch präsentiert hatte.

Die Rahmung von Luthers Leben als „erschütternde Tragödie“ findet sich in Freytags „Doctor Luther“ schon in der ersten Auflage der Bilder aus der deutschen Vergangenheit, und dort auf der zweiten Seite der Biographie. Luthers Leben, so erklärt Freytag hier, folgt einer allgemeinen Struktur des Lebens tragischer Helden. Diese besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil der Tragödie befindet sich „die Persönlichkeit des Mannes“ (Frauen scheint Freytag in seinen ‚großen Menschenleben’ eher nicht im Blick zu haben) noch ausschließlich unter äußeren Zwängen. Man muss hier wohl an die Kindheit und frühe Jugend des Helden denken. Die Konstituierung des handelnden Individuums im nächsten Schritt besteht nun nicht darin, dass es an irgendeinem Punkt direkt gegen diese äußeren Zwänge rebellieren würde. Vielmehr sucht es „auch unvereinbare Gegensätze“ unter diesen gegebenen Zwängen zu vereinen (was Freytag mit diesen Zwängen genau meint, lässt er hier offen). Schließlich aber, und dies stellt die zweite Phase dar, legt sich das Individuum, basierend auf den vorgefundenen äußeren Zwängen, auf bestimmte Überzeugungen fest, die es fortan handelnd in der Welt zu verwirklichen und gegen andere Sichtweisen zu verteidigen sucht: „Der Eine tritt in den Kampf mit der Welt“. Doch so erfolgreich dieser Kampf auch sein mag, am Ende (Teil 3) kann sich die notwendige Einseitigkeit des Helden nie gegenüber dem deutlich vielseitigeren „Volk“ behaupten: „Die Reaktion der Welt beginnt“. Zuletzt bleibt der Einfluss des tragischen Helden nur in einem Bruchteil der Gesellschaft, als Sektiererei, bewahrt.

Der Einfluss Hegels in diesem Drei-Schritt des Tragischen ist leicht erkennbar. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten ab 1818, veröffentlicht postum 1835) erklärt Hegel, dass die Tragödie dadurch entstehe, dass sich das Göttliche handelnd in der Welt realisiere und dabei notwendiger Weise eine besondere Form annehme – die dadurch mit anderen besonderen Aspekten des Göttlichen in Konflikt gerät. Einfacher ausgedrückt, die Tragödie besteht in einem Konflikt berechtigter Positionen. Sophokles’ Antigone ist das klassische Beispiel für Hegel. In ihr vertreten sowohl Antigone, die ihren Bruder bestatten möchte, als auch Kreon, der die Bestattung des Staatsfeindes untersagt, legitime Standpunkte. Die für sich genommen wohlgegründeten Institutionen von Familie und Staat stehen sich in diesem Konflikt unversöhnlich gegenüber. Am Schluss der Tragödie, so Hegel, muss dieser Konflikt gelöst werden – und sei es durch den Tod des tragischen Helden. Im Ausgang der Tragödie wird so „die einseitige Besonderheit“ des Göttlichen wieder aufgehoben.

Was Freytag an Hegels Definition der Tragödie interessiert haben mag, ist, dass das Handeln des tragischen Helden hier keinesfalls auf direkter Rebellion beruht. Im Gegenteil, es ist beinahe das Produkt eines übermäßigen Gehorsams. In der Tatwerdung des Gehorsams aber, das heißt in seiner Verwirklichung in der Welt, vereinseitigt sich dieser notwendig (handelnd muss er sich zwangsläufig festlegen) und führt damit zum Konflikt mit anderen möglichen Realisierungen des Gehorsams. Die Tragödie bietet so die Möglichkeit, die zwei Pole der Luther-Rezeption zusammenzudenken: Gehorsam und Rebellion.

Das Grundmuster von Freytags Tragödienverständnis ist durch die Hegel’sche Position vorgegeben. Und doch finden sich im weiteren Fortgang der Biographie des „Doctor Luther“ entscheidende Variationen. Scheint es zu Anfang noch, als ob innerhalb der Dreiteilung des tragischen Lebens das eigentlich Tragische darin bestehe, dass auch der noch so stark handelnde Held am Ende immer wieder von der in sich vielfältigeren Welt überwunden wird, so verlagert sich der Akzent des Tragischen bei Freytag im Folgenden weiter nach vorne. Eigentlich tragisch wird für Freytag nun schon die Schnittstelle zwischen dem ersten und zweiten Teil. Tragisch also ist, dass auch der gehorsamste Mensch gerade wegen seines Gehorsams rebellieren muss. Im radikalen Gehorsam gegenüber einem Teil der akzeptierten Autoritäten wird ein anderer Teil irgendwann zwingend in Frage gestellt.

Freytag fokussiert zumindest zwei solcher Momente tragischen Ungehorsams aus dem Geist des Gehorsams. Dieser Zwiespalt des Gehorsams begegnet zunächst, wenn Luther sich gegen den Willen seines Vaters entschließt, ins Kloster zu gehen und der Vater ihm daraufhin vorwirft: „Du glaubtest einem Gebot Gottes zu gehorchen, als du in das Kloster gingst, hast du nicht auch gehört, daß man den Eltern gehorsam sein soll.“ Freytag fasst die Reaktion Luthers knapp zusammen: „Tief stach dies Wort in den Sohn.“

Der selbe Stachel schmerzt Luther erneut, wenn er sich aus Furcht vor Gottes Autorität dem kaiserlichen Verbot widersetzt, sein Glaubenssystem zu predigen: „Der Obrigkeit, die Gott eingerichtet hat, gehorsam zu sein, war sein höchster politischer Grundsatz, nur wenn der Dienst seines Gottes gebot, loderte sein Widerspruch auf.“ Die Prioritäten scheinen hier zunächst klar zu sein (Gott gilt mehr als der Kaiser), und doch schmerzt Luther die „Sorge“, wie Freytag uns einschärft, „man könne ihm dies [seinen Widerspruch gegen das kaiserliche Gebot] als Ungehorsam auslegen.“ Wie zuvor in der Rebellion gegen den Vater, erfährt Luther hier, dass man „Pflichten verletzen“ müsse, um „größere Pflichten zu erfüllen“.

Und so sehr diese gehorsame Pflichtverletzung auch gerechtfertigt ist, sie bleibt qualvoll für den gehorsamen Helden: „Das ist der heimliche Schmerz, ja die Reue jedes großen geschichtlichen Charakters.“ Und Freytag setzt hinzu: „Uns aber erscheint dies als ein tragisches Moment in seinem Leben.“ Die Tragödie besteht nun also nicht mehr in der notwendigen Überwindung auch des größten Tatmenschen, sondern in dem inneren Zwiespalt und Ungehorsam, der das Produkt jedes konsequenten Gehorsams ist. Am Ende führt der Gehorsam notwendig in den (partiellen) Ungehorsam.

So weit kommt Freytag mit seinen Überlegungen zum Tragischen in der ersten Fassung der Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Freytag erkennt die Produktivität einer Denkfigur des Tragischen für die Zwecke konservativer und nationalliberaler Ideologiebildung, die sich einen Luther wünscht, dessen Heldentum weder einfach in Sklavenmentalität, noch in einem Geist radikaler Subversion besteht. Freytags Kompromissbildung eines tragischen Handelns, in dem Gehorsam und Rebellion zusammenfinden, wird man letztlich als konservatives Wunschbild zurückweisen wollen. Sein Konstrukt, nach dem purer Gehorsam in rebellisches Handeln umspringt, bleibt unwahrscheinlich und führt zu einer gefährlichen Rechtfertigung von Obrigkeitshörigkeit. Und dennoch gelingt es Freytag, mit seinem Modell des Tragischen aus den üblichen Klischeebildungen um die Figur Luthers auszubrechen, in dem er immerhin die einfache Dichotomie von Freiheit und Gehorsam hinterfragt.

Doch als Freytag 1861 die dritte Auflage der Bilder aus der deutschen Vergangenheit veröffentlicht, hat sich sein Verständnis des Tragischen noch einmal ein Stück weiterentwickelt. Inhaltlich geht es nun sogar um etwas (ganz) anderes. Ins Blickfeld gerät jetzt, zusätzlich zu den bisherigen Interpretationen des Tragischen, der merkwürdige Widerspruch, dass Luther, der den päpstlichen Hoheitsanspruch auf die korrekte Bibeldeutung bekämpfte, im Laufe seines Lebens selbst immer dogmatischer wurde und Abweichungen von seiner Lehre kaum gelten ließ. Luther, so Freytag, wurde selbst zum „Tyrannen“ und zum „Papst der Protestanten“. Die Tragödie besteht nun also darin, dass gerade der entschlossene Kampf gegen tyrannische Autorität mit einem gewissen Automatismus selbst wieder in die Tyrannei zurückfällt. Beinahe handelt es sich hierbei um eine Inversion des vorigen Gedankens: Tragisch ist nicht mehr, dass Gehorsam in Ungehorsam mündet, sondern dass das Freiheitsstreben zur Tyrannei führt.

Der Anschluss an das Vorige bleibt dennoch etwas holprig. Dabei folgt die logische Struktur dieser dritten Version des Tragischen ganz genau der zweiten hier vorgestellten. Es handelt sich um die Struktur einer plötzlichen und überraschenden Umkehr eines Aspekts in sein Gegenteil. So wie Gehorsam zu Widerstand führen kann, so kann auch der Widerstand gegen die päpstliche Usurpation der Wahrheit durch die ihr eigene Vehemenz wieder in Dogmatismus ausarten. Wie dem auch sei, Freytag arbeitet weiter daran, Luthers Tragödie in den Griff zu bekommen, und dieser Arbeits- und Denkprozess bleibt den veröffentlichten Versionen der Bilder aus der deutschen Vergangenheit selbst eingeschrieben.

Von dem ursprünglich entworfenen Hegel’schen Dreischritt des Tragischen (von der Festlegung des tragischen Helden auf eine Position über den Konflikt mit anderen Positionen bis zum Tod oder der teilweisen Überwindung des Helden), den Freytag in den späteren Fassungen allerdings nie streicht, haben wir uns hiermit aber ein gutes Stück entfernt. Stattdessen geht es nun eher um einen Zweischritt: ein überraschendes Umspringen des Positiven ins Negative. Hiermit aber hat Freytag zugleich die Formel gefunden, die er zwei Jahre später in Die Technik des Dramas (1863) präsentiert. Das tragische Moment, bestimmt Freytag dort, muss folgenschwer für den tragischen Helden sein, und es muss auch zugleich überraschend für den Zuschauer sein und doch konsequent aus dem Vorigen folgen. Das Tragische besteht also in einer drastischen und überraschenden und zugleich konsequenten logischen Umkehr. Was das konkret bedeutet, spielt Freytag zunächst sehr kurz an drei Beispielen aus der Dramenliteratur durch (Shakespeares Julius Caesar und Romeo and Juliet sowie Schillers Maria Stuart). Das erste etwas ausführlichere Beispiel kommt dann aber nicht nur aus der Literatur, sondern aus dem „wirklichen Leben“. Freytags Exempel ist nichts anderes als die Biographie Luthers. An ihr kann er in aller Deutlichkeit zeigen, was er sich unter der tragischen Umkehr vorstellt:

Die Tatsache, z.B., daß Luther, der starke Kämpfer für die Freiheit der Gewissen, in der letzten Hälfte seines Lebens selbst ein intoleranter Beherrscher der Gewissen wurde, enthält, so hingestellt, nichts Tragisches. In Luther mag sich übergroße Herrschsucht entwickelt haben, er mag altersschwach geworden sein u.s.w. Von dem Augenblick aber, wo uns durch eine Reihe von Nebenvorstellungen klar wird, daß diese Intoleranz die nothwendige Folge desselben ehrlichen Ringens nach Wahrheit war, welches die Reformation durchgesetzt hat, daß dieselbe fromme Festigkeit, mit welcher Luther seine Auffassungen der Bibel der römischen Kirche gegenüberhielt, ihn dazu brachte, diese Auffassung gegen abweichendes Urteil zu vertreten, daß ihm, wenn er in seiner Stellung außerhalb der Kirche nicht verzweifeln wollte, nur übrig blieb stierköpfig den Buchstaben seiner Schrift festzuhalten, – von dem Augenblick also, wo wir den Zusammenhang seiner Unduldsamkeit mit allem Guten und Großen seiner Natur begreifen, macht diese Verdüsterung des späteren Lebens den Eindruck des Tragischen.

Es ist Luther, und keine ‚Tragödie’ im engeren Sinne, der Freytag in Die Technik des Dramas als bestes Beispiel seines Begriffs des Tragischen dient. Mehr noch: angesichts dessen, dass diese Definition des Tragischen als überraschende Umkehr einer ‚guten‘ Geisteshaltung in ihr Gegenteil bei Freytag zunächst im Laufe der Überarbeitung der Bilder – aber noch vor der Veröffentlichung von Die Technik des Dramas – auftaucht, scheint es nicht undenkbar, dass Freytag sich diesen Begriff des Tragischen im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Luther erarbeitet hat.

Dabei kann nicht behauptet werden, dass das, was Freytag, basierend auf den späteren Zusätzen zu seinem „Doctor Luther“, schließlich in Die Technik des Dramas als „tragisches Moment“ bezeichnet, gänzlich Freytags Erfindung ist. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine recht direkte Übernahme dessen, was Aristoteles in seiner Poetik als ‚Peripetie‘ bezeichnet: „den Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in sein Gegenteil, und zwar […] gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit“. Anstatt eines von Hegel inspirierten Begriffs des Tragischen, nun also eher ein Aristotelischer (– bei Aristoteles freilich ist die Peripetie eher eine Art Plotbaustein, der nicht nur der Tragödie eigen ist; bei Freytag dagegen wird dieser Plotbaustein zum dramentechnischen Ausdruck eines im philosophischen Sinne ‚Tragischen‘).

Es geht hier also auch nicht darum, dass Freytag in seiner Auseinandersetzung mit Luther zu einem revolutionären Durchbruch in der Tragödientheorie kommt. Genauso wenig lässt sich behaupten, dass Freytag mit seinen verschiedenen Definitionen von Luthers Tragödie zu einer ultimativ überzeugenden Formulierung von Luthers Position als Freiheitsheld oder Gehorsamsmensch gelangen würde. Freytags Imago eines in seinem Gehorsam tragisch-rebellischen Helden ist letztlich beinahe konservativer Kitsch. Und doch ist in Freytags andauerndem Nachdenken über die ästhetische Form und politische Substanz von Luthers Leben einiges enthalten, das zu genauerer Auseinandersetzung einlädt – mehr jedenfalls, als die flüchtige Zuordnung von Freytags Lutherbiographie in die Ecke nationaler Vereinnahmungen des Reformators (in die Freytag freilich gehört) glauben machen würde.

Literatur:

Gustav Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Erster Teil. 1. Auflage. Leipzig: S. Hirzel 1859.

Gustav Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Erster Teil. 3. Auflage. Leipzig: S. Hirzel 1861.

Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig: S. Hirzel 1863.

Gustav Freytag: Doktor Luther. Eine Schilderung. Leipzig: S. Hirzel 1883.

Peter Marshall:The Reformation. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press 2009.

Norbert Mecklenburg: Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur. Stuttgart: Metzler 2016.

Larry L. Ping: Gustav Freytag’s Bilder aus der deutschen Vergangenheit and the Meaning of German History. In: German Studies Review 32.3 (Oktober 2009). S. 549-568.

Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. 4. aktualisierte Auflage. München: C.H. Beck 2016.

Willi Winkler. Luther. Ein deutscher Rebell. Reinbek: Rowohlt 2016.