Naturalistisch-detailgetreue Milieuschilderungen

Zum 150. Geburtstag von Władysław Stanisław Reymont

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Die polnische Literatur war besonders im 19. Jahrhundert eng mit der Geschichte des Landes verbunden. Durch die drei Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 unter den Nachbarmächten Preußen, Österreich und Russland verschwand das Land bis zum Ende des Ersten Weltkrieges von der politischen Landkarte Europas. Vor dem Hintergrund dieses nationalen Schicksals fungierte die Literatur gewissermaßen als Statthalter des polnischen Nationalbewusstseins, ihr Wirken richtete sich dabei häufig auf die Propagierung eines unabhängigen Polens aus.

Hatten die Romantiker, wie beispielsweise Adam Mickiewicz (1798–1855), zunächst zu einem Befreiungsglauben aufgerufen, verbreitete sich nach der Ernüchterung der misslungenen nationalen Erhebung von 1863 die Auffassung, dass die Fremdherrschaft nicht durch militärische Auseinandersetzungen abzuschütteln sei. Als Gegenströmung entwickelte sich der polnische Positivismus (Realismus) und am Ende des 19. Jahrhunderts die literarische Moderne (Junges Polen), deren Vertreter mit historischen oder Gesellschaftsromanen langfristig die „staatliche Wiedergeburt“ voranbringen wollten. Während Bolesław Prus (1847–1912) in seinen Werken die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit reflektierte, thematisierte Henryk Sienkiewicz (1846–1916) in seinen Romanen die polnische Geschichte.

Ein weiterer Hauptvertreter des polnischen Realismus war Władysław Stanisław Reymont, der zum Kreis der Dichter der Młoda Polska (Junges Polen) gehörte und 1924 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde. Reymont (eigentlich Rejment) wurde vor 150 Jahren, am 7. Mai 1867, in Kobiele Wielkie bei Radomsko (im russischen Teilgebiet Polens) als Sohn eines Dorforganisten geboren. Bereits ein Jahr später siedelte die vielköpfige Familie nach Tuszyn bei Łódź um, wo der Junge die Schule besuchte. Für das Lernen zeigte er jedoch wenig Interesse, sodass er die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium nicht bestand. Daraufhin schickten ihn die Eltern zu Verwandten nach Warschau, um das Schneiderhandwerk zu erlernen. In dieser Zeit entstanden bereits erste Gedichte. Nach der Gesellenprüfung trat er jedoch einer wandernden Theatergruppe bei. In finanzieller Not kehrte er nach einem Jahr zu den Eltern zurück, wo ihm der Vater eine Stelle bei der Eisenbahnlinie Warschau-Wien vermittelte. Der karge Lohn reichte nur für ein kümmerliches Dasein. Die ganze Misere verstärkte sich noch mit dem Tod der Mutter (1890). Als Ausweg erwog der Heranwachsende sogar ein Noviziat in einem Kloster. Als sich dann mit einigen Veröffentlichungen in der Warschauer Literaturzeitschrift „Głos“ erste Anzeichen eines literarischen Erfolges einstellten, fasste Reymont den Entschluss, Schriftsteller zu werden.

Obwohl er weiterhin in trostlosen Verhältnissen lebte, ging er mit großem Eifer daran, seine Erlebnisse und Erfahrungen literarisch umzusetzen. In der Krakauer Zeitschrift „Mysl“ erschien die Erzählung Wigilia (dt. Der heilige Abend), die erste Veröffentlichung, die er mit W. St. Reymont unterzeichnete. Mit dieser Schreibweise, die er zeitlebens beibehielt, gab er seinem Familiennamen einen dezent französischen Anstrich. Nach weiteren Prosaveröffentlichungen wurde er auch von der Literaturkritik wahrgenommen. Nun konnte er sich einen Wohnsitz in Warschau leisten und beteiligte sich an einer Wallfahrt nach Tschenstochau (Częstochowa). Die Reportage dieser Pilgerfahrt Pielgrzymka do Jasnej Gory (dt. Die Wallfahrt nach Jasna Gora) wurde 1895 Reymonts erste Buchveröffentlichung, der im Anschluss mit der Arbeit an seinem ersten Roman begann. In Komediantka (1896, dt. Die Komödiantin) beschrieb er seine Erfahrungen und Erlebnisse mit den Theater-Wandergruppen. Ein Jahr später folgte mit Fermenty (dt. Die Herrin) die Fortsetzung. Für die beiden Erstlingswerke im Bohème-Milieu erntete der junge Schriftsteller viel Lob. Heute werden sie allerdings nicht mehr verlegt (zuletzt in den 1970er-Jahren im Berliner Verlag der Nation).

Für seinen nächsten Roman mit dem vielsagenden Titel Ziemia obiecana (1898, dt. Das gelobte Land, zuletzt Dieterichʼsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1984) recherchierte Reymont sehr gründlich, sammelte zahllose Informationen und Beobachtungen. Der gesellschaftskritische Reportageroman spielt im Jahre 1885 in Łódź,der aufstrebenden Textilindustriestadt. In dem „polnischen Manchester“ suchen drei junge Männer (ein Pole, ein Deutscher und ein Jude) ihre Aufstiegschance und wollen mit der Gründung einer Baumwollfabrik zu Reichtum kommen. Sie verkörpern einen neuen Menschentypus, der sich durch Draufgängertum, Zielstrebigkeit und Unternehmergeist auszeichnet. Jedoch ist nicht ihre Geschichte das Hauptmotiv, sondern das gewaltige Panorama der aufstrebenden Industriemetropole, was bereits der Anfang des Romans deutlich verrät:

Łódź erwachte.
Der erste schrille Pfiff einer Fabrik zerriss die Stille des frühen Morgens. An allen Enden der Stadt begannen andere immer greller sich loszureißen und gellten mit ihren heiseren, ungebändigten Stimmen wie ein Chor von ungeheuerlichen Hähnen, aus deren metallenen Kehlen sich der Ruf zur Arbeit losringt.

Łódź – das gelobte Land? Rauchende Schornsteine, lärmende Maschinen, die den Lebenstakt bestimmen und den Menschen zu einem Rädchen von ihnen machen – der Roman zeigt die Schattenseiten der Textilmetropole. Mit einem analytischen Erzählstil erweist sich Reymont als Chronist eines hemmungslosen Urbanisierungsprozesses und orientierte sich dabei an dem Werk von Emile Zola und dessen Kapitalismuskritik. In der fast apokalyptischen Darstellungskraft übertrifft er jedoch sein Vorbild. Das Urteil der Kritik war zwiespältig: Einerseits wurde das völlig Neue und Progressive gelobt, andererseits warf man Reymont vor, das Bild der Industriestadt viel zu düster und pessimistisch gezeichnet zu haben. Mit Das gelobte Land war Reymont jedoch zum wichtigsten Repräsentanten des polnischen „Milieu-Romans“ aufgestiegen. 1974 wurde der Text von dem polnischen Film- und Theaterregisseur Andrzej Wajda als aufwendiges Nationalepos verfilmt, was ihm zwei Jahre später die Oscar-Nominierung für den besten fremdsprachigen Film einbrachte.

Am 13. Juli 1900 zog sich Reymont bei einem Eisenbahnunglück schwere Verletzungen zu, die ihn bis zum Lebensende beeinträchtigten. Nach einem Gerichtsprozess bekam er eine hohe Entschädigungssumme zugesprochen, was ihn über einen längeren Zeitraum finanziell unabhängig machte. In den folgenden Jahren unternahm er zahlreiche Reisen nach Westeuropa. Mit Das gelobte Land hatte Reymont seine Position als Schriftsteller gefestigt; weiterhin erschienen kurz darauf die beiden Novellenbände Wjesienna noc (1900, dt. In der Herbstnacht) und Przed switem (1902, dt. Vor dem Tagesanbruch). Die Novellen (eine dt. Auswahl erschien 1981 im Leipziger Reclam Verlag) waren meist im bäuerlichen Milieu angesiedelt und sollten wie seine Romane das Nationalbewusstsein stärken. Sie bildeten – neben Zolas Die Erde – wahrscheinlich die Anregung für sein größtes Romanprojekt Die Bauern. Der vierbändige Roman (Herbst, Winter, Frühling und Sommer) beschreibt ein Jahr im Zeitenlauf des masurischen Dorfes Lipce. Das breit angelegte Epos entstand in den Jahren 1901 bis 1908, in denen Reymont längere Zeit in Paris lebte – also fernab seiner polnischen Heimat. Da aber zuvor bereits eine einbändige Version existierte, kann man wohl von einer über zehnjährigen Entstehungsdauer ausgehen.

Der Romanzyklus spielt in den 1880er-Jahren nach der Aufhebung der Leibeigenschaft. Vor dem Hintergrund der Landschaft des östlichen Polens entfaltet Reymont eine realistische Darstellung der bäuerlichen Gemeinschaft, bevölkert von Hofbauern, Knechten, Tagelöhnern, Händlern und Zigeunern. Im Mittelpunkt der Bücher steht jedoch die Familie der Borynas, geführt vom reichen und verwitweten Großbauern Mattheus Boryna, der auf dem Hof ein hartes Regiment führt. Seine Kinder drängen ihn, endlich das Erbe zu überschreiben. Doch gegen ihren Willen freit Mattheus im Alter von 58 Jahren die flatterhafte Dorfschönheit Jagna und verweigert damit seinen Nachkommen das Erbteil. Das sich zuspitzende Familiendrama ist eingebettet in die vier Jahreszeiten, was Reymont die Möglichkeit gibt, neben detailgetreuen Schilderungen des Dorflebens auch den Jahreszeitenwechsel und den damit verbundenen Arbeitsrhythmus ungewöhnlich bildhaft zu beschreiben. Die menschlichen Schicksale werden mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur verknüpft – und das mit einem Erzählstil, der impressionistische Techniken mit expressionistischen Sprachelementen und bäuerlichem Dialekt vereint:

Und unter diesen Wolken, soweit das Auge reichen konnte, ruhte graues Ackerland, eine riesige Schale mit eingekerbtem Rand bläulicher Wälder, durch die gleich silbernen, in der Sonne aufflirrenden Gespinsten der Fluss mit seinen Windungen zwischen Erlen und Uferweiden hervorblitzte.

Dieses authentische Porträt eines polnischen Dorfes gehört noch heute zu den wichtigsten Darstellungen des bäuerlichen Lebens in der Weltliteratur und begründete Reymonts internationales Ansehen als Erzähler. Die Bauern war unbezweifelbar der Höhepunkt seines literarischen Schaffens, was Reymont allerdings mitunter den Ruf eines „großartigen Bauernschriftstellers“ einbrachte. Mit seinen späteren Werken konnte er nicht mehr an Das gelobte Land und Die Bauern anknüpfen. Ein Grund dafür ist sicher auch seine verstärkte Hinwendung zu nationalistischem Gedankengut. So sah er in den revolutionären Unruhen in Russland 1905/07 und den Massendemonstrationen in Warschau, Łódź und anderen polnischen Großstädten eine Bedrohung. Neben weiteren Novellen und dem Roman Wampir (1911, dt. Der Vampir) nahm Reymont mit Rok 1794 (dt. Das Jahr 1794) eine historische Romantrilogie in Angriff, die in den Jahren 1911, 1913 und 1914 als Fortsetzungsroman gedruckt wurde. Die Gesamtausgabe in Buchform erschien erst einige Jahre später. Er verarbeitete hier die Niederschlagung des polnischen Nationalaufstandes durch die Großmächte und Russland im Jahr 1794. Danach gab es für 123 Jahre keinen polnischen Staat mehr.

Vom finanziellen Erfolg seiner Bücher unternahm Reymont weitere Auslandsreisen, darunter immer wieder längere Aufenthalte in Paris, und erwarb 1912 einen Landbesitz, um neben der Schriftstellerei auch Landwirtschaft zu betreiben – ein Vorhaben, das jedoch schnell scheiterte. Während des Ersten Weltkrieges hielt sich Reymont hauptsächlich in Warschau auf. Nach der Ausrufung der Republik Polen am 11. November 1918 weilte er in den beiden folgenden Jahren zweimal in Amerika, wo er unter anderem eine fast dreimonatige Vortragsreise unternahm. Als sich Reymonts Gesundheit Anfang der 1920er-Jahre verschlechterte, kaufte er das Landgut Kopaczkowo bei Września, wo er den Rest seines Lebens verbrachte.

1924 wurde Władysław Reymont als zweiter polnischer Schriftsteller mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, obwohl zu diesem Zeitpunkt seine literarische Stimme seit über einem Jahrzehnt verstummt war. Als Henryk Sienkiewicz 19 Jahre zuvor mit dem Preis bedacht wurde, hatte es noch kein freies Polen gegeben. Die Schwedische Akademie ehrte Reymont ausdrücklich für sein großes nationales Epos Die Bauern. In der Begründung hieß es, dass es sich um „großartige und bleibende Kunst“, um ein Prosaepos, das „durch große und einfache Darstellung […] Züge von Typik einer ganzen Volksschicht“ trägt und daher von „allgemeinmenschlichem Interesse“ sei. In der Laudatio würdigte man ihn sogar als „Homer des Bauerntums“. Aufgrund seiner angeschlagenen gesundheitlichen Verfassung konnte Wladyslaw Reymont, den Preis aber nicht persönlich entgegennehmen. Es folgten weitere Ehrungen: Ritter des Ordens Polonia Restituta und die französische Ehrenlegion. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich jedoch rapide. Władysław Stanisław Reymont starb am 5. Dezember 1925 im Alter von 58 Jahren und wurde vier Tage später in einem feierlichen Staatsbegräbnis auf dem Warschauer Powazki-Friedhof beigesetzt. Die Urne mit seinem Herzen wurde in der Warschauer Kirche des Heiligen Kreuzes, dem kleinen nationalen Pantheon des Landes, neben derjenigen Fryderyk Chopins in einen Pfeiler eingemauert.

Heute ist Władysław Stanisław Reymont – zumindest in Westeuropa – leider fast in Vergessenheit geraten, obwohl er zu den wichtigen Autoren des 20. Jahrhunderts gehört. Sein Werk ist nicht nur ein Schlüsselwerk zum Verständnis Polens, sondern zugleich ein literarischer Beitrag der beginnenden Moderne. Seine wichtigsten Texte zeichnen sich durch eine (manchmal übersteigerte) Bildhaftigkeit und emotionale Spannung aus, die beim Leser ein intensives Miterleben auslösen. Seit Jahrzehnten hat jedoch kein deutscher Verlag mehr irgendeines seiner Bücher im Programm. Selbst in diesem Jahr, seinem 150. Geburtstag, hat man die Gelegenheit verstreichen lassen, Reymont und sein Werk wiederzuentdecken.