Sozialwissenschaftliche Gegnerforschung

Die deutschen Emigranten Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer versorgten im Krieg den amerikanischen Geheimdienst mit Analysen über das NS-System

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit langem schon ist bekannt, dass die nach der Machteroberung der Nazis aus Deutschland vertriebenen Sozialwissenschaftler Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer 1943 in den Dienst des 1941 eingerichteten amerikanischen Geheimdienstes, des Office of Strategic Services (OSS) in Washington, getreten waren und dort in der Abteilung für Recherche und Analyse zahlreiche Berichte und Expertisen angefertigt hatten. Dem vorausgegangen war die, nicht ohne Friktionen vollzogene, Trennung vom Institut für Sozialforschung, das unter der Leitung von Max Horkheimer 1932/33 Frankfurt über die Zwischenstation Genf verlassen und sich in New York an der Columbia University angesiedelt hatte, 1941 aber mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert war, was Mitarbeiter wie Marcuse, Neumann und Kirchheimer zwang, sich nach anderweitiger Beschäftigung umzusehen. Der Staatsdienst mit fester Position und festem Gehalt bot insofern eine willkommene und trotz gewisser, etwa von Marcuse bekundeter Abneigungen bereitwillig ergriffene Alternative, die zugleich als Beitrag deutscher Intellektueller zu den Kriegsanstrengungen des amerikanischen Gastlandes gelten konnte. Dies freilich implizierte, dass nunmehr wissenschaftlich autonome Forschung gegen regierungsseitig geförderte und geforderte Auftragsforschung eingetauscht werden musste.

Etliche der daraus hervorgewachsenen Berichte und Expertisen sind vor gut 30 Jahren vom Politologen Alfons Söllner publiziert worden (Archäologie der Demokratie in Deutschland, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1982/86), damals allerdings ohne genauere Zuordnung der Texte zu einzelnen Autoren. Diese Sammlung, die im Grunde bereits die Kernbereiche der in rascher Folge geschriebenen Gutachten abdeckt, wird nun ergänzt und erweitert durch den in Bologna lehrenden Ideenhistoriker Raffaele Laudani. Dieser hat 31 der im OSS anonym zirkulierenden Stücke ausgewählt, deren Verfasser er mit Hilfe penibler Archivrecherchen jeweils relativ eindeutig einem der drei Wissenschaftler zuweisen konnte. Zuerst 2013 in den USA bei Princeton University Press erschienen, sind die Dokumente nun ins Deutsche übertragen, wenn man will, wie Axel Honneth, der Leiter des Frankfurter Instituts, in seinem Vorwort betont, „in die Muttersprache der Verfasser“ zurückversetzt worden. Das sollte man indes weniger wörtlich als metaphorisch nehmen. Denn Marcuses, Kirchheimers und Neumanns Englisch war bei Weitem nicht so elaboriert wie ihr Deutsch, es wirkt, so die Übersetzerin Christine Pries, „häufig schwerfällig“, behaftet mit allerlei „stilistischen Unbeholfenheiten“, was sich kaum buchstabengetreu abbilden ließ. Hinzu kommt, dass etliche der zitierten deutschen Quellen offenbar nicht im Original aufgesucht (was unter editionstechnischen Gesichtspunkten eigentlich geboten wäre), sondern einfach rückübersetzt worden sind, ohne dies im Einzelnen zu annotieren. So exotisch, wie behauptet, sind die meisten Fundorte allerdings nicht. Eine Zeitschrift wie „Wissen und Wehr“, das Gauorgan der Berliner NSDAP „Der Angriff“ oder die „Frankfurter Zeitung“, um nur sie zu nennen, sind in den besseren Universitätsbibliotheken ohne größere Verrenkungen greifbar.

Man könnte vermuten, dass sich mit der Tätigkeit im OSS die Kritische Theorie gleichsam materialisiert, sich dem Test durch politische Praxis unterzogen hätte. In Honneths Vorbemerkungen und in Laudanis Einleitungsessay klingt das – zumindest en passant – an. In dieser Perspektive liegt es nahe, sich auf Fragen der Theorie zu konzentrieren und darüber den mindestens ebenso wichtigen Aspekt der Einbettung in einen bürokratischen Apparat mit seinen je eigenen terminologischen Anforderungen und pragmatischen Zwecksetzungen zu vernachlässigen. Die abgedruckten Expertisen waren nämlich zunächst einmal Gebrauchsliteratur. Sie sollten die amerikanischen Auftraggeber über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ideologischen Leitlinien und die Machtkompromisse in der NS-Diktatur informieren, sollten darüber hinaus Anhaltspunkte liefern für den Umgang mit dem besiegten Deutschland. Denn daran, dass Nazi-Deutschland den Krieg verlieren würde, gab es für die Autoren, die nach den Niederlagen der Wehrmacht in Stalingrad an der Ostfront und in Tunis an der Afrikafront auf ihre Positionen berufen worden waren, absolut keinen Zweifel.

Für die Aufgaben im OSS waren Marcuse, Kirchheimer und Neumann bestens gerüstet. Letzterer hatte ein paar Monate zuvor sein Opus magnum, den von Horkheimer und seinen Leuten allerdings kritisch beäugten Behemoth, veröffentlicht, eine tiefschürfende Studie über „Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“. In der Endphase der Weimarer Republik hatte er sich eine Kontroverse mit Kirchheimer geliefert, die sich um Gegenwart und Zukunft der deutschen Demokratie drehte. „Weimar, und was dann?“, lautete Kirchheimers provokative Frage, auf die Neumann mit „Erst einmal Weimar“ antwortete. Während jener die Unentschiedenheit der Verfassung beklagte, hob dieser die dort in den sozialen Grundrechtsartikeln angelegten Chancen hin zu einer materiell fundierten und nicht bloß formalen Demokratie hervor, einer Demokratie, wie er notierte, „deren sachliches Arbeitsgebiet in der Förderung des Aufstiegs der Arbeiterschaft liegt und die Freiheit und Eigentum nur insoweit sichert, als sie dem Aufstieg der Arbeiterschaft nicht entgegensteht.“ Solcher Auffassungsunterschiede ungeachtet, repräsentierten beide eine jüngere, sozialdemokratisch bis sozialistisch orientierte, für die Gewerkschaften tätige Generation von Juristen, die sich mit profunden Beiträgen zu staatsrechtlichen Problemen in die Debatten und die aktuelle Politik der späten Weimarer Republik eingemischt und profiliert hatten. Es hätte daher nahegelegen, diese mit den späteren Analysen für das OSS zu verknüpfen, dabei das Augenmerk auf argumentative Elemente der Kontinuität und des Wandels zu lenken. Nahegelegen schon deshalb, weil – anders als Marcuse – weder Neumann noch Kirchheimer zum inneren Kreis der so genannten Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno gehörten.

Warum der Herausgeber diese Deutungsmöglichkeit gar nicht erst in Erwägung zieht, bleibt offen. Verantwortlich dafür war womöglich seine starke Fixierung auf die andere Wege offenbar ausschließende Kritische Theorie. Deren Anpassung an den „kulturellen und bürokratischen Apparat des USA“, heißt es in der Einleitung, habe die „Frankfurter Gruppe“ (eine irreführende Bezeichnung) rasch in die Lage versetzt „die geistige Führung der Mitteleuropa-Sektion“ imThinktank des OSS, der Research and Analysis Branch „an sich zu ziehen.“ Obwohl diese mit mehr als „40 Analytikern unterschiedlicher kultureller und politischer Herkunft“ bestückt war, habe sie, so Laudani, „am Ende eine bündige Interpretation des nationalsozialistischen ‚Feindes‘ mit deutlicher Frankfurter Prägung“ geliefert. Der Leiter der Abteilung, Eugene N. Anderson, habe „mit Erstaunen“ die „relative Leichtigkeit zur Kenntnis genommen“, mit der Neumann und seine beiden Kollegen mit ihrem Forschungsansatz der „gesamten Sektion“ einen prägenden Stempel hätten aufdrücken können.

Man hätte gerne mehr darüber erfahren, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln sie das im Einzelnen geschafft haben. Gleiches gilt für die Frage nach dem Einfluss und dem Radius der Berichte für Entscheidungen von Politikern und Militärs. Dass die Bäume der deutschen Emigranten nicht in den Himmel wuchsen, hat vor Jahren bereits John Herz bezeugt, auch er ein Mitarbeiter in der R & A. Man habe Neumann zwar respektiert, meinte er, ihn aber gleichwohl als Außenseiter angesehen. In diesem Zusammenhang wäre weiterhin von Interesse, wie man sich das, was Laudani „Anpassung“ nennt, vorzustellen hat: War es Selbstzensur, freiwillige Aufgabe marxistisch konnotierter Positionen, und wenn ja, warum? Welcher Art waren die Erwartungen in den Führungsetagen der Administration, was erschien dort plausibel und was nicht, welche Bedeutung kam den Expertisen von Kirchheimer, Marcuse und Neumann im Vergleich mit den unzähligen anderen im OSS umlaufenden Papieren zu, wie verliefen die Diskussionen darüber? Um Fragen wie diese zu beantworten, wäre freilich, anders als hier verfahren, intensivere Kontextanalyse entlang der einzelnen Texte vonnöten gewesen.

Die Expertisen beginnen mit A wie Antisemitismus und enden mit Z wie Zukunft – oder, so die korrekte Überschrift: wie „Potentiale“ des Weltkommunismus. Jener Text, datiert auf den 18. Mai 1943, stammt von Neumann, dieser, datiert auf den 1. August 1949, von Marcuse. Im Antisemitismus sieht Neumann die „einzige Ideologie“, welche die in sich heterogene Nazipartei zusammenzuhalten vermag. Juden figurieren nicht als Sündenböcke, sondern als „Versuchskaninchen, um eine Unterdrückungsmethode auszuprobieren.“ Die Nazis benötigen, so Neumann, einen „Feind, der durch seine bloße Existenz für die Integration der antagonistischen Kräfte“ in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ sorgen soll. Das entspricht einem bereits aus der Bismarck-Zeit vertrauten Muster sekundärer Integration durch Feinderklärung. Neumann klassifiziert seine Interpretation als „Speerspitzen-Theorie“. Die Maßnahmen gegen die Juden dienen in dieser Sicht lediglich als „Mittel zur Erlangung eines weitreichenderen Ziels“, und zwar der „Zerstörung freier Institutionen, Überzeugungen und Gruppierungen.“ Eine derart funktionalistische Verkürzung der Mordpolitik stieß bereits bei Horkheimer und seinen Leuten auf Ablehnung. Heute würde das ohnehin niemand mehr unterschreiben, eher schon die folgende Feststellung: „Der Zwang, so ungeheure Verbrechen zu begehen wie die physische Vernichtung der Juden im Osten, macht die deutsche Wehrmacht, die Beamtenschaft und die breiten Massen zu Mittätern und an diesem Verbrechen Mitschuldige, weshalb es ihnen unmöglich ist, das Naziboot zu verlassen.“

Marcuse weist vier Jahre nach der Kapitulation des NS-Regimes und schon mitten im Kalten Krieg darauf hin, dass der Kommunismus, und zwar entgegen der Prognosen seines theoretischen Gründungsvaters Karl Marx, nicht in den Ländern des entwickelten Kapitalismus hätte Fuß fassen können, sondern überwiegend in agrarisch geprägten, industriell „rückständigen, präkapitalistischen und halbkolonialen“ Gebieten. Entgegen den ursprünglichen Erwartungen der Bolschewiki sei nach 1917 die Revolutionierung des europäischen Kontinents ausgeblieben. Unter Josef Stalin habe man darauf mit dem Konzept vom Sozialismus in einem Land reagiert und – dies flankierend – die kommunistischen Parteien in den anderen Nationen ohne Wenn und Aber auf die „außen- und innenpolitischen Interessen der UdSSR“ verpflichtet. Dies war die Maxime nach dem Krieg auch in den unter Zwang etablierten Volksdemokratien des Ostblocks. Durch dessen industrielle Transformation in Richtung auf eine „hochintegrierte Wirtschaft“ glaube man mit dem westlichen Kapitalismus gleichziehen zu können. Erforderlich dafür sei es, einen „weltweiten militärischen Konflikt“ zu vermeiden, denn dieser würde die Existenz des ost- und mitteleuropäischen Vorfeldes der Sowjetunion aufs Spiel setzen. Im Westen habe sich parallel dazu die Attraktivität des Kommunismus abgeschwächt, die Wirkungen seiner Propaganda lasse nach, und der „Rückhalt“, den die Kommunisten eine Zeitlang jenseits des eigenen Milieus gefunden hätten, schwinde.

Grundlegend neue Einsichten werden weder hier noch in den übrigen Texten vermittelt. Den heutigen Debatten über den historischen Ort des Nationalsozialismus führen sie keine weiterführenden Impulse zu. Was rechtfertigt dann eine vermutlich kostenintensive Edition? Am ehesten die damit gewährten Einblicke in die Denk- und Theoriehorizonte dreier Intellektueller, die im amerikanischen Exil den strukturellen Eigenheiten des NS-Systems auf die Spur zu kommen suchen, eines Herrschaftssystems, das sie nicht, wie vielerorts bei den westlichen Alliierten, als Ausfluss eines preußisch infizierten Militarismus begriffen, sondern als deutsche Antwort auf die sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen der Zwischenkriegszeit. Neumann sprach in diesem Zusammenhang von „totalitärem Monopolkapitalismus“. Die Perspektive, für die sie warben, war den Traditionen eines undogmatischen, marxistisch inspirierten Reformismus verpflichtet. Aber es war – notabene – nicht die Revolution, die sie auf ihre Fahnen schrieben, sondern die soziale Demokratie, die Neumann bereits in jenen Jahren vor Augen hatte, in denen die Weimarer Republik dem Abgrund zustrebte. Dies freilich war keine Vorwegnahme von Slogans aus den Politarsenalen der späteren Bundesrepublik. Vielmehr galt es, so etwas wie einen dritten Weg einzuschlagen, jenseits der USA und der UdSSR, aber doch Elemente beider Ordnungen nutzend. Dazu zählten Parteiendemokratie, Garantie der bürgerlichen Freiheitsrechte, Schutz des kleinen Eigentums, zugleich aber Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, der Banken und Versicherungen sowie Aufsiedlung des agrarischen Großgrundbesitzes, und das hieß zugleich den Profiteuren der NS-Diktatur in Industrie und Landwirtschaft die materielle Basis ihrer Macht zu entziehen. Keine Frage, dass gründliche Entnazifizierung und strafrechtliche Ahndung der NS-Verbrechen als integrale Bestandteile der Politik einer fundamentalen demokratischen Transformation figurierten. Wir wissen, dass die bundesdeutsche Justiz sich gerade damit überaus schwer tat, und wir wissen auch, dass die Perspektiven Neumanns und seiner Kollegen je länger, desto offensichtlicher mit den Auffassungen der amerikanischen Administration kollidierten, kurzum: über weite Strecken, nämlich da, wo sie über die bloße Gegenwartsanalyse hinausgriffen, intellektuelle Utopie blieben.

Titelbild

Franz Neumann / Herbert Marcuse / Otto Kirchheimer: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949.
Herausgegeben von Raffaele Laudani.
Aus dem Englischen von Christine Pries.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. und New York 2016.
812 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783593503455

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