Persischer Stolz, Kränkung und Hochmut

Charlotte Wiedemanns Gesellschaftsporträt „Der neue Iran – Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“ zeigt ein heterogenes Land

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Revolution von 1979 sollte dem Iran Freiheit und Gerechtigkeit bringen. Doch mit ihr, deren Verlauf nur von den wenigsten gewollt war, wurde der Iran für den Westen eine unverständliche und unzugängliche „Silhouette der Düsternis“ voller Parolen und staatlichem Märtyrerkult. Nach der Revolution und dem blutigen Angriffskrieg Iraks gegen den Iran flüchteten viele Iraner – auch nach Deutschland. Sie sind längst ein wichtiger Teil von Deutschland geworden und stärken es, denn die kulturelle Vielfalt ist eine bedeutende Ressource für eine Exportnation. Iraner leben hier seit Jahrzehnten als Ärzte, Ingenieure und Lehrer – über die Hälfte hat einen Hochschulabschluss. Zugleich wissen Deutsche in der Regel nur wenig über den Iran – ein Land, das nach dem Fall der wirtschaftlichen Sanktionen schnell zu einem bedeutenden Handelspartner wurde und doch so fremd erscheint. Charlotte Wiedemann reiste in den Iran und begab sich dort auf eine Spurensuche. Sie traf in Isfahan, Sanandadsch und Teheran die Friedensnobelpreis-Trägerin Shirin Ebadi, den Maler Iman Afsarian, die Feministin Fatemeh Sadeghi und beispielsweise die jüdische Studentin Elyan Musazadeh, die ihr vom Leben der Juden im Iran berichtete, mit denen sich das Land – so die Autorin – „schmückt“, weil sie „in das neue Image als gemäßigte Religionsmacht“ passen. Mit ihrem Buch Der neue Iran legt sie ein umfassendes Gesellschaftsportrait vor und will dem Leser eine analytische Offenheit bietet sowie eine Einfühlung in die Vielfalt ermöglichen.

Der Iran fasziniert die Autorin, weil das Land „sich schnellen Deutungen immer entzieht“. Jeder Reisende würde schnell ein „Gespür für die Widersprüchlichkeit und Komplexität des Landes“ bekommen. Die Komplexität entsteht vor allem durch das Spannungsverhältnis, das sich aus dem Willen zu individueller Vielfalt und der herrschenden normativen Gleichheit in einem Vielvölkerstaat ergibt. Repression und Verbote prägen das Leben in einem Land, in dem aber trotz drastischer Strafen „jede Regel zuweilen verletzt“ wird. Beispiele sind die „weiße Ehe“, ein Zusammenleben ohne Trauschein, Alkoholkonsum und Haustiere („unislamisch“). Kleine Freiheiten haben im korrupten iranischen Staat eine Ventilfunktion: „Sie erlauben, Dampf abzulassen, damit der Druck im Kessel nicht zu hoch wird.“

Die altbekannte Diskussion um die Verschleierung der Frau verdeutlicht die Komplexität: Das Schleierverbot in der Schah-Zeit wirkte auf Iranerinnen, „als zwänge man sie, nackt auf die Straße zu gehen“. Religiöse Iranerinnen waren überzeugt, „dass ihnen das westliche Frauenbild, aufgezwungen im Namen des Fortschritts, den Respekt versagte“. Ob Gebot oder Verbot: Der weibliche Körper wird stets „einem männlich bestimmten politischen Programm“ unterworfen als bedeute den Männern „das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen“ – so formulierte es auch Carolin Emcke in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016 in der Frankfurter Paulskirche. Charlotte Wiedemann zitiert eine Studie von Fatemeh Sadeghi, nach der die jungen Frauen im Iran „in der Falle zwischen der Tradition auf der einen Seite und einer patriarchalisch bestimmten Modernität auf der anderen Seite“ stünden. Sie wenden sich ihrem Körper zu. Der ästhetische Reichtum früherer Epochen sei heutzutage „abgelöst worden durch eine […] obsessive Beschäftigung mit Schönheit – am eigenen Körper“. Nirgendwo wird mehr Geld für Äußerlichkeiten – für Make-up und Nasenoperationen – ausgegeben als im Iran. Frauen schminken sich maskenhaft und bearbeiten Fotos im Handy so, dass sie „um zwanzig Jahre verjüngt“ aussehen.

Wiedemann bezeichnet es außerdem als typisch iranischen Komplex, sich gleichzeitig überlegen und unterlegen zu fühlen: „Nationalstolz, ein waches Gefühl von Kränkung und eine Prise Hochmut: Diese Mischung habe ich immer wieder angetroffen.“ Und diese Beobachtung lässt sich auch auf die in Deutschland lebenden Iraner übertragen. Über diese schreibt die Autorin, dass viele „der alten Heimat noch nach Jahrzehnten des Exils in Liebe wie in Hass eng verbunden sind“. Aber gerade diejenigen, die das Land seit Kindertagen nicht gesehen haben, stellten sich die Wohnzimmer voller Familienfotos mit den auf der Welt verstreuten Verwandten als Ersatz für Nähe und verklärten die „Heimat“ voller Bitterkeit und enttäuschter Liebe. Längst ist eine iranische Gemeinschaft außerhalb des Irans entstanden, die der Iranistik-Professor Hamid Dabashi als „Gefühlsuniversum von Heimat“ bezeichnet; die iranische Nation existiere auch fernab der Landesgrenzen. Doch diese leidet unter der Erfahrung der Zugehörigkeit zur Nichtzugehörigkeit.

Charlotte Wiedemann bemüht sich, Tatsachen zu beschreiben und Wertungen hintan zu stellen. Dabei überlässt sie es – wie im Falle der Geiselnahme in der US-Botschaft 1979 – ihren Gesprächspartnern, iranischen Augenzeugen, ihre Sicht darzulegen. Zur Geiselnahme spricht Massoumeh Ebtekar, die ein Buch über die gut informierten Kämpfer Ruhollah Khomeinis veröffentlicht hat, die aber zugleich auch Vizestaatspräsidentin im Iran ist. Wiedemann erwähnt nicht, dass der Iran 25 Jahre nach der Besetzung die Botschaft zu einem Museum machte, um an „die imperialistische Natur des großen Satans“ – so Bita Schafi-Neya in der „Welt“ am 13.03.2016 – zu erinnern. Die Freiheitsstatue mit Totenschädel, die auf die Mauer der Botschaft gemalt wurde, bezeichnet die Autorin als „Symbolbild“ westlicher Medien für Iran. Der „unbedarfte Betrachter“ überschätze diese Bilder. Ironisch spitzt sie zu: „Manchmal könnte man denken, Westmedien und iranische Hardliner hätten einen Kooperationsvertrag geschlossen.“

Immer wieder lässt sich die auf Neutralität bedachte Autorin zu derart undifferenzierten Äußerungen hinreißen. Vieles bezeichnet sie als „offenkundig antiiranische Propaganda“. Vom Überlegenheitsgefühl der Iraner gegenüber den Arabern bis zu Antisemitismus, „Arier-Mythos“ und der Feindschaft zu Israel spricht Charlotte Wiedemann zwar die kritischen Themen an, beschäftigt sich aber intensiver mit den Herausforderungen des modernen Theaters und der bewegenden Geschichte sowie religiösen Festen im Iran. Beinahe kapituliert sie vor schwierigen Themen, wenn sie schreibt: „Jedenfalls kann in Iran hinter der nächsten Ecke alles immer anders aussehen, als man eben noch dachte.“ An diesen Stellen enttäuscht ihr Erfahrungsbericht.

Dennoch ist Der neue Iran ein guter Einstieg für die Beschäftigung mit dem modernen Iran, den internen Machtkämpfen in der Islamischen Republik und den offenen Konflikten – und zwar, um sich einer faszinierenden Kultur und einem heterogenen Land zu nähern, aber auch, um diejenigen zu verstehen, die mit iranischer Staatsangehörigkeit in Deutschland wohnen. Zwischen stark geschminkten Gesichtern und „mythischen Auffassungen von dem, was sie sind und woher sie kommen“ ist eines klar: Junge Iraner haben Träume und Wünsche im Herzen – „Sehnsucht nach mehr“ – und fühlen sich „auf der Flucht in eine neue Zukunft“. Das rappt beispielsweise der deutsch-iranische Musiker Fard. Die Islamische Republik sei „einem Prozess der ungeordneten Säkularisierung“ unterworfen, urteilt Charlotte Wiedemann. Welche Rolle das Land künftig in der Welt spielen wird und ob es sich vielleicht auf dem Weg in die Zeit vor der Revolution befindet, kann niemand wissen. Der Iran bleibt ein Land, in dem der Wunsch nach Veränderung ebenso stark ist wie die Angst davor.

Titelbild

Charlotte Wiedemann: Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten.
dtv Verlag, München 2017.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281249

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