Literatur als Taschenspielertrick

Hermann Burgers „Lokalbericht“ aus dem Jahr 1970 erscheint postum als Buch und als elaborierte Digitale Edition

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Manuskript Lokalbericht aus dem Nachlass von Hermann Burger (1942–1989) enthält in den Grundzügen bereits alle Elemente seines Gesamtwerks. Der junge Autor schrieb es im Sommer 1970 nieder, unter Zuhilfenahme von verstreuten Vorarbeiten, die bis 1960 zurückreichen. Er hatte bis dato erst einen dünnen Gedichtband publiziert, doch es drängte ihn, die Ideen zu einer „Poetik der Verfremdung“ umzusetzen. Der ambitionierte Roman blieb dennoch Fragment und bis vor kurzem im Nachlass fast gänzlich unbemerkt.

Hermann Burger erzählt darin die Geschichte von Günter Frischknecht (nomen est omen), der bei Professor Kleinert eine Dissertation über Günter Grass’ Topografien verfasst. Dabei gerät er mit den Bedingungen des Literaturbetriebs in Konflikt und auch seine Heimatstadt Aarau bekommt einige ironische Hiebe ab.

Aarau, wo Burger die Schule besucht hatte und 1970 wohnte, wird zur wiedererkennbaren lokalen Szenerie, in der Günter Frischknecht seine Kämpfe austrägt. Insbesondere das Aarauer „Jugendfest“ wird einer satirisch scharfen Beschreibung unterzogen. Der Erzähler erinnert sich, wie er als 18-Jähriger von einem Budenzauber verführt wurde. In diesem circensischen Spektakel lässt sich das Fundament der literarischen Trias circensisch-cimetrisch-cigarristisch erkennen, die Hermann Burgers Werk den untrüglichen Stempel aufgedrückt hat. Im bloß noch fünfseitigen abschließenden Kapitel, mit dem das Fragment abbricht, legt Günter Frischknecht seinen Text dem Kritiker und Literaturanwalt Neidthammer vor, der ihm unumwunden rät, den Roman vorläufig nicht zu schreiben, sondern abzuwarten und ihn ein paar Jahre ruhen zu lassen. So ist es auch gekommen.

Hermann Burgers früher Text, dem zahlreiche ältere Texte und Variationen zugrundeliegen, wird laufend überlagert von ästhetischen Reflexionen über das Schreiben selbst, sodass die Erzählung nur schwer Fahrt aufnimmt. Alles vermengt sich mit allem, Fiktion verschleift sich mit Wirklichkeit, aktuelle Zeitungsberichte werden ebenso wie persönliche Briefwechsel laufend eingearbeitet, sodass sich der Schreibprozess selbst im Geschriebenen spiegelt. Lokalbericht spielt mit den verschiedensten Techniken, häuft bis zum Übermaß Metaphern aufeinander und ist sich selbst für Kalauer nicht zu schade („Mitnichten und Neffen“). Der Autor selbst zeigt sich von seiner belesenen Seite, er gibt den lesewütigen Bibliomanen und zugleich den satirischen Zeitkritiker, er spielt den Verrückten und behält – aller Unausgewogenheit zum Trotz – doch immer die Kontrolle über seinen Stil.

Während der zeitgleich entstandene und 1970 erschienene Erzählband Bork fantastische, schräge Geschichten in eher konventioneller Form erzählt, bricht das Romanfragment in alle Richtungen aus. Es gibt dergestalt ein Abbild der verzweigten Realität, zugleich reflektiert es literarische Traditionen ebenso wie den zeitgenössischen Literaturbetrieb – und ist alles in allem doch ein fiktives Werk. Die verführerischen Analogien von Biografie und Literatur, Fakt und Fiktion vermitteln Schlüsselreize, die Burger aber schon hier gewieft als literarisches Kunstmittel einsetzt und ausreizt. Aarau ist zwar Aarau, und Burger ist wie Frischknecht ein begeisterter Grass-Leser, aber im Kritiker Neidthammer verbinden sich verschiedene reale Zeitgenossen zu einem Amalgam des zeitgenössischen Repräsentanten der Literaturkritik, dem Burger genüsslich eine Abreibung verpasst.

Sprachlich bezeugt Lokalbericht trotz allem eine stupende Sicherheit und Eigenständigkeit. Dennoch gibt es gute Gründe, weshalb das Werk nicht erschienen ist. Hermann Burger hatte sein Studium mit einer Arbeit über Paul Celan abzuschließen, zudem war er zwischendurch krank. Vor allem aber fand er wenig später einen Stoff, der stärker zur Ausarbeitung und Publikation drängte. 1976 erschien der Roman Schilten, mit dem Hermann Burger seinen Ruf als literarisches Enfant terrible begründete. In Schilten tritt der in Lokalbericht angelegte Lehrerroman zutage, geknüpft an das Cimetrische (Burger wohnte seit 1971 neben einem Friedhof). Das Circensische nimmt er 1979 in Diabelli wieder auf und im unvollendet gebliebenen Brenner-Projekt (1989) übernimmt schließlich das Cigarristische die Hauptrolle. Dazwischen hat Burger 1982 im Roman Die künstliche Mutter, wie der Herausgeber Simon Zumsteg schreibt, die „hochnotkomische Verballhornung der eigenen Lebenswelt“ vervollkommnet – ebenfalls ein Erbe aus dem Lokalbericht.

Erst vor kurzem, 15 Jahre nach BurgersTod 1989, ist das Manuskript nun aus der Versenkung aufgetaucht. In ihm war schon alles angelegt – wenngleich noch unvollständig, fragmentarisch, nicht durchgearbeitet. Lokalbericht ist, mit einem Zitat des Herausgebers Simon Zumsteg, „der erstaunliche Versuch eines 28-Jährigen, sich selbst in der literarischen Überlieferung zu positionieren“. Hermann Burger tut es, indem er nach einem eigenen Stil sucht und dafür ein poetisches Konzept entwickelt, in dem sich Sprachskepsis, Satire, Verfremdung und Autofiktion gegenseitig aufladen.

Das sind alles auch gute Gründe, Burgers bis jetzt unveröffentlicht gebliebenen Roman nicht nur als Lesefassung in Buchform herauszugeben, sondern seine modulare Struktur in einer Web-Edition dynamisch kenntlich zu machen.

Während sich das Buch auf die Lesefassung des eigentlichen Lokalbericht-Typoskripts konzentriert, zeigt die digitale Version, dass darin eine Fülle von Varianten, Fassungen und Vortexten ab 1960/61 integriert sind, die Einblick in Burgers modifizierenden Arbeitsprozess geben. Hinzu kommen vertiefende Epitexte (Briefe, Dokumente, Vorlagen) sowie Peritexte (Skizzen), die sich über ein Datenbanksystem variabel miteinander verknüpfen lassen. Ein strukturierter Registerapparat erschließt die Texte von der Stichwortseite her, entsprechend werden auch die jeweils angezeigten Texte mit Angaben zu darin erwähnten Personen, Orten et cetera ergänzt.

Auf der Oberfläche ermöglicht die Digitale Edition mehrere Ansichten des Typoskripts sowie der dazugehörigen Texte: Scans der Originalseite, Transkriptionen sowie bereinigte Lesefassungen. Entspricht letztere der Buchedition, so gibt die Originalseite Aufschluss über die Korrekturen und handschriftlichen Hinzufügungen Burgers. Die qualitativ perfekten digitalen Faksimiles lassen sich am Bildschirm bis zu hoher Auflösung fließend skalieren, sodass nicht nur kleinste Korrekturen sichtbar werden, selbst die Rückseite scheint durch. Dergestalt steht der Scan einem Typoskript kaum hintan. 

Im Darstellungsmodus können wahlweise Einzelseiten angezeigt oder zwei Seiten einander gegenübergestellt werden: Digitalisat und Lesefassung derselben Passage oder zwei unterschiedliche Passagen im Vergleich. Was fehlt, jedoch wünschenswert wäre, ist allenfalls eine Seitenkonkordanz mit der Printversion.

In der Beta-Version (Stand 20. April 2017) sind der editorische Bericht und der textgenetische Kommentar noch nicht ausgeführt – nach Maßgabe der Vorlage ein Kernstück der Edition. Vorhanden ist dagegen ein Überblickskommentar, der dem Nachwort in der Druckausgabe entspricht. Bereits hier zeigt sich der hohe Nutzen für eine kritische Ausgabe: Wo im Buch bestenfalls Seitenzahlen stehen, bietet der digitale Kommentar eine Fülle an Verlinkungen, die direkt zu den entsprechenden Anmerkungen, Textpassagen, handelnden Figuren und Stichworten im Gesamtkorpus führen. Das Buch macht die Lektüre einfach, die Web-Edition ermöglicht dafür das neugierige, forschende, verknüpfende Hüpfen.

Hermann Burgers Lokalbericht bietet dafür eine perfekte Vorlage, weil der Fragment gebliebene, schillernde Roman noch nicht über die Souveränität und Kompaktheit späterer Bücher verfügt und noch sehr stark in einem sehr persönlichen Verweissystem festgezurrt ist. Die Komplexität des Aufbaus dieser Edition und somit die innovative Kooperation zwischen dem Schweizer Literaturarchiv (SLA) in Bern und dem Cologne Center for eHumanities (CceH, Leitung: Patrick Sahle) bezeugt das komplexe „genetische Dossier“: eine diagrammatische Übersicht über den gesamten Textkomplex, der die zeitliche und hierarchische Ordnung darstellt und ein schnelles Wechseln zwischen den Texten ermöglicht. Die parallele oder synoptische Ansicht regt wiederum zum Vergleich der Varianten an. Das Diagramm gibt es auch in einem experimentellen Modus: der „visuellen Navigation“, die Genese, Zugehörigkeit und Kontexte miteinander verknüpft, in der Beta-Anwendung allerdings noch etwas wacklig wirkt. Über alle Seiten hinweg formuliert diese digitale Edition einen hohen, auch optisch gewinnenden Standard.

Das ist übersichtlich umgesetzt, technisch elaboriert eingerichtet und – soweit schon ersichtlich – wissenschaftlich fundiert begleitet. Wem nun kann eine solche Digitale Edition dienen? Der digitale Lokalbericht dürfte in erster Linie für die literaturwissenschaftliche Forschung interessant sein – als Erweiterung der Buchlektüre. Das schnelle Auffinden von Bezügen sowie die vergleichende Lektüre von Varianten sind gute Hilfsmittel für die Textanalyse. Die Evolution dieses einen Textes, stellvertretend für Burgers Werk, lässt sich so haarklein verfolgen.

Weitere Anwendungen, wie beispielsweise partizipative Elemente oder individuelle Bearbeitungsmöglichkeiten, sind dagegen nicht vorgesehen. Sie könnten allenfalls den Austausch unter den wissenschaftlich interessierten Nutzern fördern. Weil der Textkommentar noch fehlt (Stand April 2017), ist noch nicht abzusehen, wie weit die Verknüpfungen über das engere Konvolut aus den Jahren 1960 bis 1970 hinausweisen und gegebenenfalls das weitere Werk Burgers beinhalten wird. Die vorliegende Fassung regt auf jeden Fall die Fantasie einer Werkausgabe in diesem Format an. Die Web-Edition bleibt im Kern aber ein Projekt für spezielle Nutzer.

Hinweis:

Digitale Edition: http://www.lokalbericht.ch/ – Schweizerisches Literaturarchiv Bern (Irmgard M. Wirtz, Magnus Wieland, Simon Zumsteg) in Zusammenarbeit mit dem Cologne Center for eHumanities (Peter Dängeli).

Titelbild

Hermann Burger: Lokalbericht. Roman. Herausgegeben aus dem Nachlass.
Hrsg. v. Simon Zumsteg. In Zusammenarbeit mit Peter Dängeli, Magnus Wieland, Irmgard M. Wirtz.
De Gruyter, Berlin 2016.
314 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783110481877

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