Ansichten eines Euphorikers

Über Gerhard Falkners aus 30 Jahren gesammelte furios-erfrischende „Bekennerschreiben“

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach den Gesetzen der Aufmerksamkeitslogik des Betriebs erblickte der 65-jährige Gerhard Falkner im letzten Sommer mit Apollokalypse, seinem ersten Roman, das Licht der Literaturwelt. Immerhin wurde das wortgewaltige Konvolut prompt auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis gesetzt. Dass Falkner ein seit Jahrzehnten aktiver Dramatiker, Übersetzer, Essayist und Autor von mehr als einem Dutzend Lyrikbänden  ist und mitnichten so etwas wie eine „Neuentdeckung“, musste dem Romanpublikum entsprechend vermittelt werden.

Die Diskrepanz zwischen Lyrikern und Prosaautoren im zeitgenössischen Literaturkosmos ist einer der roten Fäden, die man in Falkners Essays, Reden, Kommentaren, Interviews und Polemiken die unter dem zupackenden wie treffenden Titel Bekennerschreiben vorliegen, beobachten kann. Der Band versammelt auf fast 600 Seiten 54 Texte aus 30 Jahren, davon sechs unveröffentlichte (das Manifest 1986 zum Bachmannpreis mitgezählt, das Falkner seinerzeit nur den Juroren zukommen ließ). Die Reihenfolge der Texte im Buch ist nur bedingt chronologisch und erfolgt nach Themen- beziehungsweise Genregruppen (beispielsweise „Texte zur Poesie“, „Texte zu Kunst, Musik und Literatur“ oder „Interviews und Gespräche“).

Zu Beginn geben die beiden Herausgeber Constantin Lieb und Manfred Rothenberger eine kleine Tour dʼHorizon über den „Dichter, Denker, Provokateur“. Dabei wird ein bisschen zu sehr das Augenmerk auf den Polemiker Falkner gelegt, dessen Streitschriften sich zwar im Widerspruch zum etablierten Zurückhaltungs- und Höflichkeitsgestus der Szene bewegen. Es ist durchaus berechtigt, seine Texte als zornig zu apostrophieren und zwar vor allem dann, wenn es darum geht, ästhetische Diskussionen zu führen, die sich jenseits der Konventionen des gängigen Rezensentensprech bewegen. Das Ziel ist dabei jedoch stets die Diskussion um die Sache. Falkner wird demzufolge selten persönlich verletzend (die einzige halbwegs als Entgleisung zu verstehende Äußerung ist Kill Kilb als nachträglich neu gewählte Überschrift eines Textes, der sich auch mit den Kritikerfähigkeiten des „FAZ“-Autors Andreas Kilb beschäftigt), wirkt manchmal allerdings eigenartig beflissen, fast dünnhäutig, wenn es seine eigenen Gedichten oder Herausgeberschaften betrifft. Das ungeschriebene Gesetz, Kritik am eigenen Schaffen nicht zu beantworten, ignoriert Falkner gelegentlich, so als ginge es um seine schriftstellerische Reputation. Beispielhaft, wie er an Ann Cottens Kritik als einen gewissen „Schwuppdiwuppismus“ in „‚Halbstarkinnen‘-Sprache“, „umbiestert von genderöser, genderaler, genderominaler Verbalerotik“ attackiert.

Derartiges erinnert an den Titel des ersten im Buch abgedruckten Textes aus dem Jahr 1986. Falkner hatte in Klagenfurt gelesen und sein Text war von den Juroren verrissen worden. Daraufhin verfasste er ein Pamphlet mit der Beuys-Paraphrase Wie man den alten Hasen die Bücher erklärt als Titel. Dabei handelt es sich primär um eine Auseinandersetzung mit dem Juryvorsitzenden Marcel Reich-Ranicki. Zuweilen erinnert der Text an Peter Handkes Verdikt über den Kritiker aus dem Jahr 1968 (Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit), wobei Falkner zu ähnlichen Schlüssen wie Handke kommt. Etwa dahingehend, dass er „leicht zu durchschauen und schwer zu widerlegen“ sei und zu „schiefen Urteilen“ tendiere. Falkner erläutert auch, dass Reich-Ranicki die Bedeutung der Prosa von Ingeborg Bachmann in Wirklichkeit gar nicht erkannt habe. Die Prägung, die durch die Juroren (und insbesondere den Dominator Reich-Ranicki) auf die deutsche Gegenwartprosa ausgeübt wird, hält er für fatal und prognostiziert kühn: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Literatur, von der man in 10 oder 20 Jahren spricht, gerade da anfängt, wo der Rahmen dieser Veranstaltung aufhört.“

Fast 20 Jahre später beschäftigt sich Falkner abermals als Kritiker der Kritik. Ausgehend von einem Text in der Zeit zu seiner Anthologie Lyrik von Jetzt konstatiert er in der deutschen Literaturkritik „eine Distanzlosigkeit bis hin zur persönlichen Beleidigung und Verbalinjurie gegen Autoren“. Auf  keinem Gebiet gebe es so viele „‚unfachgemäße‘ Kritiker wie in der Literatur“, die am Ende lediglich als „Geschmacksverstärker“ agierten. „Überlegene Beweisführung statt Invektive“, lautet denn seine Forderung – für sich und auch für andere. Diese Einlassungen sind mehr als nur Produkte vordergründiger Enttäuschungen, sondern bei aller Schärfe auch Bitten, sich mit der Literatur seriös zu beschäftigen.

Falkners eigene, zumeist sehr detailreiche Kritiken und Hinweise ähneln bisweilen dem, der dem störrischen Hasen – sei es Publikum, Kritiker oder Kollege – die Gedichte erklärt. Dabei ist ihm der ausgesprochen enge Resonanzraum der zeitgenössischen Lyrik bewusst: Die meisten Leser von Lyrik sind selber Lyriker; man liest sich gegenseitig, weitgehend unter Ausschluss der andersliterarisch interessierten Öffentlichkeit. Hinzu kommt ein von Falkner wahrgenommener und heftig bekämpfter Drang der Lyriker, ihrer Nische in der Nische durch den Ruhm zu entfliehen, ein Streben, so die These, die zu Literaturimitationen und „Gedichtwarenvertretern“ führt, die zu den Berühmten zählen wollen, die aber letztlich „keiner kennt, keiner liest, keiner mag und keiner braucht“. Das Dilemma: „Das Gedicht ist das Ergebnis der Bemühung von Bemühten, einer Bemühung, die erbracht werden muss, um Erfolg zu haben, und hat man erst Erfolg, muss man diesen Erfolg immer weiter füttern, und dann schreibt man nicht mehr, weil man schreiben muss, sondern man schreibt, weil man schreiben muss, nur anders betont.“ Der klassische Betriebsschreiber ist die Folge, wobei die Diagnose keinesfalls alleine auf die Lyriker beschränkt zu sein scheint.

Falkners Euphorie für die Dichtung, die heutzutage anachronistisch wirkt und fast einem Rechtfertigungszwang unterliegt, wird mit einigen herben kulturkritischen Diagnosen garniert. So steht er der Digitalisierung höchst skeptisch gegenüber. Diese Form der Kommunikation sei „das wirksamste Massenbetäubungsmittel, das je entwickelt wurde“. Digitale Informationen seien die Instrumente der Kartierung des Individuums als „käufliche Existenz“. Die Inhalte von Kommunikation sind bei ihm zu „Müll und Existenzverschmutzung geworden, zu bewusstseinsverzehrenden Introjektionen in den im Jetzt verpuffenden Menschen“.

Für Falkner ist Dichtung ein „Mittel, die Kunst der Wirklichkeit so in die Höhe zu treiben, dass man sich in ihr als einen ihrer Darsteller erkennt. Die dient der inneren Seins-Verdeutlichung des Menschen, der Individualitätssicherung, der Subjekterkennung.“ Hier kommt der Lyrik die zentrale Rolle ist. Das ideale Gedicht ist „eine der letzten Bastionen der Langeweile“, die den Leser, die Leserin fordern muss. „Man soll über die Schwierigkeiten eines Gedichts staunen, nicht verzweifeln“, so das dem Pathos durchaus zugewandte Credo des Autors. Die Bedingung hierfür sind wache Sinne. Aber die Welt „in ihrem äußerst differenzierten Erscheinungsbild, wird nicht mehr gesehen“, lautet die ernüchternde Diagnose. Das, was man Natur nennt, wird sogar verachtet. Literatur, die hierauf rekurriere, wird als befremdlich eingestuft. In der Innenwelt sei für die Außenwelt kein Platz mehr. Daher passt das Cover mit dem Mann, der das aufschäumende Meer peitschenschwingend zurückdrängen möchte und noch zweimal im Buch auftaucht – einmal als Landschaftsbändiger, ein andermal auf einem Gipfel. Natur und Dichtung müssen interagieren – daher ist Naturwahrnehmung essentiell. Bleibt sie aus, fehlt die Emphase.

Im Sammelband zeigt sich sehr gut, wie Falkner den Gesetzen des Betriebs durch Strenge und vor allem Variationen zu entgehen versucht. So verfasst er Gedichte in Dialektform, die er ästhetisch hervorragend mandatiert. Oder berichtet von seinem „Übersetzungs-Gulag“ am Roman Only Revolutions von Mark Z. Danielewski, ein „textueller, transnarrativer Rotationsroman“ in Cantos, der vermutlich „zur großen Freude der Post-Poststrukturalisten“ geschrieben wurde. Dabei schwankt er zwischen Furcht und Respekt vor dem „Austanzen amerikanischer Trivialmythen“ und versucht, die „Falle der Arno-Schmidt-Schule“ zu vermeiden. Besonders interessant sind seine „Reisetexte und Textreisen“. Da geht es durch die „Nacht der dunklen Mächte“ am Tag der Deutschen Einheit durch Rheinsberg, es werden die Merkmale der Revolte in Kiew betrachtet und Athen wird zum Ort der Avantgarde erklärt (freilich definiert Falkner Avantgarde ganz anders als gewöhnlich). Bei einem Poesiefestival im nicaraguanischen Granada zeigen sich die gleichen „Eventzwänge“ der Dichterfunktionäre, „Macher und rastlose[n] Netzwerker“ wie zu Hause: Er sieht ein „weltweit operierendes Senioren-Syndikat sich unentwegt gegenseitig einladender Festival-Ausrichter, Universitätsdichter, Poesieverleger, Zeitschriftenherausgeber oder sonstiger Vertreter unserer habituell angeheiterten Kulturbranche, die sich gerne als gut vernetzt verkauft, statt sich als tief verstrickt zu erkennen.“ Die Perle innerhalb dieser Reiseperlen sind 26 Seiten Untergewanderte Wanderungen: Streifzüge durch den Schweizer Wallis, inklusive Besuch des Rilke-Grabes und der Suche nach dem „Nickenden Steinbrech“. Hier lernt man eine andere Seite, den episch erzählenden Dichter Gerhard Falkner kennen.

Falkners Leidenschaft ist real, dabei ist er weder Ironiker, geschweige denn Zyniker. Der bewusst unakademische und sprachmächtige Duktus vermittelt dem Leser viele erhellende Einsichten. Es ist ein Verdienst des Verlags starfruit publications, die im wörtlichen Sinn furiosen Beiträge, die häufig den publizistischen Umweg über die Literaturzeitschrift, die Anthologie oder auch – trotz seiner Kritik – das Netz genommen haben (erst in letzter Zeit erscheinen Texte auch im „Tagesspiegel“), endlich zu bündeln. Für den literaturästhetisch interessierten Leser sind Falkners Aufsätze trotz einiger unvermeidbarer Redundanzen aufschlussreiche und anregende Lektüre.

Titelbild

Gerhard Falkner: Bekennerschreiben. Essays, Reden, Kommentare, Interviews und Polemiken.
Herausgegeben von Constantin Lieb und Manfred Rothenberger. Mit Fotografien und Video-Stills von Julius von Bismarck.
starfruit publications, Fürth 2017.
597 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783922895305

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