Ein Eisberg im Ozean

Cixin Lius Science-Fiction-Roman „Drei Sonnen“ interessiert sich mehr für Physik als für seine Figuren

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bevor man den Science-Fiction-Roman Die drei Sonnen auch nur aufgeschlagen hat, stutzt man bereits. Oder doch spätestens beim ersten Blick auf das Titelblatt. Prangt dort doch der Autorenname Liu Cixin, während der Verfasser auf dem Einband Cixin Liu genannt wird. Da hat sich wohl jemand davon verwirren lassen, dass die Familiennamen im Chinesischen an erster Stelle stehen. Doch nicht nur chinesische Namen bereiten hierzulande manche Schwierigkeit, sondern mehr noch Übersetzungen aus dem Chinesischen. Darum gebührt allen, die diese Aufgabe meistern, Anerkennung. So auch Martina Hasse, die den vorliegenden Roman ins Deutsche übertragen hat. Sprachlich und ästhetisch ist er allerdings keine Offenbarung. Ob dies jedoch an der Übersetzung liegt oder aber dem Original anzulasten ist, entzieht sich der Beurteilung einer rezensierende Langnase, der chinesische Schriftzeichen so fremd wie böhmische Dörfer sind. Nicht ganz stimmig scheint allerdings zu sein, dass ein im Anhang erläuterter chinesischer Kraftausdruck im Text einmal wörtlich – jemand könne einem „die Eier kraulen“ – übersetzt wird, ein andermal mit der Wendung „die Kuh vom Eis holen“. Doch wer weiß, vielleicht rechtfertigen die Feinheiten der chinesischen Sprache ja aufgrund des jeweiligen Kontextes einmal die eine, dann die andere Variante.

Soweit bekannt, ist es in der Volksrepublik China nicht immer ganz ungefährlich, Kritik an der Partei oder an der Staatsführung zu üben. Und der „große Vorsitzende“ Mao Zedong dürfte auch gut 40 Jahre nach seinem Ableben noch immer geradezu als sakrosankt gelten. Entsprechende Zurückhaltung wird sich auch der in seiner Heimat lebende Autor auferlegt haben, dessen Roman von der ersten bis zur letzten Seite in der Volksrepublik handelt – zumindest, soweit sich das Geschehen auf der Erde abspielt. Die Handlungszeit reicht vom zweiten Jahr der Kulturrevolution bis in die unmittelbare Zukunft der Erstveröffentlichung des Buches, dessen chinesisches Original 2006 erschien. Es sticht allerdings eine Merkwürdigkeit in der Datierung der einzelnen Handlungsabschnitte ins Auge. Der erste Teil handelt in den Jahren 1967 und 1969. Der Hauptteil „achtunddreißig Jahre später“, mithin also ein Jahr nach dem Erscheinen des Romans. Es ist darin aber von Ereignissen aus der Vergangenheit die Rede, die auf das Jahr 2009 datiert werden. Außerdem gibt es in der Handlungsgegenwart einige Erfindungen, die tatsächlich (noch) gar nicht existieren.

Geschichte und Politik seiner chinesischen Heimat böten dem Autor zweifellos allerlei Anlass zur Kritik. Der fallen jedoch nur die von 1966 bis 1976 andauernde und auch von offizieller Seite längst verurteilte Kulturrevolution und der mit ihr einhergehende intellektuellenfeindliche Terror der Roten Garden der Jahre 1966 bis 1968 anheim. Die Demokratiebewegung und die blutige Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Tian’anmen-Platz 1989 werden hingegen weiträumig umgangen. Kritik an Mao wiederum klingt allenfalls einmal verklausuliert und vor allem sehr verhalten an, was womöglich schon ausgesprochen wagemutig sein mag. So etwa, wenn der Autor einen seiner Protagonisten erklären lässt, dass Grassamen auch von einem Steppenbrand nicht vernichtet werden können. Jeder in China wird da sofort ein Mao-Wort aus der Zeit des Guerillakampfes assoziieren, demzufolge aus einem Funken ein Steppenbrand entstehen kann. Dass es sich ausgerechnet in seiner frühen Schrift Über die Berichtigung falscher Ansichten in der Partei (1929) findet, ist besonders interessant, weil die fiktive Kommandantin der auf den Untergang der Menschheit hinarbeitenden „terrestrischen Trisolaris-Rebellen“ schon auf der nächsten Seite des Romans „resolute Maßnahmen gegen Feinde und Andersdenkende in unseren Reihen“ ankündigt, womit die Mao-Sentenz in einen negativen Zusammenhang gesetzt wird. Allerdings wird sie später noch einmal affirmativ aufgegriffen. Satirisch wirkt der erste Entwurf einer „METI-Grußnachricht an außerirdische Zivilisationen“, der denn auch aufgrund einer „Anweisung des Zentralkomitees“ als „völliger Blödsinn, den niemand kapiert“, verworfen wird. Die vierte und schließlich abgesandte Fassung macht allerdings auch keinen wesentlich besseren Eindruck.

Cixin Liu hat seinen Roman in drei Teile gegliedert, dessen letzter den „Sonnenuntergang der Menschheit“ ankündigt. Der erste und kürzeste kann hingegen gewissermaßen als Präludium betrachtet werden. Er spielt zur Zeit der Kulturrevolution, kommt ganz ohne SF-Elemente aus und wird multiperspektivisch erzählt, während der zweite Teil ein rundes halbes Jahrhundert später handelt und aus der Sicht des Protagonisten dieses Abschnitts erzählt wird. Durchkreuzt wird dieser Erzählstrang allerdings von Rückblicken in die Zeit der geheimen Forschungen des „Roten Ufers“, das in den 1960er- und 1970er-Jahren versuchte, in den Tiefen des Alls Aliens aufzuspüren und diese zu kontaktieren. Überaus originell und überraschend ist der Inhalt der ersten Botschaft, die auf der Erde von Außerirdischen empfangen wird. Es handelt sich, so viel sei verraten, um eine „Warnung“, die natürlich kein Gehör findet.

Außerdem sind einige historische Geheimdokumente zur Arbeit der Forschungsgruppe in den Erzählstrang eingeflochten, die erst einige Jahre nach der Handlungszeit freigegeben werden, sowie die Lebensgeschichte einer weiteren Figur, die von dieser selbst erzählt wird. Die meist neutrale Erzählstimme bezieht bei alldem nur selten einmal Position. Etwa wenn sie es „erschütternd“ findet, „dass so viele Menschen ihren Glauben an die menschliche Zivilisation restlos verloren haben“.

Der Roman lässt sich Zeit, sein Thema zu entwickeln. Dafür räubert er reichlich in der fernöstlichen und europäischen Geistesgeschichte. Auch schält sich erst relativ langsam eine mögliche antagonistische Figur zum Protagonisten heraus, der seinerseits erst im zweiten Teil auftritt. Dafür lässt der Autor etliche historische Philosophen, Wissenschaftler und andere Genies auftreten (tatsächlich allesamt Männer), die so ziemlich samt und sonders dem Flammentod hingegeben werden. Zuvor versuchen sie alle vergeblich, das berühmt-berüchtigte Dreikörperproblem zu lösen. Es ist dies nur eines, wenn auch das wichtigste all der physikalischen und mathematischen Fragen und Theoreme, die der Roman ausbreitet. Gelegentlich lähmt dies den Fortgang der Handlung geradezu. So wird etwa die Funktionsweise eines aus 30 Millionen weißer und schwarzer Flaggen hebender Menschen bestehenden „Computers“ langatmig erklärt. Geradezu ärgerlich ist, dass ein ganzes Kapitel allzu offensichtlich darauf angelegt ist, Menschen, die noch nie etwas von Quantenphysik vernommen haben, eine ihrer Grundlagen zu vermitteln. Ein führender Forscher der Nanophysik wie Wang Miao wird sie sich wohl kaum anhand von fünf banalen „Experimenten“ mit zwei Billardkugeln veranschaulichen lassen müssen.

Auch wird den Lesenden reichlich Astrophysik und Himmelsmechanik vorgesetzt – zu reichlich. Dies allerdings nicht immer ganz fehlerfrei. So heißt es über ein Objekt einmal, es könne sein, dass es „mehr als zehn Millionen Lichtjahre weit weg“ sei. Mehr noch, es sei „sogar denkbar, dass es auf der anderen Seite der Milchstraße lag“. Nun hat die Milchstraße allerdings ‚nur‘ einen Durchmesser von etwas mehr als 100.000 Lichtjahren. Wie konnte dem Autor angesichts seiner sonstigen astronomischen Akribie ein solcher Schnitzer unterlaufen? Andererseits sind manche mikrophysikalischen Erläuterungen zumindest für Laien recht aufschlussreich.

Unterbrochen werden die quanten-, nano- und astrophysikalischen Lehrstunden immerhin durch weit interessantere Einschübe etwa zu den politischen Kämpfen während der mörderischen Kulturrevolution der Roten Garden. Die damals in China bei Strafe des Todes an den Tag zu legende political correctness nahm derart skurrile Züge an, dass in der Astronomie nicht einmal Sonnenflecken erwähnt werden durften, hatte sich Mao doch den Beinahmen „die rote Sonne“ zugelegt. Wie könnte es da Sonnenflecken geben.

Auch wird zwischendurch schon einmal ein moralphilosophisches Problem erörtert und die Frage aufgeworfen, ob es sein kann, „dass das Verhältnis zwischen der Menschheit und dem Bösen das gleiche ist, wie das Verhältnis zwischen dem Ozean und dem Eisberg, der auf ihm schwimmt?“ Doch dringen die Erörterungen ethisch-moralischer Fragen ebenso wenig in die Tiefe wie der sichtbare Teil des besagten Eisbergs.

Den Charakteren wiederum fehlt jeder psychologische Tiefgang. Innere Konflikte bleiben oberflächlich, eventuelle Gewissensängste flach. So etwa im Falle der Astrophysikerin Ye Wenjie, eine der wenigen Figuren, die in allen Teilen vorkommt. Wird sie zu Beginn sogleich zur leidensgeprüften Identifikationsfigur, so ist sie schon im zweiten Teil nur noch ein Schatten ihrer selbst, und dies nicht etwa, weil sie nun eine alte Frau ist, sondern weil sie sich nur noch wie eine Marionette in den Händen des Autors ausnimmt, der jedes eigene Leben fehlt. Nicht viel anders erleben die Lesenden den Protagonisten des zweiten und dritten Teils Wang Miao, ein führender Nanophysiker, der an visuellen Irritationen zu leiden beginnt. Genauer gesagt wird vor seinen Augen ein Countdown heruntergezählt, egal wohin er schaut, stets gleicht sich die Zahlenreihe dem Hintergrund an, indem sie ihn kontrastiert. Schließlich zwinkert ihm sogar noch das gesamte Universum in Form einer veränderten Frequenz der kosmischen Hintergrundstrahlung zu. Mit ihm hat der Autor eine Figur geschaffen, die von ihrem ersten Auftritt an keinerlei Interesse für ihre Persönlichkeit wecken kann.

Die weiteren Charaktere sind kaum noch der Rede wert. Hier seien dennoch einige von ihnen genannt. Die „durch und durch kalte“ Shun Yufei etwa, eine japanische Physikerin und führendes Mitglied der mysteriösen „Frontiers of Science“. Oder der Polizeiinspektor Shih Quiang, eine ziemlich unsympathische Figur, was sich erst ändert, wenn man ihn bei einem Saufgelage etwas näher kennenlernt. Damit zählt er schon zum Interessantesten, was das Figurenkabinett des Romans zu bieten hat. Vielleicht sei aber auch noch Michael Evans erwähnt, ein amerikanischer Multimilliardär und Tierrechtler, der dem „Omnikommunismus“ anhängt, demzufolge „alle Arten von Leben gleichberechtigt sind“. Natürlich kommt es unter den ProtagonistInnen zu dem einen oder anderen Todesfall. Als erstes trifft es ausgerechnet eine Figur, von der es am wenigsten zu erwarten gewesen wäre.

Wie so viele SF-Romane kommt auch dieser nicht ohne Aliens aus. Im vorliegenden Fall sind es die „Trisolanier“. Eine offenbar ausgesprochen fremdartige Spezies, über die man lange Zeit nur in ihrer durch ein Computerspiel vermenschlichten Version etwas erfährt. Erst gegen Ende des Romans erlangen die Lesenden einige Einblick in die Gesellschaft und das Wertesystem der Fremden. „Gefühle“ und „Gemütslagen“ sind ihnen „verpönt“, weil sie zur „Verweichlichung führten und konterproduktiv für ein Überleben in dieser rauen Umwelt waren“. Darum haben sie auch „keine Literatur, keine Kunst, kein Streben nach Schönheit, kein Vergnügen und keinen Genuss“. Und von Liebe können sie „nicht einmal träumen“. Dabei haben sie einen nicht exemplifizierten Gottesbegriff und sind überzeugt, dass „Gott“ ihre Zivilisation „gesegnet“ hat. Eine nette Gesellschaft also, wie man sieht.

In der Science-Fiction nicht gerade neu ist die Idee, dass Invasoren von fernen Sternen die Erde besetzen wollen, weil ihr eigener Heimatplanet aus irgendwelchen Gründen unwirtlich ist. So auch die Trisolanier. Dabei setzen sie nicht zuletzt auf psychologische Kriegsführung, die bei den Menschen „eine Abneigung gegenüber der Wissenschaft hervorrufen“ soll. Offenbar nicht ganz ohne Erfolg. Dass aber führende GrundlagenforscherInnen der theoretischen Physik gleich reihenweise Suizid begehen, weil es „keine Physik“ zu geben scheint, ist nicht wirklich sehr glaubhaft.

Außerdem setzen die Trisolanier „intelligente Protonen“ als Waffe ein. Sie sollen die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis destruieren und „die naturwissenschaftliche Forschung völlig zum Erliegen zu bringen“. Somit steht nicht weniger als die Existenz der Menschheit auf dem Spiel. Die wiederum setzt in ihrem Überlebenskampf eine „fliegende Klinge“ und eine „Todeszither“ ein. Der Frage, ob die Erde für eine derart fremde Lebensform wie die Trisolanier überhaupt ein bewohnbares Habitat bietet, wird allerdings nicht nachgegangen.

„Das Wundersame an der Science-Fiction ist, dass sie, wenn sie in bestimmten hypothetischen Welten angesiedelt ist, das, was in unserer Wirklichkeit böse und finster ist, in etwas Rechtschaffenes, hell Leuchtendes verwandeln kann – und umgekehrt“, erklärt der Autor im Nachwort. Sein Roman und die beiden noch der Übersetzung harrenden Fortsetzungen versuchten „genau das“. Was nun allerdings den vorliegenden ersten Teil der Trilogie betrifft, ist das Vorhaben nicht gelungen. Weit mehr als auf ethische Fragen, die recht oberflächlich behandelt werden, kapriziert er sich auf nano-, astro- und quantenphysikalische sowie auf Fragen der Multidimensionalität. So handelt es sich denn auch um Science-Fiction im ursprünglichen, man könnte auch sagen konservativen Sinn, nämlich um die fiktionale Verarbeitung technischer und (natur-)wissenschaftlicher Spekulationen. Wer sich für Hard Science Fiction interessiert, wird mit dem Buch also gut bedient sein. Wen hingegen Soft Science Fiction und Social Fantasy – also soziale, kulturelle und dergleichen Spekulationen – interessieren, wird es hingegen schnell enttäuscht zur Seite legen.

Titelbild

Cixin Liu: Die drei Sonnen. Roman.
Übersetzt aus dem Chinesischen von Martina Hasse.
Heyne Verlag, München 2016.
591 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783453317161

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