Funktionen des Lektorats

Marja-Christine Sprengel untersucht detailliert und vorbildlich die Beziehungen zwischen Lektor und Autor

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrer Stuttgarter Dissertation Der Lektor und sein Autor. Vergleichende Fallstudien zum Suhrkamp Verlag geht Marja-Christine Sprengel intensiv und ausführlich der Frage nach, was für eine gelingende Autor-Lektor-Beziehung konstitutiv ist. Sie zeigt das an der Arbeit von Lektoren in den Verlagen Suhrkamp, Luchterhand und Piper. Im Unterschied zu dem grundlegenden Werk zur Geschichte des Lektors von Ute Schneider (Der unsichtbare Zweite, 2005), das sozialgeschichtlich vorgeht, und den zahllosen mehr oder weniger tiefschürfenden feuilletonistischen Reflexionen von Autoren und Lektoren über ihr Verhältnis zueinander, legt Sprengel ihren Untersuchungen ein theoretisches Konzept, nämlich das des Mentoring, zugrunde: „Unter Mentoring wird in Anlehnung an Paula B. Schneider eine dyadische Konstellation von einem (in einem Bereich) erfahrenen Mentor und seinem (in diesem Bereich) weniger erfahrenen Protegé über einen längeren Zeitraum hinweg verstanden. Das Ziel dieser Mentoring-Beziehung ist es, den Protegé in seiner Karriere zu unterstützen.“ Die Autorin überträgt die elf Funktionen (differenziert in karrierebezogen und psychosozial) des Mentor Role Instruments auf das Verhältnis Lektor – Autor. Zugleich sieht sie aber auch die Limitierung des Ansatzes, nämlich dort, wo es sich um im Literaturbetrieb etablierte Autoren handelt, denn hier „ändern sich häufig die Anforderungen an den Lektor“.

Basis der äußerst detailreichen Untersuchungen sind die jeweiligen Verlagsarchive mit ihrem bislang unveröffentlichten Material sowie persönliche Gespräche mit Lektoren und Autoren. Schwerpunkt ist mit über 200 Textseiten der Suhrkamp Verlag, Piper und Luchterhand werden auf rund 50 Seiten gleichsam als ‚Kontrollgruppe‘ analysiert.

Unter den drei Suhrkamp-Lektoren (Elisabeth Borchers, Hans-Ulrich Müller-Schwefe und Christian Döring), deren Wirken von Sprengel unter die Lupe genommen wird, bildet wiederum Elisabeth Borchers mit über 100 Seiten den Schwerpunkt, wie die Autorin selbst schreibt. Untersucht werden hier wie in den anderen Kapiteln bis in die Einzelheiten die Zusammenarbeit zwischen Lektorin und ihren Autorinnen und Autoren, aber auch die hausinternen Abstimmungsprozesse und Durchsetzungsmechanismen.

Für paradigmatisch erklärt Sprengel die Arbeitsbeziehung zwischen Rainer Malkowski und Borchers, weil sich hier vier zentrale Punkte herausarbeiten lassen, „die auch für die folgenden Untersuchungen von Autor-Lektor-Beziehungen relevant sind“. Es sind dies der Qualitätsanspruch der Lektorin, ihr werbender Einsatz für den Autor, ihr literarischer Einfluss auf den Autor und „die Verantwortungsaufteilung zwischen Lektorat und Verleger“ am Beispiel eines unpubliziert gebliebenen Manuskripts. Das Borchers-Kapitel untersucht 15 von 59 im Verlagsarchiv dokumentierten Autor-Lektor-Beziehungen in den Jahren 1971 bis 1994, der Zeit der Festanstellung von Borchers im Suhrkamp Verlag. Darunter befinden sich so renommierte Autoren wie Karl Krolow, Paul Nizon und Jurek Becker. Wichtige Stammautoren wie Peter Weiss, Max Frisch und Martin Walser wurden „im Dreigespann Autor, Lektor, Verleger“ betreut. Über das taktische Geschick der Lektorin gibt ihre Beziehung zu Hans Magnus Enzensberger Auskunft, von dem sie sich mehr als einmal Rückendeckung holte: „Gerade zu Beginn ihrer Karriere im Suhrkamp Verlag zählte die Meinung von Hans Magnus Enzensberger offensichtlich als entscheidendes Urteil, dem mehr Gewicht als der Empfehlung der Lektorin beigemessen wurde. Die Beziehungen zwischen Hans Magnus Enzensberger und Elisabeth Borchers war deshalb wichtig für die Position der Lektorin im Verlag.“

Im Kapitel über Hans-Ulrich Müller-Schwefe, der mehr als 35 Jahre für den Verlag arbeitete, stehen dessen drei wesentliche Rollen im Vordergrund: „Unterstützer von neuen Autoren, Vermittler zwischen Autor und Verlag sowie Produktmanager“. Müller-Schwefe hat auch in mehreren Beiträgen seine Arbeit als Lektor reflektiert. Bei ihm steht – vor allem bei Bodo Kirchhoff und Gerlind Reinshagen – die psychosoziale Unterstützung der Autoren im Vordergrund. Als Vermittler trat er vor allem in der Verlagsbeziehung zu den Autoren Franz Böhni und Reto Hänny auf; als Produktmanager wirkte er für die Bibliothek Suhrkamp, was hier am Beispiel Walter Kolbenhoffs und Jürgen Beckers erläutert wird.

Christian Döring arbeitete zwischen 1987 und 1997 für den Verlag und hatte damit im Vergleich mit Borchers und Müller-Schwefe eine eher kurze Verweildauer. Neben der Hauptaufgabe, nämlich der Betreuung neuer (Nachwuchs-)Autoren (Marcel Beyer und Thomas Kling), fiel Döring auch die Aufgabe zu, erfahrene Autoren wie Gerhard Meier und Jörg Steiner zu betreuen. Die Stärke Dörings lag im Unterschied zu Borchers und Müller-Schwefe vor allem in karriereunterstützenden Maßnahmen im Literaturbetrieb.

Die beiden schmalen Kapitel über den Luchterhand und den Piper Verlag werden hier nur kurz resümiert. Bei Luchterhand stehen nicht die wechselnden Lektoren im Blickpunkt, sondern „anhand von archivalischen Probebohrungen“ die Lektoratsbetreuung von Günter Grass, Gabriele Wohmann und Helga M. Novak. Im Vordergrund stand hier die Textarbeit. Das gilt auch grosso modo für den Piper Verlag in der Lektoratsbetreuung von Ingeborg Bachmann, Gabriele Wohmann, Jürg Federspiel und Hilde Domin. Insgesamt legte der Verlag „den Schwerpunkt auf karrierebezogene Unterstützung der Autoren“. Das kurze Schlusskapitel resümiert die Ergebnisse aus der Untersuchung des Suhrkamp Verlags, wobei die Autorin zum Resümee gelangt: „Entgegen der Erwartung erwies sich die Beziehung zwischen Autor und Lektor [als] relativ immun gegen Entwicklungen im Literaturbetrieb. So ließ sich die Entwicklung der Aufgaben eines Lektors hin zu denen eines Produktmanagers durch die Untersuchung nicht bestätigen.“

Das Buch von Marja-Christine Sprengel ist nach Wissen des Rezensenten die erste Untersuchung, die derart ausführlich und detailliert die Lektor-Autor-Beziehungen an vielen Beispielen und in allen Facetten darstellt, und schon von daher äußerst verdienstvoll. Die Leistungsfähigkeit und Fruchtbarkeit des methodischen Ansatzes, nämlich die Übertragung des Mentor Role Instruments, wird immer wieder deutlich, sie ist neben den faktischen Ergebnissen der eigentliche Ertrag dieser Dissertation. Man wünscht sich mehr solcher Analysen.

Die einzige Frage, die sich stellt, ist die, warum Sprengel die kurzen Kapitel über die Verlage Luchterhand und Piper angehängt hat – die im Untertitel des Buchs nicht erwähnt werden. Der Erkenntnisgewinn aus dem Vergleich mit Suhrkamp ist angesichts des Aufwands, auch wenn es nur „archivalische Probebohrungen“ waren, relativ gering. Lieber hätte man zum Beispiel etwas über die Beziehungen von Rainer Weiss zu seinen Autorinnen und Autoren gelesen, zumal die Autorin nach ihren Angaben ein Gespräch mit Weiss führte. Immerhin prägte dieser das Programm von Suhrkamp von 1985 bis 2006, also fast so lange wie Elisabeth Borchers – zuletzt als Programmgeschäftsführer aller Suhrkamp Verlage einschließlich der Tochterverlage Insel, Jüdischer Verlag und Deutscher Klassiker Verlag.

Titelbild

Marja-Christine Sprengel: Der Lektor und sein Autor. Vergleichende Fallstudien zum Suhrkamp Verlag.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2016.
302 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783447106535

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch