Dem Vergessen entrissen

Judith Ritter hat die erste biografische Monografie über die Münchner Schriftstellerin Carry Brachvogel geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geschieht noch immer verhältnismäßig selten, dass eine Diplom- oder Magister-Arbeit publiziert wird. Und in aller Regel sind sie es auch nicht wert, einem größeren Publikum als ihren GutachterInnen vorgelegt zu werden. Natürlich gibt es aber auch einige Ausnahmen, welche die Forschung weiter voranbringen als so manche Dissertation, die hierzulande ja bekanntlich sogar einer Publikationspflicht unterliegen. Lucia Hackers Magistra-Arbeit Schreibende Frauen um 1900 ist eine solch rühmliche Ausnahme. Nun gibt es eine weitere zu vermelden. Und wiederum handelt es sich um eine Magistra-Arbeit. Judith Ritter hat sie schon vor mehr als zehn Jahren verfasst. Letztes Jahr ist sie unter dem Titel Die Münchner Schriftstellerin Carry Brachvogel in gründlich überarbeiteter und erweiterter Form im Oldenbourg Verlag erschienen. Mag der Titel auch etwas spröde klingen, so bezeichnet er doch genau den Inhalt des Buches: die Biografie der Genannten.

Es scheint, als hätte die Autorin die lange Zeit zwischen der Abgabe der Qualifikationsarbeit und ihrer Publikation genutzt, um sich durch etliche Archive zu arbeiten. Der Ertrag über die bis vor kurzem noch völlig vernachlässigte jüdische Literatin, Frauenrechtlerin und Salonière kann sich sehen lassen. Auch aufgrund des ausgewerteten Quellenmaterials, wie etwa zahlreicher Briefe von ihr und aus ihrem persönlichen Umfeld. Außerdem hat Ritter Dokumente verschiedener offizieller Stellen sowie „Materialien des Archives des Münchner Vereins für Fraueninteressen e.V. und die Akten zum Münchner Schriftstellerinnenverein, in dem die Autorin sehr engagiert war und den sie mitbegründet hat“, ausgewertet. Trotz ihrer umfangreichen Recherchearbeit musste Ritter den Untersuchungszeitraum auf die Jahre des Kaiserreichs und der Weimarer Republik begrenzen, weil die Quellenlage für die Zeit des Nationalsozialismus besonders miserabel ist.

Die literarischen Publikationen Brachvogels zieht Ritter vernünftigerweise nicht als unmittelbaren „Ausdruck der Einstellungen“ ihrer Verfasserin heran. Nur wenn sich bestimmte „Motive und Thematiken“ öfter wiederholen, zieht sie aus ihnen biografische Rückschlüsse. Diese Zurückhaltung durchbricht sie jedoch in Hinblick auf Brachvogels im Anhang dankeswerterweise vollständig abgedruckte Kurzgeschichte Götter a.D. Die Legitimation für diese Ausnahme holt sie sich aus Hermann Kurzkes Aufsatz Zur Rolle des Biographen.

Neben Archivalien und Werken stützt sich Ritter auf die wenigen bereits existierenden Forschungsarbeiten zu Brachvogel, wobei sie auch nicht zögert, sie einmal zu kritisieren. Monografien oder selbständig veröffentlichte Biografien zu der 1864 geborenen und 1942 von den Nazis im KZ Theresienstadt zu Tode gebrachten Schriftstellerin lagen bislang allerdings noch gar nicht vor. Vielmehr beschränkte sich die Sekundärliteratur auf einige wenige, meist kurze Lexikoneinträge sowie hier und dort eine eher beiläufige Erwähnung in literaturwissenschaftlichen oder an der Frauenbewegung interessierten Arbeiten. Selbst in dem von Renate Wall herausgegebenen und sonst so informativen Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933–1945 sucht man Brachvogel vergeblich. Dabei war sie eine überaus produktive Autorin, die in zahlreichen Textsorten unterwegs war. Ritter nennt nicht weniger als 25 Romane sowie acht Novellen- und Erzählbände. Weiter hat die Biografin ein Schauspiel und eine Komödie, sieben Biografien „historischer Persönlichkeiten“ und etwa 50 „zugängliche Zeitungsartikel, einige Aufsätze, einen in Buchform erschienenen Vortrag und eine historische Abhandlung“ ausfindig gemacht.

Um die Ergebnisse ihrer biografischen Forschung genauer einordnen zu können, fügt Ritter immer wieder Vergleiche mit den Lebensumständen und -läufen von Brachvogels jüdischen Zeitgenossinnen Henriette Führt, Bertha Pappenheim, Else Lasker-Schüler, Margarete Susman und Elise Richter ein.

Ritter  leuchtet die Persönlichkeit und Identität Brachvogels aus, wobei sich ihr zufolge Identitäten „zum einen wie ein Kaleidoskop aus verschiedenen Teilidentitäten oder Selbstverortungen zusammensetzen und sich zum anderen ähnlich einer Matrix, zwischen verschiedenen Dimensionen bewegen“. Die Metapher des Kaleidoskops scheint hierbei besonders treffend, da sich die Fragmente in dessen mehrfach verspiegeltem Sichtfeld ständig zueinander verschieben. Nachdem Ritter – so gut es die Quellenlage zulässt – Identität und Persönlichkeit der Münchnerin in den Blick genommen hat, erörtert sie die Frage, ob Brachvogel „wirklich eine Schriftstellerin des jüdischen Bürgertums“ gewesen ist.

Die Autorin hat ihre Untersuchung nicht chronologisch entlang dem Lebensweg Brachvogels gegliedert, sondern thematisch. Einem „einleitenden Abschnitt zum historischen Hintergrund des Wandels der Rolle der Frau und des sozialen Aufstiegs der Juden“ folgen drei Themenschwerpunkte, wobei sich der erste mit „dem Selbstverständnis, also der Identität und den Zugehörigkeiten“ Brachvogels befasst. Der zweite gilt der für Brachvogel „sehr wichtigen Frage nach der Rolle der Frau“, der dritte Brachvogels „Bildung und vor allem Berufstätigkeit“. Beschlossen wird die Untersuchung durch eine Interpretation der Kurzgeschichte Götter a.D.

Der einleitende Abschnitt zur zeitgenössischen Frauen- und Judenemanzipation ist der wohl schwächste des Bandes, bleibt er doch nicht nur kursorisch, sondern gelegentlich unscharf. So unterscheidet Ritter nicht wie in der Forschung weithin üblich zwischen einem radikalen und einem gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung, sondern zwischen einer radikalen Frauenbewegung und einer bürgerlichen, ohne ihre Entscheidung weiter zu begründen. Zudem stellt sich angesichts ihrer Feststellung, dass „trotz des Zugangs von Frauen zur aktiven Politik insgesamt nur wenige Frauengesetze durchgesetzt werden konnten“, die Frage, welche Kriterien ein Gesetz erfüllen muss, um als Frauengesetz zu gelten. Und schließlich ist es historisch unzutreffend, dass sich „die emanzipatorischen Einstellungen“ von Frauen im „als Neue Frau bezeichneten Typ“ der Weimarer Republik zum ersten Mal auch „äußerlich und im weiblichen Habitus“ zeigten. Tatsächlich waren bereits die um 1900 getragenen Reformkleider ebenso Ausdruck weiblicher Emanzipation wie die noch früher gerauchten Zigarren in den Händen George Sands. Zutreffend ist hingegen Ritters vergleichender Befund, dass „Antifeminismus als zentrale Strömung der damaligen wilhelminischen Gesellschaft und Kultur bezeichnet werden kann, während lautstarke grobe Judenfeindlichkeit eher Sache einer Minorität war“.

Wirklich stark wird die Untersuchung mit Ritters Ausführungen zur Familiengeschichte Brachvogels. Mehr noch trifft dies auf die Abschnitte zu, in denen es um die Biografie der Protagonistin selbst geht. Die Autorin hat ihre diesbezüglichen Befunde akribisch recherchiert und stets mit Quellen belegt. Gelegentlich zeigt sie sich dabei allerdings allzu detailfreudig, sodass sie sich schon mal in randständigen Belanglosigkeiten verlieren kann. Insgesamt lässt sich angesichts des enormen Forschungsertrags aber durchaus über diese kleine Schwäche hinwegsehen. So plausibilisiert sie anhand des Quellenmaterials etwa überzeugend, dass Brachvogel „absolut unreligiös“ war. Von Ritters gewissenhaftem Vorgehen zeugt auch ihre Feststellung, dass sich eine „Aussage zu Brachvogels Identifikation mit dem Judentum als Ethnie oder als Kulturnation, der sie entstammte“, ungleich „weniger eindeutig“ treffen lässt. Immerhin aber kann sie zumindest zeigen, dass Brachvogel „im Gegensatz zu den meisten ihrer Zeitgenossinnen, äußerst differenziert und individuell mit dem Thema Judentum umging“. Allerdings hätte man auch gerne gewusst, wie ein Vergleich mit den Zeitgenossen ausgefallen wäre. Oder sollte die Kollektivbezeichnung „Zeitgenossinnen“ an dieser Stelle als generisches Femininum zu lesen und die Zeitgenossen mitgemeint sein.

„Brachvogels Selbstverortung bezüglich ihrer Heimat“ betreffend kann Ritter zeigen, „dass sie sich als münchenerisch und bayrisch empfunden hat“. Politisch war sie deutlich dem konservativen Spektrum zuzurechnen. Nicht nur, weil sie „den Ersten Weltkrieg mit derselben Euphorie und dem gleichen Patriotismus wie viele ihrer deutschen Mitbürger auch“ begrüßte und zumindest in den ersten Jahren unterstützte, sondern ebenso aufgrund ihrer rigorosen „Ablehnung der Münchner Räterepublik“ sowie „des politisch links stehenden Spektrums“ überhaupt. Wie Ritter weiter zeigt, stand sie dem „Ideal der Neuen Frau“ ebenfalls „eher kritisch gegenüber“.

Diese konservative Haltung hinderte sie aber keineswegs an einer „sehr modernen Einstellung“ bezüglich der „Geschlechterrollen“, die sie nicht nur in ihren Schriften vertrat, sondern auch „im eigenen Lebensentwurf umsetzte“. Denn „mit ihrer Existenz als unverheiratet bleibende, selbständig berufstätige Witwe mit zwei Kleinkindern widersprach die Autorin eklatant dem […] gängigen Frauenideal des Bürgertums im Kaiserreich, das auch für die jüdische Gesellschaft galt“.

Darüber hinaus vertrat Brachvogel – zumindest theoretisch – eine „offene Einstellung gegenüber Sexualität und Erotik“. Ihr frauenrechtlerisches Engagement trat jedoch eher in ihrem Kampf „für höhere Mädchenschulen, Zulassung zum Studium, Berufsausbildung für Mädchen und schließlich gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben und der Berufswelt“ zutage. Hierfür stritt sie im Münchner Verein für Fraueninteressen e.V., dessen Mitglied sie bereits 1903 geworden war. Brachvogels Kritik an der „Rolle der Frau“ zielte Ritter zufolge allerdings weniger auf deren strukturelle Benachteiligung in der Gesellschaft oder auf misogyne Vorurteile und ein entsprechendes Verhalten bei Angehörigen des männlichen Geschlechts, sondern viel mehr auf die Frauen selber, die sie zu größerer Eigeninitiative und zu stärkerem Einsatz für die Gleichberechtigung anzuspornen suchte. Ritter zufolge verringerte Brachvogel ihr Engagement für Frauenrechte nach dem Ende des Kriegs ganz erheblich und „verlagerte“ ihre Aktivitäten „auf den 1913 von ihr selbst mitbegründeten ‚Münchner Schriftstellerinnen-Verein‘“. Dieser Befund verwundert insofern, als das feministische Engagement fast über das gesamte Spektrum der Frauenbewegung hinweg bereits mit Beginn des Ersten Weltkrieges einbrach. Feministinnen des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung beendeten es, um im Krieg die deutsche Seite auf ihre Weise nach Kräften zu unterstützen, für den radikalen Flügel um Anita Augspurg stand hingegen nunmehr das pazifistische Engagement für einen baldigen Frieden an erster Stelle.

Eine durchaus überzeugende Interpretation von Brachvogels Novelle Götter a.D. beschließt Ritters Untersuchung. Neben der Kurzgeschichte enthält der umfangreiche Anhang einen Stammbaum der Familie Brachvogels, eine Bibliografie der vielseitigen Schriftstellerin sowie ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis. Dass auch ein Personenregister nicht fehlt, versteht sich da fast schon von selbst.

Als „Zweck“ ihrer Arbeit nennt Ritter eingangs die „Rehabilitation dieser zu Unrecht vergessenen historischen Person“, die sie „wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen“ möchte. Es wäre ihr und Brachvogel zu wünschen, dass sich dieser Wunsch erfüllen möge. Allerdings ragt die Reichweite solcher Arbeiten im Allgemeinen kaum über die Grenzen einer kleinen, meist recht spezialisierten Fachgemeinde hinaus. Aber diese mit der vorliegenden Untersuchung bereichert zu haben, ist auch schon kein geringes Verdienst. Da sieht man der Autorin einige sprachliche Schwächen (so schwelgt sie allzu gerne in Superlativen) auch schon mal nach.

Titelbild

Judith Ritter: Die Münchner Schriftstellerin Carry Brachvogel. Literatin, Salondame, Frauenrechtlerin.
De Gruyter, Berlin 2016.
195 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783110490640

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