Es gibt Orte, die dir Angst machen

Gerhard Jägers Erstling „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ erzählt von der lebensverändernden Suche nach den verschütteten Geschichten

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichten, in denen ein Fremder in ein abgelegenes Bergdorf kommt und entweder seine neue Umwelt verändert oder von ihr verändert wird, gibt es von Thomas Bernhards Frost bis Lars von Triers Dogville viele. Viele – aber vielleicht nicht genug, mag sich Gerhard Jäger gedacht haben. Denn „Geschichten treiben die Menschen an“, wie es in seinem Roman heißt: „Entweder sie suchen Geschichten, oder sie rennen weg vor Geschichten. Das ist alles.“ Und so erzählt er uns in Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod eine solche Geschichte ein weiteres Mal.

Die Menschen, denen wir hier begegnen, bewegen sich zwischen diesen beiden Polen. Da gibt es die einen, die Geschichten suchen, wie den Amerikaner John Miller, der an seinem 80. Geburtstag nach Innsbruck reist, um im Tiroler Landesarchiv das geheimnisvolle Manuskript seines Cousins zu studieren. Oder eben diesen Cousin selber, Max Schreiber, der im Jahr 1950 als junger Mann in ein kleines Tiroler Bergdorf kam, um einer Zeitungsnotiz nachzugehen: Fast 100 Jahre zuvor soll in dem Dorf eine Frau in ihrem Haus verbrannt sein – der Verdacht auf Mord liegt nahe, aber zugleich verschüttet. Schreibers Arbeit, ebenso wie die Millers, ist das Aufdecken des von der Lawine der Zeit Verschütteten.

Und dann gibt es noch diejenigen, die vor Geschichten wegrennen – und oft genug sind das eben ein und dieselben Figuren. Max Schreiber ist nach einem gigantischen Lawinenunglück im Winter 1951 spurlos verschwunden. Er selber stand unter Mordverdacht. Und auch Miller selber hat 50 Jahre später seine ganz eigenen Gründe für eine Flucht aus den USA in die Alpen.

Sich einander nah und doch verschieden sind beide Protagonisten. Beide sind Fremde, an der Vergangenheit, will es scheinen, zuweilen mehr interessiert als an ihrem eigenen Leben. Der eine jedoch ist in eine unglückliche Liebe verstrickt, der andere trauert seiner verstorbenen Frau hinterher und wird dabei von seinen inneren Dämonen verfolgt. In dem namenlosen Alpendorf merkt Miller schnell, dass er ein Eindringling ist. Ein Städter, „ein Studierter“, der Fremde „in den viel zu feinen Schuhen, mit dem viel zu neuen Mantel, den beiden Koffern in der Hand.“ Und doch lässt er sich von seiner Spurensuche nicht abbringen, ebenso wenig wie Schreiber es zuvor getan hat.

Bei dessen Manuskript handelt es sich um einen Roman, der immer mehr zu einem Tagebuch wird, das dann Gedanken und Betrachtungen Platz macht und die Ängste – Unsicherheit, Eifersucht – seines Verfassers ausdrückt.

Es ist also alles vorhanden, um Jägers ersten Roman zu einem guten zu machen: die Geschichte einer zarten, doch unmöglichen Liebe, ein Rivale, Geschichten von Mord und Naturkatapsophen, alte Manuskripte, eine dunkle Vergangenheit und die archaische Atmospähre eines Tiroler Bergdorfes zu einer Zeit, als Touristen dort noch eine Seltenheit waren. Das Dorf: „hingeduckt an die schützenden Hänge, hatte es sich den Bergen über Generationen in die steinernen Leiber gefressen. Häuser, die an den Ufern der Kiesstraße wuchsen und die Menschen den fernen Augen der Straße entzogen.“ Nicht zuletzt gibt es da ein Rätsel, das den gesamten Plot durchzieht: Warum nimmt nun, 50 Jahre nach dem, was in dem kleinen Dorf geschah, ein alter Mann den weiten Weg aus Amerika auf sich, um die alten Geschichten wieder aufleben zu lassen? Noch dazu lesend, dem idealen Leser gleich, der sich mit jedem Satz, jeder Seite weiter in der Zeit zurückbegibt und vor seinem eigenen Leben flüchtet.

Ansonsten geschieht in Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod nicht viel. Von der Erwartung großer Spannung, die diese Aufzählung vielleicht hat entstehen lassen, sollte man sich frei machen. Das Versteckte, das Entzogene, dann das Verschüttete – die Symbolik, mit der Jäger spielt, ist weder neuartig noch aufregend. Erwarten kann man allerdings trotzdem – oder gerade aus diesem Grund – eine Erzählung, die mit einer ganz besonderen Sprache aufwartet: die Landschaft, die Gedanken der Protagonisten, das Verhalten der Dorfbewohner werden dem Leser in einer Art vermittelt, die dem Setting zugleich angemessen wie auch fremd ist. Sie versetzt uns in eine längst vergangene Welt und macht dadruch den Gegensatz zwischen den beiden Ebenen (auch des Leseerlebens) fühlbar.

Dieses Stück moderner Antiheimatliteratur ist auf der stilistischen Ebene verräterisch nostalgisch, verliebt in den eigenen Mystizismus. Das kann nerven, vor allem wenn man an manchen Stellen das Gefühl hat, es ginge dem Autor nur um die besonders originelle Wendung. Vor allem aber kann es hineinziehen in die Landschaft dieses Textes, einer beinahe erzwungenen Reise in abgelegene Gegenden der Literatur gleich.

Uns empfängt eine detailliert gemalte Winterlandschaft, so kühl und klar, so düster und abweisend wie die Bewohner des Dorfes selbst, hinter deren rätselhaftem Verhalten eine Spannung zu erahnen ist. Dies gelingt durch starke Emotionen und lebendige Bilder. Von Understatement oder Lakonie hält dieser Erzähler nichts. Der Rhythmus und die Wortwahl ziehen über Absätze hinweg die Aufmerksamkeit ganz auf sich.

Und doch will die Sprache hier nicht origineller sein als nötig, sondern nur originell gestrig. Sie ist aus der Zeit gefallen, erinnernd an Robert Schneiders Schlafes Bruder, doch weniger sperrig. Auch die Konstruktion des fish-out-of-water-Settings und der Vermittlung beider Zeitebenen durch ein wiederentdecktes Manuskript ist nichts, was noch nie dagewesen wäre. Doch das tut dem Genuss der Lektüre keinen Abbruch.

„Es gibt Momente“, heißt es im Roman, „Orte, die dir Angst machen. Du weißt, dass da etwas ist, das auf dich wartet, gesichtslos, namenlos, jenseits aller Begriffe, jenseits aller Konturen, und doch, es ist da, du spürst es, und du weißt nur eines: Es ist nichts Gutes.“

Dieses nicht Gute – das Dorf, die Berge, die Gefühle der Verzweiflung, der Sehnsucht und Nostalgie – ist es eigentlich, mit dem uns Jäger eine wohlige Angst macht und uns ein Gefühl der Ausweglosigkeit vermittelt, das bis zum überraschenden Ende durchhält. Fast hätte es der Krimihandlung gar nicht mehr bedurft, um aus Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod eine äußerst faszinierende Geschichte zu machen, die neugierig macht auf Gerhard Jägers nächsten Roman.

Titelbild

Gerhard Jäger: Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod. Roman.
Blessing Verlag, München 2016.
400 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783896675712

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