Der menschenfreundliche Kritiker

Zum Tod Joachim Kaisers eine Rede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises aus dem Jahr 1993

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Vorbemerkung der Redaktion: Am 11. Mai 2017 ist im Alter von 88 Jahren der Literatur-, Musik- und Theaterkritiker Joachim Kaiser gestorben. Wir erinnern aus diesem Anlass an die Laudatio Marcel Reich-Ranickis zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an Jochim Kaiser, die er am 31. Oktober 1993 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main gehalten hat. Joachim Kaiser, leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, war der erste, der mit diesem Preis ausgezeichnet wurde. Die Rede Reich-Ranickis ist zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20.11.1993 erschienen und wurde 1994 in seinem Buch „Die Anwälte der Literatur“ nachgedruckt. Die Reihe der in dem Buch zusammengestellten Porträts von 23 bedeutenden Kritikern der deutschen Literaturgeschichte beginnt mit Lessing und endet mit Jochim Kaiser. TA

Beliebt sind die Kritiker in keinem Land der Welt. Aber nirgends wurden sie so konsequent bekämpft und verketzert wie in Deutschland. Verwunderlich ist das leider nicht. Denn wo man die Dämmerung mehr schätzte als die Klarheit und wo man für das Geheimnisvolle mehr übrig hatte als für das Nüchterne, wo man Unterordnung und Ergebenheit forderte und Gehorsam und Gefolgschaft verherrlichte, da gab es keinen Platz für die Kritik, da empfand man sie als etwas Lästiges, man hielt sie für einen Störfaktor.

Allerdings war die deutsche Kritik, zumal die Kritik der Literatur, selten auf der Höhe ihrer Aufgabe. Niemand wußte das besser als die Kritiker selber. Denn der Selbstzweifel gehört zur Tradition dieses Metiers. Im Jahre 1826 meinte Ludwig Börne: „In Deutschland schreibt jeder, der die Hand zu nichts anderem gebraucht, und wer nicht schreiben kann, rezensiert.“ Ein fataler Teufelskreis war entstanden: Es war leicht, der Kritik als Institution die Anerkennung zu verweigern, weil sie in der Tat oft schlecht war. Und sie mußte oft schlecht sein, weil ihr die Anerkennung verweigert wurde. Jedenfalls standen die Kritiker in dem Ruf, Nörgler, Meckerer und Miesmacher zu sein, wenn nicht gar ekelhafte Parasiten.

So konnte es geschehen, daß das gesetzliche Verbot der Kritik im Dritten Reich, eine in der zivilisierten Welt beispiellose Maßnahme, zumindest von Teilen der deutschen Intelligenz ohne sonderliche Verwunderung hingenommen wurde. Als der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, im Herbst 1936, kurz nach den Olympischen Spielen in Berlin, die „Anordnung betreffend Kunstkritik“ verkündete, als er die denkwürdigen Worte sprach: „… untersage ich mit dem heutigen Tage endgültig die Weiterführung der Kunstkritik in der bisherigen Form“, da machte er keine Umstände und redete gleich von den Juden, von der „jüdischen Kunstüberfremdung“. Die Kunstkritik sei – erklärte Goebbels – weitgehend das Werk „jüdischer Literaten“. Zwei Namen nannte er: Heinrich Heine und Alfred Kerr.

Aber Goebbels hat die Juden überschätzt, er hat ihnen, ohne es zu wollen, geradezu geschmeichelt. Denn die genialen Gründer der deutschen Kritik, Lessing, Friedrich Schlegel und August Wilhelm Schlegel, waren nun doch keine Juden. Auch Deutschlands größter Philosoph, Immanuel Kant, der den Begriff „Kritik“ schon in den Titeln seiner Hauptwerke verwendete, war kein Jude.

Gleichwohl war der Reichsminister Goebbels, als er auf die außerordentliche Rolle der Juden in der Geschichte der deutschen Kritik verwies, gar nicht mal im Unrecht. Nur hätte er neben Heine auch Ludwig Börne nennen sollen und neben Alfred Kerr jedenfalls Walter Benjamin und Karl Kraus, Polgar und Tucholsky.

Die langjährige Unterdrückung und Ächtung der Kritik hatte immer schon viel mit dem deutschen Judenhaß zu tun. Geistig gesehen gelte dieser Haß, so Thomas Mann, „gar nicht den Juden oder nicht ihnen allein“, vielmehr breche in ihm der Drang durch nach der „Abschüttelung zivilisatorischer Bindungen, ohne die Deutschtum nicht Deutschtum wäre, sondern eine weltunbrauchbare Bärenhäuterei“.

Dies ist der Hintergrund, vor dem wir den Ludwig Börne-Preis zu sehen haben, eine Stiftung vornehmlich Frankfurter Bürger und Institutionen. Dreierlei hat dieser Preis im Sinne. Er soll an den Kritiker Ludwig Börne erinnern, an den scharfsinnigen Journalisten und wortmächtigen Schriftsteller, der mit grandiosen literarischen Mitteln für die Sache der Freiheit eintrat und sich der Dunkelheit widersetzte. Ferner soll alljährlich ein Autor geehrt werden, der im Bereich des Essays, der Kritik oder der Reportage Hervorragendes geleistet hat. Schließlich soll der Preis in aller Öffentlichkeit für die Institution der Kritik Partei ergreifen, er soll sie stützen und stärken.

Als erster wird mit dem Ludwig Börne-Preis Joachim Kaiser ausgezeichnet. Warum? Als 1929 Alfred Polgars Buch „Schwarz auf Weiß“ erschien, schrieb Kurt Tucholsky in der „Weltbühne“: „Schneider Polgar, wir arbeiten in derselben Innung – ich habe es nicht leicht, Ihnen eine Liebeserklärung zu machen.“ Schneidermeister Kaiser, auch wir beide arbeiten in derselben Innung. Doch habe ich nicht die geringsten Schwierigkeiten, Sie zu loben und zu rühmen. Ich schulde Ihnen viel Dank: Denn seit ich wieder in Deutschland bin, seit 35 Jahren, lese ich Ihre Kritiken, ihretwegen habe ich im Laufe dieser Zeit schon ein kleines Vermögen für die „Süddeutsche Zeitung“ ausgegeben. Aber die Investition hat sich gelohnt.

Ob Kaiser Rezensionen verfaßt oder Essays, Glossen oder Porträts – seine Artikel haben eine Eigenschaft, die man nicht hoch genug schätzen kann: Noch die flüchtigsten sind anregend. Sind sie also stets gut oder bedeutend? Natürlich nicht immer, nur fordern sie immer eine unmittelbare, eine sofortige Reaktion heraus, die freudige oder zögernde Zustimmung, den vorsichtigen oder entschiedenen Widerspruch. Nach ihrer Lektüre ist man vergnügt oder verärgert – gleichgültig ist man nie.

Schon zur Zeit der Romantik wurden deutsche Dichter gewarnt, nicht nur für Gelehrte zu dichten. Es sei das Unglück der deutschen Literatur, hat man mitunter im neunzehnten Jahrhundert geklagt, geschrieben zu werden von Literaten für Literaten. So gibt es auch nicht wenige Kritiker – übrigens in unseren Tagen weit häufiger als in den zwanziger Jahren –, die allem Anschein nach nicht für die Leser schreiben, sondern für andere Kritiker. Es ist eine alte Geschichte: Dem Kritiker, der viel gelesen wird, werfen die Kollegen, denen ein ähnliches Echo versagt bleibt, beinahe immer vor, er sei ja nur erfolgreich, weil er die Bedürfnisse des Publikums befriedige. Dahinter verbirgt sich meist nichts anderes als der bare Neid – und doch ist etwas Wahres dran. Nur sollte man klären, welche Bedürfnisse denn eigentlich gemeint seien.

In der Regel möchten die Leser, die Musikliebhaber oder Theaterbesucher erfahren, warum ein Buch, ein Konzert oder eine Vorstellung sie entzückt oder enttäuscht hat. Sind das nicht legitime Bedürfnisse? Und wer sollte sie befriedigen, wenn nicht der Kritiker? In Kaisers Arbeiten spürt man stets den pädagogischen Eros. Aber niemals bemüht er sich, dem Romancier oder dem Komponisten, dem Lyriker oder dem Regisseur auch nur das Geringste beizubringen. Nicht an sie sind seine Kritiken adressiert, sondern, schlicht gesagt, an die Käufer und die Abonnenten der Zeitung, für die er schreibt. Daher folgt er einem Rezept, das sich seit Luther bewährt und das von deutschen Kritikern leider nur ungern beherzigt wird: Wie einst der Rezensent Fontane, wie Alfred Kerr profitiert auch Kaiser ausgiebig von der Sprache des Alltags, von der Umgangssprache. Überdies vergißt er niemals Schopenhauers berühmte und so nötige Warnung: „Und doch ist nichts leichter, als so zu schreiben, daß kein Mensch es versteht.“ Kaiser will immer zunächst einmal und auf jeden Fall verstanden werden. Damit hängen manche seiner stilistischen Eigenarten zusammen.

So hat man ihm gelegentlich eine gewisse Neigung zur Redseligkeit verübelt – zu Unrecht. Es ist schon richtig: Er reiht gern drei oder vier Adjektiva aneinander, wo zwei, sollte man meinen, schon gereicht hätten. Bestimmte Eindrücke oder Urteile formuliert er zwei- oder dreimal, ja, er wiederholt sich, wenn auch immer mit anderen Worten. Er tut es aus einem einzigen Grund: um seinen Lesern zu helfen. Er macht es sich schwer, damit sie es nicht schwer haben. Kaiser ist, was man in Deutschland nicht häufig findet: ein menschenfreundlicher Kritiker.

Er, der die Sprache der Kritik, vor allem der Musikkritik, verfeinert und bereichert hat, ist sich dessen bewußt, daß man große künstlerische Leistungen, will man ihre Besonderheit erkennbar machen, auch mit außerordentlichen Worten charakterisieren darf und muß. Er meidet nicht die gehobene, die erhabene Diktion, zumal wenn er mit noblem Schwung das große Preislied anstimmt. Doch immer bleibt seine kritische Prosa klar und durchsichtig und so leicht, daß sie auf der Waage engstirniger Wissenschaftler wenig wiegen mag. Denn sie ahnen nicht einmal, wie gewichtig das Leichte sein kann.

Wo er tief beeindruckt, wo er ergriffen ist, da verzichtet Kaiser auf erlesene oder originelle Formulierungen und schreibt schlicht und schön, ja eben ergreifend. So über die dreizehnjährige Anne-Sophie Mutter. „Ich habe noch nie in meinem Leben einen Interpreten vergleichbaren Alters vergleichbar spielen gehört. Am schönsten: der Ton. Dunkel, groß, zart und rührend rein in jedem Sinn: die naive Beseeltheit. Wie sie im leisesten Pianissimo ansetzt und dann Musik aus der Stille holt … Wen das nicht rührt, der muß Ohren und ein Herz aus Stein haben.“

Man soll sein Licht, rät uns die Volksweisheit, nicht unter den Scheffel stellen. Schon wahr, nur gibt es Gegenstände und Situationen, wo der Kritiker gut beraten ist, jenem, über den er sich äußert, den Vortritt zu gönnen. Wenn Kaiser Sarah Kirsch interpretiert, dann ist ihm nicht daran gelegen, uns zu zeigen, wie schön er schreiben kann. Wohl aber zeigt er uns, wie schön Sarah Kirsch schreiben kann. Und wie in der Musik bisweilen das stärkste Ausdrucksmittel die Pause ist, so erreichen manche seiner Rezensionen ihren Höhepunkt in Feststellungen, die den stilistischen Ehrgeiz verpönen, so etwa: „Gidon Kremer scheint mir im Augenblick der interessanteste Geiger der Welt zu sein.“

Jeder Kritiker kennt diesen Kummer. Es ist besonders schwer, dem Zeitungsleser zu erklären, warum das Herrliche in der Kunst denn eigentlich herrlich sei. Gerade darin hat es Kaiser zur wahren Meisterschaft gebracht. Er hat auch den Umstand benannt, der das Loben und Preisen so außerordentlich schwer macht: Uns fehlt das hier dringend erforderliche Vokabular, denn die lobenden und preisenden Eigenschaftswörter sind zum großen Teil verbraucht, weil sie tagein, tagaus von der Werbung verwendet werden. Ja, die Werbung hat mittlerweile ganze Bereiche der deutschen Sprache abgenutzt und sogar zerstört. Seit ich über den Volkswagen lesen mußte: „Er läuft und läuft und läuft“, kann ich nicht mehr hören: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“.

Wie alle Kritiker gehört auch Kaiser zu den leidgeprüften Menschen. Und je mehr er an schlechter Literatur oder an schlechtem Theater leidet, desto mehr sehnt er sich nach jener Kunst, die er ohne Reue genießen könnte. Ziemt sich das – die Kunst genießen? Das ist eine nicht überflüssige, doch typisch deutsche Frage.

Viel zu sehr liebt Kaiser das Kulinarische im Leben, als daß er überhaupt auf die Idee kommen könnte, vom Kulinarischen in der Literatur oder auf der Bühne gering zu denken. Fragte man mich, welche dichterischen Werke ich für kulinarisch halte, ich zögerte nicht und antwortete: alle Dramen von Shakespeare, und das ist ja nicht der schlechteste Stückeschreiber, und alle Opern von Mozart, und den kann man auch nicht zu den minderwertigsten Komponisten zählen. Kurz und gut: Ich glaube, es ist das Unglück unserer Musik und unserer Literatur, daß sie zu wenig kulinarisch sind.

Kaiser braucht man in dieser Hinsicht nicht zu überzeugen: Er hat in seinen frühen Jahren aus einem Hobby einen Job gemacht und aus einer Passion eine Profession. Er ist ein Kritiker geworden und ein glühender Liebhaber der Musik und der Literatur geblieben. So kann man noch den schwächsten seiner Arbeiten den Spaß ablesen, den ihm sein Handwerk bereitet. Er ist ein leidenschaftlicher Genießer der Kunst, der es für eine seiner vornehmsten Aufgaben hält, seinen Lesern ebenfalls diesen Genuß zu ermöglichen.

Derartiges hat hierzulande und heutzutage schon Seltenheitswert. Ich meine das ernst. Denn manche unserer Kritiker sind durchaus gescheite und gebildete Menschen, sie arbeiten genau, gründlich und gewissenhaft. Wo hapert es also? Sie schreiben mürrisch und mißmutig, verstimmt und verdrossen, ohne Temperament und ohne Engagement. Sie kennen alle Symphonien von Bruckner und alle Stücke von Brecht. Aber wissen sie auch, daß Musik und Literatur Glück bescheren können? Ihnen fehlt – das Wort läßt sich nicht mehr umgehen – die Liebe. Kritik aber ohne Liebe und ohne Begeisterung ist schädlich, mehr noch: Es ist ein Widerspruch in sich selbst. Joachim Kaiser ist ein deutscher Kritiker und dennoch liebt er die Musik, dennoch liebt er die Literatur.

Von dieser unbeirrbaren Liebe, von dieser immer jugendlichen Begeisterung rühren Elan und Suggestivität seiner Aufsätze. Und sein enormes Wissen, Kaisers oft schon gerühmte Bildung? Nein, dies werden wir hier nicht preisen. Denn das versteht sich von selbst, dies bieten Kritiker von seinem Format gratis. Wichtiger ist, daß sich Kaiser von seiner Bildung nie behindern läßt, daß sie seine spontane Reaktion auf das künstlerische Werk niemals hemmt, niemals trübt.

In einem Porträt Leonard Bernsteins schreibt er: „Bei Bernstein erfährt die Welt, was Reinheit, was eine reine Flamme vermag. Darum liebt sie ihn. Er glaubt beschwörend. Er verkündet und belehrt hingerissen und eben deshalb auch hinreißend. Er ist ein Schenkender. Das Umarmen ist sein Gestus … Es ist eine Weltumarmung aus Ursprünglichkeit, aus zweiter Unmittelbarkeit.“ Diese Ursprünglichkeit, diese „zweite Unmittelbarkeit“ bildet in Kaisers Arbeiten ein heimliches Fundament. Wahrscheinlich ist das eines der Geheimnisse seines Erfolgs – daß er eine höhere Naivität zu erlangen und zu gewinnen vermochte, jene Naivität, die uns allen einst gegeben war und deren zweite, deren höhere Stufe letztlich ein Werk der Reife ist.

Über Mangel an Erfolg kann er sich nicht beschweren. Kollegen (und nicht nur jüngere) erweisen ihm ihre Reverenz, indem sie ihn reichlich zitieren, meist jedoch ohne Quellenangabe und ohne Anführungszeichen. Kaiser ist der am häufigsten plagiierte Musikkritiker Mitteleuropas. Sein Buch „Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten“ gehörte, bevor die Taschenbuchausgabe auf den Markt kam, zu den in den Seminar- und Hochschulbibliotheken besonders oft gestohlenen Büchern.

Aber zum Erfolg Kaisers trägt im gewissen Sinne auch die Tatsache bei, daß er mit den Poeten und den Musikern, mit den Schauspielern und Regisseuren in einem Boot sitzt. Er kann weder dichten noch komponieren. Und wir wissen es längst, daß die Romantiker, die doch die deutsche Kritik auf wunderbare Weise entwickelt und gefördert haben, auf falscher Fährte waren, als sie meinten, Poesie könne nur durch Poesie kritisiert werden, ein Kunsturteil müsse selber ein Kunstwerk sein.

Es trifft ja eher das Gegenteil zu: Wer dichten oder komponieren kann, ist in der Regel ein befangener Sachverständiger. Daher kann er der Kunst eines anderen selten und bloß in Grenzen gerecht werden. Nur ein einziges Beispiel will ich hier anführen: Über eine neue Symphonie konnte man im Wiener „Salonblatt“ 1886 lesen, in ihr herrsche „Nichtigkeit, Hohlheit und Duckmäuserei“, sie sei der Ausdruck der „intensivsten musikalischen Impotenz“. Es handelte sich um die vierte Symphonie von Johannes Brahms. Der die Kritik geschrieben hat, war nicht unmusikalisch. Es war Hugo Wolf.

Nein, der Kritiker muß nicht besser können, was er begutachtet. Aber es gibt ein Element, das ihn mit dem Dichter, mit dem Komponisten oder Regisseur verbinden sollte, verbinden muß. Musik und Literatur, Film und Theater – was ist das eigentlich? Doch nichts anderes, nicht mehr und auch nicht weniger als ein Spiel, ein tief ernstes und ganz heiteres, ein herrliches Spiel, ein Gleichnis vom menschlichen Streben und Leiden, von unserem Glück und Unglück.

An diesem Spiel sind auch die Kritiker beteiligt. Und vielleicht haben wir damit noch ein Geheimnis aufgedeckt, das die Qualität der Arbeit von Joachim Kaiser ausmacht. Er ist frei und stark genug, sich vom Spieltrieb leiten zu lassen. Er kennt das provozierende Wort Schillers, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt. So ist Kaiser beides zugleich und in einem: ein ordentlicher deutscher Professor und ein spielender und gelegentlich sogar ein verspielter Literat.

Aus dieser Liebe zum Spiel jeglicher Art entstand Kaisers besonnener und bedächtiger Feuilletonismus, wenn nicht gar seine fröhliche Wissenschaft. Ob das auch mit Kaisers Erziehung zu tun hat? In einem „ganz privaten Vorwort“ zu seinem Buch „Erlebte Musik“ schildert er das Milieu, in dem er aufgewachsen ist. Es bestätigt sich, was schon alle seine Artikel erkennen ließen: Dieser Kritiker ist ein Zögling, ein Produkt des gebildeten deutschen Bürgertums. Mehr noch: Er ist – man verzeihe das große Wort – des Bürgertums Testamentsvollstrecker. Im Bereich der Musik liegt dies auf der Hand: Während ihn die Komponisten der Gegenwart nicht sonderlich bewegen, gelten seine Liebe und seine Leidenschaft den Großen der Vergangenheit – die Bücher über Mozart, Beethoven und Richard Wagner beweisen es aufs schönste.

In der Literatur hingegen ist es umgekehrt: Kaiser verheimlicht nicht, daß ihm bei aller Bewunderung Shakespeares, Goethes oder Schillers das Neue doch wichtiger sei. Wer sich an seine mustergültige Analyse der „Maßnahme“ von Brecht erinnert, jene Analyse, die gleich im ersten Satz die Frage stellt, ob denn hier ein Mord verherrlicht werde, wer heute liest, was er einst über Ingeborg Bachmann schrieb, über Grass, Johnson oder Bernhard – dem kann nicht entgehen, daß Kaiser, gerade wenn er sich mit den Modernen beschäftigt, den besten Traditionen und Idealen verpflichtet ist. Eben hier bewährt er sich als Testamentsvollstrecker der Klassik und der Romantik.

Um das Verhältnis zur Tradition war es in Deutschland nie gut bestellt. Wer sich offen zu ihr bekannte, der mußte damit rechnen, daß man ihn als altmodisch oder gar als reaktionär abstempelte. Man fängt ja gern von neuem an und das ist noch nicht verwerflich. Bedenklich wird es erst da, wo man von neuem anfängt, weil man das Alte nicht kennt oder nicht kennen will. So wurde Deutschland zum exemplarischen Land der Traditionsbrüche. Wer aber wäre berufen, die Tradition zu verteidigen, wenn nicht die Kritiker? Kaiser hat sich nie um die Moden gekümmert, aber mitunter hat er, ohne es zu wollen, zur Entstehung von Moden beigetragen. Er ist nie dem Zeitgeist nachgelaufen, aber er hat bisweilen den Zeitgeist mitgeprägt. Dogmen, welcher Art auch immer, waren seine Sache nie. Höhnisch belehrte er seine Leser: „Glaubenssätze werden in anderen Fakultäten verkündet.“ Immer war er sicher, daß nicht nur das Alte den Sinn für das Neue schärft, sondern auch das Neue für das Alte.

So entdeckt er im Überlieferten das Moderne und entlarvt im Modernen nicht selten das Antiquierte. Nicht darum geht es ihm, das Alte unbedingt zu erhalten, vielmehr im Alten das Gute und Lebendige ausfindig zu machen, um es zu bewahren. Kaiser weiß wohl, daß nur jenes Traditionsbewußtsein nützlich ist, das aus dem Zweifel an dem Überlieferten hervorgeht.

Die Tradition und die Moderne, Gelehrsamkeit und Leichtigkeit, Leidenschaft und Spiel, Vernunft und Humor das alles kann Joachim Kaiser vereinen. Und dies mag der entscheidende Umstand sein, der seine Rolle im deutschen Kulturleben erklärt. Es ist eine außerordentliche, eine unvergleichliche Rolle.

Die erneute Veröffentlichung der Rede erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Andrew Ranicki.