Eine krause und tolle Geschichte der Perücke

Luigi Amara verfolgt in „Die Perücke“ die falsche Haarpracht durch den Lauf der Jahrhunderte

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren erschienen kulturgeschichtliche Abhandlungen zu allen nur vorstellbaren Themen, sie erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Allerdings ist dabei auffällig, dass die meisten von ihnen aus dem angelsächsischen und deutschen Raum kommen, einige aus Italien und Frankreich. Spanien und Lateinamerika hingegen glänzen durch Abwesenheit, könnte man behaupten.

Ohnehin ist sowohl der essayistische wie auch der kulturhistorische Beitrag der hispanischen Sprachwelt zu internationalen Debatten relativ bescheiden: Bekannt bei uns sind Ortega y Gasset, Octavio Paz und dann der polemische Essay Die offenen Adern Lateinamerikas von Eduardo Galeano. Liebhaber bzw. Kenner werden vielleicht noch Gilberto Freyre oder Maria Zambrano nennen, wichtige andere Namen sind nur der akademischen Welt vertraut – so die nicht übersetzten bedeutenden Kulturwissenschaftler Mariano Picón-Salas oder Pedro Henriquez Ureña. Die Liste lässt sich mühelos verlängern. Woran das liegen mag? Darüber haben sich Autoren, Professoren und Spezialisten immer wieder Gedanken gemacht und sind zu keinem überzeugenden Ergebnis gekommen. Enthält die essayistische Sprache zu viel Rhetorik, zu viele Metaphern? Vermisst man die „clarté de la langue“ oder den nüchternen angelsächsischen Diskurs?

Während diese Frage weiterhin ungelöst im Raum steht, legt nun der Mexikaner Luigi Amara, 1971 in Mexiko-Stadt geboren, Essayist, Dichter und Verleger, eine originelle, unterhaltsame und überaus gelehrte Kulturgeschichte der Perücke vor. In 32 kurzen Kapiteln untersucht er die entlegensten, aberwitzigen und hintergründigen wie auch die uns vertrauten Aspekte der falschen Pracht, zugleich erfährt der Leser viel über die materielle bzw. chemische Beschaffenheit des Haares – das auch nach dem Tode weiter wächst, wie Gabriel García Márquez es in seinem Roman Von der Liebe und anderen Dämonen geschildert hat.

Das Buch ist eine herrliche Miscellanea, wo immer man blättert, liest man sich gleich fest. Was wären die Kunst, der Karneval, das Kino ohne Perücken? Man denke z.B. an Cindy Sherman oder Andy Warhol. Manchmal schützt die Perücke, da sie das Gesicht verfremdet – Salman Rushdie erzählt von seiner nach der Fatwa notwendigen Verwandlung in der Autobiographie Joseph Anton. André Agassi trug lange einen falschen Haarschmuck, so als wolle er wie Samson Kraft durch prächtige Haare beweisen. Wir kennen kein Bild von Bach oder anderen Musikern seiner Zeit ohne Perücke. Könige, Edelleute, Theaterschauspieler, Philosophen… Casanova ohne Pertücken? Unvorstellbar! Alle großen Geister und ehrenwerten Personen trugen sie, es gab richtige Moden, die sich in schöner Regelmäßigkeit änderten. Die Nymphomanin Messalina bediente sich ihrer mit besonderem Geschick und nahm sich unvorstellbare Freiheiten heraus: Mit einer Vielzahl von Perücken wurde sie jeden Abend zu einer „Wölfin der Nacht“.

Viele Richter müssen auch heute noch ihr Urteil in der traditionellen Verkleidung verkünden. Kranke suchen bei ihr Hilfe nach einer Chemotherapie, Glatzköpfige einen anderen Status. Die Industrie bemüht sich, keine merkbaren Unterschiede mehr zwischen Fake und Original aufkommen zu lassen. Wo der Nachschub an echtem Haar herkommt? Eine oft düstere Geschichte.

Der Leser entdeckt in diesen amüsanten und doch lehrreichen Texten überraschende philosophische Reflexionen, er staunt über die ausführlichen Recherchen. Luzide Ironie oder beißender Humor machen die Lektüre zu einem großen Vergnügen.  Der Autor spaziert mit der Perücke durch die Jahrhunderte – und nimmt uns auf dieser unterhaltsamen Wanderung mit. Heute denkt der Leser allerdings unwillkürlich auch an die zur Zeit im Scheinwerferlicht flatternde Haarpracht (wie auch immer sie beschaffen sein mag) eines mächtigen Präsidenten…

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Luigi Amara: Die Perücke.
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen.
Berenberg Verlag, Berlin 2017.
224 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334156

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