Die Insel

Idylle und Desaster

Von Hans Richard BrittnacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Richard Brittnacher

Die vielleicht traurigste, ganz gewiss abgründigste Einführung in den Gegenstand liefert D. H. Lawrences Erzählung Der Mann, der Inseln liebte (1927).[1] Selbst auf einer Insel geboren, will der Held dieser Erzählung eine eigene Insel besitzen – nicht so sehr, weil er alleine auf ihr wohnen, als weil er sie zu seiner Welt machen will. So kauft er eine Insel, und eine zweite kleine Nachbarinsel gleich dazu, um ungestört, nur in Gesellschaft von etwas Personal, seinen Inseltraum zu verwirklichen. Aber das gutsherrliche Inselleben verzehrt sein Vermögen, also stößt er sie nach einigen Jahren ab und erwirbt eine kleinere Insel, die er nur noch mit einem Kernbestand von fünf der vormaligen Bediensteten bewohnt. Hier lebt er gleichförmig im Rhythmus der Gezeiten dahin, nur die Affäre mit der jungen Flora bringt Keime der Unruhe und erotischer Irritation in sein beschauliches Leben. Im Anblick des Ozeans, Missklang im Herzen, gesteht er sich schließlich sein Desinteresse an der Affäre ein, verlässt Flora und sucht sich eine dritte Insel, eine noch kleinere, nur eine Erhebung inmitten des Meeres, die er mit sechs Schafen und einer Katze bewohnt – dass die Schafe auf der Weide stehen, blöken und ihn mit ihren gelben Augen ansehen, erscheint ihm anstößig und zudringlich: „Was für ein elender Gott hatte nur all dies erschaffen, die Tiere und die übelriechenden Menschen.“[2] Auch der Schafe entledigt er sich, die Zeit geht ihm verloren, die Katze verschwindet. Der Mann verliert alle sozialen Konturen, wird selbst zu jener gleichmütigen Natur, die ihn mit dörrender Sonne und feuchter Kälte quält: „Es war, als schwände alles Leben dahin (…). ‚Bald‘, so sagte er sich, ‚wird alles Leben fort sein. Nirgendwo in der ganzen Gegend wird etwas Lebendiges mehr sein‘. Bei diesem Gedanken spürte er eine grausame Genugtuung.“[3] So lebt er dahin, ein amorphes Wesen, dem der Wind und die Gezeiten alle sozialen Konturen abgeschliffen haben: Er spürte, „daß der Raum langsam von ihm Besitz ergriff, das graue Meer und die Berührung mit seiner flutenumspülten Insel. Keine Berührung sonst, nichts Menschliches vor allem, das ihn berühren und ihm Grauen einflößen konnte, Nichts als Raum, neblig, zwielichtig, vom Meer umfangen: das war das tägliche Brot für seine Seele.“[4]

Wer Inseln so sehr liebt wie der Mann, dem der Autor seine Erzählung gewidmet hat, hat jedes Interesse an einer sozialen Identität verloren. Eher beiläufig und nur einmal erfährt der Leser, dass der Mann Cathcart heißt, was ein bisschen nach „cathartic“ klingt, vielleicht, weil auch er sich von allem reinigt, was ihm die Rückkehr in den Zustand der Elemente verwehrt. Am Ende ist der Rückzug gelungen, der rastlose Held zum Stillstand gekommen, eingegangen in eine am Menschen desinteressierte Natur.

Dem einen, wie Mr. Cathcart, sind Inseln das Paradies, dem anderen die Hölle. Auf Elysion, die Insel des Seligen, werden im griechischen Mythos jene Helden entrückt, denen die Götter Unsterblichkeit verliehen haben. An den Gestaden der Insel Kythera steigt Aphrodite, die Schönste der griechischen Göttinnen, geboren aus dem Schaum des Meeres, an Land und errichtet ein Reich der freien Liebe, zu dessen Minnegärten es noch die galanten jungen Kavaliere und ihre lebenslustigen Begleiterinnen auf Antoine Watteaus berühmtem Bild Pèlerinage à l’île de Cythère (Die Einschiffung nach Kythera, 1710) unwiderstehlich hinzieht. Die mit ihrer Unschuld bezaubernde Kalypso und die mit ihrem Zauber betörende Circe verlocken den Heimkehrer Odysseus zum Verweilen auf ihren Inseln.

Andererseits können Inseln auch Orte der Verdammnis und Verlassenheit sein: Auf Lemnos wurde der von einer Schlange gebissene Philoktet ausgesetzt, weil die nach Troja strebenden, kriegswilligen Griechen seine jämmerlichen Schreie nicht mehr hören und den Gestank seiner Wunden nicht länger ertragen mochten; Napoleon wurde erst nach Elba, und dann, nachdem sein unruhiger militärischer Geist sich auch dort nicht disziplinieren ließ, nach Helena verbannt, eine unzugängliche Insel aus vulkanischem Gestein im Südatlantik, wo der Feldherr und vormalige Kaiser bekannte, sich zu Tode zu langweilen. Er war nicht der letzte Gefangene hier – nach ihm wurden auch Zulu-Häuptlinge, Kriegsgefangene aus dem Burenkrieg und sogar der Sultan von Sansibar interniert. Dem aber gelang es, den Harem von der Insel seiner Herkunft in das Exil mitzunehmen und so den öden Ort seiner Verbannung wieder zu einem mythischen Kythera zu verzaubern.

Zwar haben Nationen im Interesse politischer Expansion die Tendenz, herrenlose oder von anderen beanspruchte Inseln zu annektieren (wie etwa die Briten, die 1982 die 14.000 Kilometer weit entfernten, von den Argentiniern beanspruchten Falklandinseln militärisch zurückeroberten), aber oft bleiben die eingemeindeten Inseln feindliches Territorium – sogar in den Augen ihrer Eroberer oder Entdecker, die den eben noch triumphal besetzten Raum umgehend zum Verbannungsort bestimmen, an dem politische Gegner kalt- oder kriminelle Elemente sichergestellt sind: aus den Augen, aus dem Sinn. Berüchtigte Lager für Gefangene waren die Norfolkinseln im pazifischen Ozean oder die Teufelsinsel in Französisch Guayana, wo der des Totschlags angeklagte Schriftsteller Henri Charriere, genannt Papillon, Jahrzehnte verbrachte und immer wieder zu fliehen versuchte, bis er schließlich begnadigt wurde.[5] Die fiktive Insel Shutter Island in einem Roman von Dennis Lehane, den Martin Scorsese verfilmt hat[6], beherbergt eine gleichsam von der Natur aus ausbruchsichere Anstalt für geistesgestörte Kriminelle, an denen die Inselärzte und -wärter, fernab von der Rechtssicherheit, die das Festland garantiert, medizinische und psychologische Experimente durchführen.[7] Dass dem Helden die Gewissheit der Orientierung abhandenkommt, dass Gegenwart und Vergangenheit, Richtig und Falsch, Krank und Gesund sich gleichsam seitenverkehrt spiegeln, führt zu einer paranoiden Verzerrung der Wahrnehmung, die in den natürlichen Gegebenheiten der Insel ihre Voraussetzung und Begünstigung findet. Die Gefangenen von Shutter Island können ihrem Kerker so wenig entkommen wie die Gefangenen auf der Insel Alcatraz in der Bucht von San Francisco, einer wirklichen Insel, die jahrelang ein wirkliches, als absolut ausbruchsicher geltendes Gefängnis beherbergte – und zum Schauplatz von Filmen wurde, etwa über die eigentümliche Karriere eines Gewaltverbrechers zum Ornithologen (Birdman of Alcatraz[8]) oder über Ausbrüche, die im Film, anders als in der Wirklichkeit, erfolgreich verliefen (Escape from Alcatraz[9]).

Andererseits aber können Inseln auch zum Ort werden, an dem selbst die Verzweifelten ihr Glück machen wie Edmond Dantès in Alexandre Dumas’ Der Graf von Monte Christo (1844-46), der hier ein unermessliches Vermögen findet, mit dem er seine Rache finanzieren kann. Überhaupt werden Schätze, diesen Eindruck vermittelt die Literatur, bevorzugt auf Inseln vergraben oder versteckt – deren Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit gilt als zusätzlicher Sicherheitsfaktor und macht die Jagd nach dem Schatz zu einem exotischen Abenteuer. Robert Louis Stevensons The Treasure Island (Die Schatzinsel,1881) mit seiner Geschichte von dem Schiffsjungen Jim und dem einbeinigen Long John Silver ist nur das berühmteste, nicht das einzige Beispiel, das den Herzschlag jugendlicher Leser beschleunigte.

Dass Inseln so ambivalent wahrgenommen werden, verdankt sich ihrer Geografie: Wir unterscheiden kontinentale und ozeanische Inseln. Kontinentale Inseln gehören ursprünglich zum Festland, wurden im Laufe der Erdgeschichte durch tektonische Bewegungen abgetrennt und sind vom Festland weggedriftet, während ozeanische Inseln Erhebungen des Meerbodens über die Wasseroberfläche hinaus bezeichnen. Diese beiden Arten von Inseln, so der französische Philosoph Gilles Deleuze, zeugen vom tiefen Gegensatz zwischen dem Ozean und der Erde: „Gestehen wir ein, dass im Allgemeinen die Elemente einander verabscheuen, dass ihnen voreinander graut.“[10] Auf den Inseln liegen die Elemente in erbitterter Feindseligkeit miteinander, sie sind, so gesehen, der prekäre Schauplatz von unheilbaren Spannungen, eine mühsam gebändigte, beständig gefährdete Koexistenz verfeindeter Gewalten. Oft genug tragen die Menschen, die hier leben, die Feindschaft der Elemente als soziales oder Psychodrama aus. Dass sie zudem auf allen Seiten vom Wasser umschlossen sind, lässt die Unterscheidung zwischen Landratten und Seebären, oder, in Carl Schmitts etwas parfümierter Terminologie, zwischen Seeschäumern und Landtretern, ihre Schärfe verlieren.[11] Jeder Insulaner, selbst wenn er im Inneren einer Insel wohnt, ist eigentlich ein Küstenbewohner, der sein Leben synchron zu den Gezeiten des Ozeans führt. Inseln gehören der Natur eher an als der Geschichte, was das eigentümliche Zeitmaß vorgibt, das hier herrscht. Der gleichförmige Kreislauf der Jahreszeiten bestimmt ein Leben, das jahrhundertelang bewährten und geprägten Rhythmen folgt. Tempo, Fortschritt und Technik haben ihren Platz eher auf dem Festland. Die inselspezifischen Abenteuer, Konflikte sowie Lebens- und Beziehungskrisen haben oft mit Zeitmaßen zu tun, die unverträglich sind, weil auf den Inseln die Uhren anders gehen und die Herzen anders schlagen:[12] Die Menschen altern an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die Insel, mag sie auch nahe sein, ist der Planet einer anderen Galaxis. Dem Zauber und Zeitgeheimnis der Inseln hat sich auch eine der neuen, viel gerühmten Fernsehserien verschrieben. Lost[13], mehrfach ausgezeichnet, spann in sechs Staffeln und 121 Episoden ein so engmaschiges Inselgarn um die auf einer Insel geretteten Überlebenden eines Flugzeugabsturzes, dass eine raffinierte Entwirrung zuletzt nicht mehr möglich war und nur ein gordischer Schwertstreich den Knoten zu durchschlagen vermochte.[14]

Das Leben auf der Insel steht nicht nur im Einklang mit der Natur, mit dem Meer und seinen Gezeiten, es trotzt auch dem Leben des Festlandes und seiner zivilisierten Überheblichkeit, seinem technischen Fortschritt und den Zeremonien der sozialen Etikette. In seiner großen Philippika gegen den Sündenfall der modernen Welt hat sich Jean-Jacques Rousseau, im 18. Jahrhundert in ganz Europa bekannt wie kein zweiter, für ein von der Zivilisation unverdorbenes Leben ausgesprochen. Das ihm zugeschriebene „Zurück zur Natur“ klingt wie ein Aufruf, sich zu großer Fahrt nach fernen Eilanden zu rüsten. Diese Fantasien freilich unterstellen dem Theoretiker des contrat social die theoretische Naivität seiner Adepten – besser als sie wusste Rousseau um die Unumkehrbarkeit des einmal eingeschlagenen Zivilisationsprozesses. Aber sein kühler Blick auf die Deformationen der menschlichen Natur schützte ihn nicht vor landschaftsästhetischen Banalisierungen, die ihm, dem Vorbild seiner letzten Ruhestätte in Ermenonville folgend, bevorzugt auf Teichinseln in Parkanlagen ein Denkmal setzen.[15] Gleichwohl hat das Thema des Misanthropen, der sich angewidert von den Menschen zurückgezogen hat, seine inselspezifische Tradition: Grollende Eremiten, die das Getriebe der Welt verabscheuen, ob sie nun Bassa Selim heißen wie in Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) oder Prospero wie in Shakespeares Tempest (1610/11), haben Inseln zu ihren Rückzugsorten gewählt.

Der hermetische Status der Inseln kann jedoch auch nach innen als Katalysator wirken und sozialdynamische Prozesse erheblich beschleunigen: Wie in einem alchimistischen Tiegel entwickeln sich hier, abgeschirmt von Einflüssen der Außenwelt, menschliche Dramen von archaischer Kraft. Nicht zufällig sind große ethnologische Arbeiten wie die von Bronislaw Malinowski oder Clifford Geertz der Beobachtung indigener Volksgruppen auf Inseln abgewonnen worden. Es ist eine Insel, wo Robinson Crusoe in Daniel Defoes Roman 1719[16]  mit der Archaik des Kannibalismus konfrontiert wird, und hier, abgeschieden von aller Zivilisation, entwickelt sich zwischen ihm und dem von ihm geretteten und getauften Freitag die koloniale Variante der Herr-Knecht-Dialektik in geradezu kristalliner Reinheit. In einer modernen Robinsonade, in William Goldings Lord of the Flies (1954[17]) treibt die von keiner zivilisatorischen Norm mehr eingehegte düstere condition humaine eine Gruppe auf einer Insel gestrandeter Jugendlicher zu Gewaltexzessen. In Liebesgeschichten, die auf Inseln spielen, geht es zuverlässig um alles oder nichts: Die Insel beschenkt die Liebenden mit dem Segen ihrer zivilisationsfernen Schönheit wie mit dem Fluch ihrer elementaren Naturgewalt. Das fand seine trivialen Momente in einer ganzen Reihe von Filmen, beginnend mit The Blue Lagoon[18] über die psychosexuellen Reifeprozesse eines Teenagerpärchens, das im Inselparadies auch ohne göttliches Verbot die erste Liebe und ihre Kalamitäten entdeckt, und setzt sich fort in Filmen, in denen Erwachsene einsehen müssen, dass ihre Liebe nur eine Täuschung, ihr Leben eine Lüge ist – wie Camille (Brigitte Bardot) in Jean-Luc Godards Le mépris[19] nach einem gleichnamigen Roman Alberto Moravias. Die fast unwirkliche Schönheit Capris, die strahlende Sonne wirft ihr erbarmungsloses Licht auf die kleinlichen opportunistischen Manöver Paul Javals (Michel Piccoli), sodass zuletzt Verachtung die einzig angemessene Empfindung ist.[20]

Die zentrale Definition der Insel – jeder Insel! – ist ihre Abgelegenheit. Dem Nichtschwimmer ist sogar die kleine Hallig, mag sie auch nur einen Steinwurf vom Festland entfernt sein, unerreichbar. Vollends unzugänglich sind die abgelegenen Eilande in der unermesslichen Weite des Ozeans, oft noch von der Kartografie gar nicht erfasste oder falsch eingezeichnete tropische Paradiese mit blauen Lagunen jenseits der großen Schifffahrtsrouten. Noch mehr entziehen sich die Atolle dem Zugriff, die korallenbewehrten Juwelen der Ozeane, die sich kaum über den Meeresspiegel erheben und mit dem Abschmelzen der Pole zu verschwinden drohen. Die abgelegenste unter den bewohnten Inseln – mit weniger als 300 Einwohnern – trägt den Namen Tristan da Cunha, sie ist benannt nach einem portugiesischen Admiral, der sie zwar entdeckte, ihrer Unzugänglichkeit wegen aber nicht zu betreten vermochte und daher mit dem Schuss aus einer Kanone in Besitz nahm. Die nur 270 Bewohner der Insel mussten 1961 wegen eines Vulkanausbruchs ins Exil nach England, kehrten aber nach zwei Jahren wieder auf das sturmzerzauste Eiland zurück. Raul Schrott hat dem entlegenen Ort, dem Inbegriff von Einsamkeit und Ferne, einen großen Roman gewidmet, Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde (2003), in dem sich vier Geschichten über fatale Leidenschaften, Obsessionen und Fernweh zu einem großen Pastiche der unerwiderten und unerfüllten Liebe verbinden, dem nicht zufällig die angelegene Insel als Schauplatz und das mittelalterliche Epos Tristan und Isolde als Referenz- und Subtext dient.

Der Ferne und Abgelegenheit verdankt sich die Ambivalenz von Inseln in der Wahrnehmung der Künste: Denn es ist fast immer der Blick aus der Ferne, vom Festland, der die Insel verzaubert zum Ort einer anderen Ordnung, wo alles anders ist, besser, schöner, freizügiger, wo die Sonne länger scheint, das Meer sanfter plätschert, die Menschen liebenswürdiger sind. Die großen Aussteigerromane des 18. Jahrhunderts wie Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731-43) haben wie die staatsphilosophischen Utopien der frühen Neuzeit, etwa Thomas Morus’ Utopia (1516), ihre gewaltfreien, paradiesischen Gemeinschaften auf fernen Inseln siedeln lassen. Aber der Blick aus der Ferne ist verschwommen und übersieht die Realitäten: Pitcairn, wo die Nachfahren von Fletcher Christian nach der Meuterei auf der Bounty[21] Zuflucht gefunden haben, ist vor einigen Jahren in die Schlagzeilen geraten, weil die Nachfahren der Meuterer systematisch Missbrauch mit ihren Kindern betrieben haben und sich auf das Gewohnheitsrecht ihrer Vorfahren beriefen, die mit blutjungen Südseemädchen sexuelle Beziehungen unterhielten. Das bürgerliche Recht des Festlandes hatte die Insel nie erreicht.

Freilich ist die Singularität der Insel, ihre abgeschlossene Einzigkeit inmitten des Ozeans, nur eine Seite der Insel – eben jene, die Isolationsfantasien bedient und begünstigt. In jüngerer Zeit wurde jedoch auch auf die Tendenz von Inseln zur Archipelbildung hingewiesen.[22] Sie ist nicht nur geologisch nachweisbar, sondern begünstigt auch ein territorialpolitisch innovatives Konzept, weil die zum Archipel zusammengefasste Inselgruppe ihre Souveränitätsrechte auf die Gewässer zwischen den Inseln ausdehnen darf – eine Integrations- oder Allianzfantasie also, die dem Isolationalismus der Inseln entgegenstrebt. Einer der eigenwilligsten Regisseure der letzten Jahre, Wes Anderson, hat ein augenscheinliches Faible für Inseln, die selbst dort, wo sie nicht unmittelbar Schauplatz seiner Filme sind, als Subtexte ihre Spuren hinterlassen haben. Inseln entsprechen in ihrer Einsamkeit der Vorliebe des Regisseurs für Außenseiter, Sonderlinge, kauzige Figuren am Rande der Misanthropie, die auf einsamen Inseln ihre natürliche Heimat haben. Sowenig die Außenseiter als die schwarzen Schafe auch einen Platz in einer Familie finden können, gibt es doch auch in Andersons Filmen Fantasien vom Zusammenschluss der Außenseiter.[23]

Wo der eine mit der Insel Fantasien der Verbannung, der Leere, trostloser Einsamkeit und existenzieller Leere verbindet, sieht der andere die Insel als Locus amoenus, als glücksspendenden Ort, von dem er sich Zuflucht, Muße, Kontemplation und Beschaulichkeit, Konzentration auf das Wesentliche erhoffen darf. So wird sie als Strafe oder als Prüfung, als trauerreiches Exil oder als hoffnungsspendendes Asyl erlebt. In Shakespeares Tempest, der nachgerade exemplarischen Inseldichtung, ist die Insel alles zugleich: ein Liebesparadies für Miranda und Ferdinand, ein wüstes Exil für die Schiffbrüchigen Antonio und Sebastian, ein Zauberreich für Prospero, und für Caliban ist sie die Erinnerung an den verlorenen Ursprung. Die seit der Antike geläufige Vorstellung von den Inseln als Jenseitsreich – man denke an Böcklins zypressenbestandene Toteninsel (1880) – reproduziert diese Ambivalenz: unwiderrufliche Trennung, aber auch Erlösung von der Mühsal des Lebens. Auf Avalon, die „Insel der Gesegneten“, wird der todwunde Artus entrückt, hier verweilt Gregorius (bei Hartmann von Aue, 1186/90, und als Der Erwählte, 1951, bei Thomas Mann) in einem Zustand der Buße, und Pierre de Ronsard erklärt in seinen Les Isles fortunées (1560) die idyllische Insel zum Zufluchtsort geplagter Poeten. Heinrich Böll hat in Achille Island, der Insel vor Irlands Küste, alles das gefunden, was ihm im Wirtschaftswunderland Deutschland fehlte[24]: die Unverbrauchtheit eines urtümlichen Lebens, zeitlose Geschichten, eine mythische Armut – und hat seine Faszination sogar in einem Film, Irland und seine Kinder[25], dokumentiert, der freilich in Irland ähnlich zornig aufgenommen wurde wie Bölls gesellschaftskritische Literatur in der vom Wiederaufbau besessenen Bundesrepublik. Ganz der utopischen Kraft des Fernwehs nach der Insel vertraut sich Aka Morchiladze an, der derzeit wohl bedeutendste Erzähler Georgiens[26]: In 16 bunten Heften, geschnürt zu einem kleinen Reisepaket, fantasiert der Autor über drei imaginäre Inseln im Schwarzen Meer vor der Küste Georgiens, bewohnt von skurrilen, gelehrten und streitbaren Insulanern. Ihre Träume, Abhandlungen und Liebesgeschichten kann sich der Leser nach seinen Vorlieben zusammensetzen, wobei die Reihenfolge der gelesenen Hefte immer neue Inselwelten entstehen lässt.

Dem Blick vom Festland, aus sicherer Position, zeigen Inseln auch ihre unheimliche Seite, werden zum Ort schauerlicher Geheimnisse und schrecklicher oder wunderbarer Lebewesen. Die Hoffärtigkeit der glücklichen und reichen Inselbewohner auf Atlantis oder Vineta hat ihren Untergang herausgefordert. Jetzt sind sie Inseln auf dem Grund des Meeres, denen der Mythos nur mehr alle hundert oder tausend Jahre ein eintägiges Weiterleben beschert. In dem von Daedalos kunstreich ersonnenen Labyrinth auf Kreta haust der jungfrauenverschlingende Minotauros, auf einer anderen Zauberinsel an der Westküste Italiens stimmen die Sirenen ihren betörenden Gesang an. Im grauen Norden, wo das Wasser kalt und zu schwer für die Ruder ist, liegt das mythische Thule, die Heimat der Greife. Auf fernen Eilanden leben die Brudervölker der Erdrandsiedler, Wundervölker wie Zyklopen und Gliederfüßler; auf einer unbekannten Insel entdeckt die Fantasie der Kolportage urtümliche Bestien wie den Riesenaffen King Kong[27] und die Wissenschaft Echsen aus der Vorzeit wie auf den Galapagosinseln, und natürlich ließ Steven Spielberg seine Dinosaurier die Zäune von Jurassic Park[28]  auf einer Insel niedertrampeln. Auch die Geschöpfe auf der Insel des Dr. Moreau (1896) in H. G. Wells Roman, der gleichfalls mehrfach verfilmt wurde[29]  können nur fern des Festlandes gedeihen – so wie auch schon der Schweizer Baron Victor Frankenstein auf den sturmumtosten Orknayinseln an der frevelhaften Schöpfung einer künstlichen Eva arbeitete. Ein Bruder dieser dämonischen Wissenschaftler ist der russische Graf Zaroff, ein „Genie des Bösen“, der auf seiner abgelegenen Insel auf Schiffbrüchige, die sich hierhin gerettet haben, nach allen Regeln des Waidhandwerks Menschenjagden veranstaltet.[30]

Die Liebe zu den Inseln, zu ihrer Abgelegenheit, wird Nosophilie genannt, wie eine schwere psychische Störung, die sie gelegentlich auch ist: Nicht nur die frustrierten Schwärmer und Aussteiger des 18. Jahrhunderts sehnten sich nach abgeschiedenen Eilanden mit ewigem Sonnenschein und glücklichen Menschen, auch Nudisten und andere Menschen mit abweichenden Lebensvorstellungen zog es zu Beginn des letzten Jahrhunderts nach Capri; dass Goethe auf der italienischen Reise vor Capri Schiffbruch erlitt und deshalb die Insel mied, hat zu spezifisch romantischen, klassischen Implikationen gegenüber eher aufsässigen Inbesitznahmen der Insel geführt,[31] an deren Beginn die Entdeckung der Blauen Grotte durch den Maler und Literaten August Kopisch stand und die sich in der Entdeckung der Insel als Paradies der Sub- und Gegenkultur fortsetzte. Romantische Dichter, Lebensreformer, Sonnenhungrige, Homosexuelle und Industrielle, August Graf von Platen und Theodor Däubler, Friedrich Alfred Krupp und Maxim Gorki, Wilhelm Diefenbach und Curzio Malaparte fanden in Capri jene exquisiten Freuden, die schon den berüchtigten Kaiser Tiberius an der Insel entzückten, aber erlebten hier auch den Katzenjammer der Übersättigten. Zu den Sehenswürdigkeiten Capris gehört auch sein Friedhof.

Ein fernes, exotisches Capri ist die Insel Kabakon, von der Christian Krachts Roman Imperium (2012) erzählt, ein Ort für die Selbstfindung, den Lebenstraum und schließlich den Drop-out des Aussteigers August Engelhardt; den kommunistischen und jüdischen Widerständlern in Alfred Anderschs Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957[32]) halfen die Fantasien vom exotischen Sansibar, ein Leben in der Repression zu ertragen. Autoren wie Gerhart Hauptmann und Ringelnatz hatten auf Hiddensee, Paul Gauguin, Robert Louis Stevenson und Jacques Brel auf Südseeinseln ihren Zweitwohnsitz. In Arno Schmidts Gelehrtenrepublik (1957) dient nach dem Atomkrieg eine schwimmende Insel Künstlern und Wissenschaftlern als Refugium. Einen Vater-Sohn-Konflikt von wahrlich mythischem Format haben Hans und Otto Gross auf einigen der seinerzeit noch zur Donaumonarchie gehörigen kroatischen Inseln ausgetragen[33]: Hans Gross, der als einer der Väter der modernen Kriminologie gilt, wollte auf den unzugänglichen Inseln Zuchthäuser errichten, um Delinquenten unter Kontrolle zu halten und zu bestrafen, sein Sohn Otto Gross, einer der Pioniere der Psychoanalyse, aber auch des Anarchismus, ein Kokainsüchtiger und wohl auch Giftmörder, wollte die Sträflingsinseln des Vaters in Liebesgrotten verwandeln, um im Geiste der Lebensreform freie Sexualität und ein selbstbestimmtes Leben miteinander zu verbinden. In den jugoslawischen Gulags haben die Fantasien von Hans Gross ihre Übersteigerung, im FKK-Tourismus die seines Sohnes ihre Ermäßigung gefunden.

Für kindliche Fantasien schließlich wird die abgelegene Insel zum Traum einer von der Bevormundung der Erwachsenen freigestellten Welt, so wie Lummerland für Jim Knopf (in den Romanen von Michael Ende) oder Neverland für Peter Pan (im Drama von James M. Barrie, 1904). Wie zählebig solche Fantasien einer nur von der Majestät des tagträumenden Ich regierten Welt sind, zeigt Michael Jacksons Taufe seiner kalifornischen Ranch, die dem Traum einer ewig andauernden Kindheit mit dem Namen einer Insel ein Denkmal setzte.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags edition text+kritik das geringfügig veränderte Vorwort aus Hans Richard Brittnacher (Hg.): Inseln. München 2017.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

[1] D. H. Lawrence, „Der Mann, der Inseln liebte“, in: Ders., Gesammelte Erzählungen und Kurzromane, Bd. 2, hg. von Daniel Keel und Daniel Kampa, Zürich 2007, S. 360-398.
[2] Ebd., S. 391.
[3] Ebd., S. 392.
[4] Ebd., S. 397.
[5] Papillon, USA/F 1973, R: Franklin J. Schaffner.
[6] Shutter Island, USA 2010.
[7] Dies führt der Beitrag des Sammelbandes von Jenny Pötzsche aus.
[8] Birdman of Alcatraz / Der Gefangene von Alcatraz, USA 1962, R: John Frankenheimer.
[9] Escape from Alcatraz/ Flucht von Alcatraz, USA 1979, R: Don Siegel. Zu diesen und zu anderen Filmen, die Alcatraz, dem „Felsen der Verzweiflung“, zu seiner filmhistorischen Bedeutung verholfen und zum Ausflugsziel eines morbiden Tourismus gemacht haben, schreibt Jürgen Heizmann in seiner im Sammelband enthaltenen kleinen Anthologie von Gefängnisfilmen, die vom mythischen Kapital des Ortes zehren und den Zuschauer an der Seite der Inhaftierten die Trostlosigkeit von Betonwänden und Käfigen und die überwältigende Sehnsucht nach Freiheit empfinden lassen.
[10] Gilles Deleuze, „Ursachen und Gründe der einsamen Inseln“, in: Ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, hg. von David Lapoujade, Frankfurt am Main 2003, S. 10-17, hier S. 10.
[11] Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung (1942), Stuttgart 2008.
[12] Dies erläutert der Beitrag von Matthias Bauer am Zwillingsparadoxon von Albert Einstein.
[13] Lost, USA 2004-2010.
[14] Über diese trendsetzende Serie, die Einfälle und Abenteuer der Handlung, die weiterhelfen, wo die Ansprüche an Kohärenz und Logik versagen, schreibt Kai Spanke im Sammelband.
[15] Dies kann Hubertus Fischer in seinem Beitrag zeigen.
[16] Viele Verfilmungen, u. a. 1954 von Luis Buñuel, 1975 von Jack Gold, 1997 von George Miller.
[17] Verfilmungen 1963 und 1990.
[18] Die blaue Lagune, USA 1980, R: Randal Kleiser.
[19] Die Verachtung, F/I 1963.
[20] Dass ein Inselleben nicht nur die Liebe ernüchtert oder Ehen beendet, sondern oft genug auch den Tod bringt, zeigt Eva Marie Hiller in ihrer Anthologie von Inselfilmen, die von der Avantgarde des französischen Kinos der 1920er Jahre über die Inselobsessionen des italienischen Neorealismo und der Nouvelle Vague bis zu Danny Boyles The Beach (USA/GB 2000) reicht, der zeigt, wie sich bei den Inselkommunarden hinter der lächelnden Maske des forever young eine mörderische Gleichmut verbirgt.
[21] Verfilmungen u. a. 1935, R: Frank Lloyd, mit Clark Gable und Charles Laughton; 1962, R: Lewis Milestone, mit Marlon Brando und Trevor Howard; 1984, R: Roger Donaldson, mit Mel Gibson und Anthony Hopkins.
[22] Anna E. Wilkens / Patrick Ramponi / Helge Wendt (Hg.), Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung, Bielefeld 2011.
[23] Beide Varianten des Insularen untersucht Achim Küpper in seinem Text zu den Filmen Andersons, der in der virtuosen schnitttechnischen Fragmentarisierung Spuren des Isolationismus erkennt, aber in der nicht minder virtuosen Intermedialität, mit der etwa Benjamin Brittens The Young Person‘s Guide to the Orchestra die Archipelisierung seiner jungen Akteure in Moonrise Kingdom (USA 2012) musikalisch bekräftigt, eine versöhnliche Ästhetik der Brüderlichkeit unter den Sonderlingen dieser Welt.
[24] Dazu schreibt Nadja Israel in ihrem Beitrag.
[25] Irland und seine Kinder. BRD 1961, R: Klaus Simon.
[26] Dessen exzentrischer Inselfantasie widmet sich Monika Schmitz-Emans in ihrem Beitrag zum Band.
[27] Drehbuchentwurf von Edgar Wallace, 1931; Verfilmungen von 1933, R: Merian C. Cooper; 1977, R: John Guillerman; 2005, R: Peter Jackson.
[28] Jurassic Park, USA 1993.
[29] U. a. 1932, dann 1977, R: Terrence Fisher; 1996, R: John Frankenheimer.
[30] Die Abgelegenheit der Insel ermöglicht nicht nur das Fortleben des Archaischen, sondern bietet auch Schutz für die exquisiten Infamien dekadenter Aristokraten, wie der Beitrag von Birgit Ziener zu Richard Connells Horrorgeschichte The Most Dangerous Game (1924) und ihren Verfilmungen zeigt.
[31] Dies zeigen im Sammelband die Ausführungen von Markus May.
[32] Verfilmt 1987, R: Bernhard Wicki.
[33] Dies zeigt Petra Žagar-Šoštarić in ihrem Beitrag zum Sammelband.

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