Was von einem Leben bleibt

Über Jonas Hassen Khemiris Roman „Alles, was ich nicht erinnere“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Simon ist tot. Er starb 27-jährig bei einem Autounfall. Das erfährt der Leser gleich am Beginn von Jonas Hassen Khemiris Roman Alles, was ich nicht erinnere. Nichtsdestotrotz ist Simon der Protagonist desselben. Darin geht ein Schriftsteller, den wir als Leser nicht genauer kennenlernen, in Interviews mit Freunden und Bekannten des Verstorbenen der Frage nach: Warum musste Simon so früh sterben? War es ein tragischer Unfall? Oder hat er seinem unsteten und problembehafteten Leben bewusst ein Ende gesetzt?

Dahingehend sind die Interpretationen der einzelnen Befragten durchaus unterschiedlich. Sie alle steuern nämlich ihre ganz eigenen, speziellen Erfahrungen und Sichtweisen zur Person Simon bei. So zum Beispiel Vandad, der einige Besonderheiten seines etwas merkwürdigen Freundes und Mitbewohners sehr zu schätzen wusste, wie etwa dessen unkompliziertes Verhältnis zum Thema Geld, von anderen Verhaltensmustern aber total genervt war, wie etwa seiner Besessenheit, vollkommen unbekannte Menschen nach ihrer Definition von Liebe zu befragen.

Auch die „Pantherin“, Simons Freundin noch aus Schultagen, hat durchaus Ambivalentes zu Simon und ihrem beiderseitigem Verhältnis beizusteuern. Sowohl bei ihr wie auch bei Vandad schimmern Schuldgefühle durch die Berichte über vergangene Erlebnisse, Gespräche und Situationen, in denen sie als Freunde nicht immer so gut dastehen, wie sie es gerne täten. Denn beide haben mit ihrem Verhalten nicht gerade dazu beigetragen, dass sich Simon nach der Trennung von Laide, seiner großen Liebe, besser gefühlt oder wieder Halt in seinem Leben gefunden hätte. Und auch die politischen Aktivistin Laide, die die intensive Liebesbeziehung mit dem wesentlich jüngeren und unpolitischen Simon abbrach, klingt schuldbewusst und als ob sie sich für ihr Verhalten gegenüber Simon rechtfertigen wolle. 

Ob aber der Verlust der Geliebten oder das emotionale Unvermögen der Freunde Simon so weit gebracht haben, dass er den Freitod gesucht hat, bleibt offen. Ebenso könnten auch der wenig erfüllende Job im Amt für Migration, die Sorge um die zunehmend demente Oma oder auch das Branddrama in ihrem nur scheinbar leerstehenden Haus entscheidende Puzzlestücke gewesen sein, um den Entschluss zu fassen, sich aus einem Leben zu verabschieden, in dem Simon ohnehin nie ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit hatte.

Doch was ist die „Wahrheit“? Wie war Simon wirklich? Wie sind die Geschehnisse, die wir nur gefiltert und interpretiert miterleben, tatsächlich verlaufen? Was ist in den letzten Minuten seines Lebens passiert? Allen Informationen und Fakten aus den unterschiedlichen Berichten zum Trotz schweben diese Fragen bis zum Ende im Raum und bleiben unbeantwortet. Und auch Simon als Person sehen wir bis zum Schluss wie durch eine Milchglasscheibe, bei der wir zwar seine Konturen erahnen können, uns der direkte Blick aber verwehrt bleibt. Daran ändert auch die kleine Sequenz aus Simons persönlicher Sicht nichts, die der Autor überraschenderweise am Ende des Buches eingefügt hat.

So bleibt dem Leser nichts übrig, als sich aus den kaleidoskopartigen Schlaglichtern aus Simons Leben ein persönliches Bild zu machen und zu überlegen, welchen Eindruck man von dem Protagonisten als Person gehabt hätte: Den von einem schmächtigen jungen Mann, der ein bisschen verdreht daherkommt, einem liebevollen Enkel, einem ungewöhnlichen Freund und Liebhaber? Von einem etwas deplatziert wirkenden Mitarbeiter in einer bürokratischen Behörde? Oder gar etwas vollkommen anderem?

Dieses eigene Bild zu entwickeln, kann allerdings angesichts der verwirrenden Perspektivenwechsel sowie der zeitlichen wie örtlichen Sprünge etwas schwerfallen, da man nicht leicht den Überblick behält. Doch wer sich auf den temporeichen und sprunghaften Erzählstil Khemiris einlässt, wird mit einem ungewöhnlichen Roman belohnt, der bis zum Ende spannend und interessant bleibt.

Titelbild

Jonas Hassen Khemiri: Alles, was ich nicht erinnere. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017.
332 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421047243

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