Schreiben in Zeiten der Mangelwirtschaft

Die Literaten auf Kuba kämpfen mit beschränkter Ausdrucksfreiheit, schlechter Infrastruktur und fehlenden Außenkontakten

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Kuba erlebt einen Boom: 2016 reisten schon gut drei Millionen Touristen an. Jetzt wird nämlich alles anders, und deshalb möchten Nostalgiker und Neugierige dem sozialistischen Paradies ohne Werbung und McDonald’s, mit faszinierenden Oldtimern und verfallenden Kolonialhäusern noch schnell einen Besuch abstatten. Auch Präsident Obama, der Papst, der russische Patriarch, die Rolling Stones, Karl Lagerfeld, Ban Ki Moon kamen, das erste US-Kreuzfahrtschiff legte an. Ein Kuba-Fieber grassiert, und so glauben viele, die Insel stehe wieder im Fokus wie in den 1960er Jahren, als die Revolution die Menschen weltweit begeisterte, sie Solidarität und Sympathie zeigten für das Land, das nach der Raketenkrise 1962 von den USA mit einem verschärften Embargo belegt wurde und seitdem ums Überleben kämpft: David gegen Goliath.

In den sechziger Jahren trafen sich Autoren aus ganz Lateinamerika in Havanna und sahen die Leistungen der Revolution: die Alphabetisierungskampagne, kostenlose Schulen und Universitäten, Bibliotheken, die preiswerten Bücher, die als „Grundnahrungsmittel“ galten – alle konnten die wichtigsten Werke der Weltliteratur lesen. Die Nachfrage übertraf immer das Angebot, obwohl jedes Jahr Millionen Bücher gedruckt wurden. Bildung erhielt eine Schlüsselstellung: Das verkündete der Máximo Líder.

57 Jahre später muss man eine triste Bilanz ziehen. Alles Geschehen auf der Insel verläuft in heftigen Wellenbewegungen, und das gilt auch für die Kultur, in der Phasen stärkerer und schwächerer Kontrolle sich abwechseln. Anfänglich herrschte Euphorie, aber nach dem Konflikt wegen eines prämierten Gedichtbandes musste dessen Autor, Heberto Padilla, 1971 öffentlich „Selbstkritik“ üben. Die linken Intellektuellen waren entgeistert. Fidel Castro entschied: „In der Revolution alles, gegen die Revolution nichts.“

Damit war die Grenze der Meinungsfreiheit gezogen, es folgten die „fünf grauen Jahre“ (1971 bis 1976), wie sie der Literaturkritiker Ambrosio Fornet nannte: strenge Zensur, Repression, „Umerziehung“ von Homosexuellen, Strafversetzungen in Fabriken, Gleichschaltung der Medien. Der Exilkubaner Amir Valle hat soeben mit „Palabras amordazadas“ eine beklemmende Studie über die staatliche Willkür von damals bis heute vorgelegt.

Die achtziger Jahre brachten die Erschütterung der Mariel-Bootskrise, in deren Verlauf etwa 25.000 Kubaner in die USA flüchteten – darunter viele Autoren, etwa Reinaldo Arenas. Seitdem ist die Literaturszene gespalten in Insel und Exil, und heftig wurde darüber diskutiert, wo die besseren Bücher entstehen. So trat Zoé Valdés‘ „Das tägliche Nichts“ in Wettstreit mit Jesús Díaz‘ „Die Initialen der Erde“ – bis auch er emigrierte. Severo Sarduy gegen Pablo Armando Fernández? Eine müssige Debatte, denn der Erfolg von Exil- und Inselliteratur hängt nur bedingt von ihrer Qualität ab.

Jedes Buch ein Abenteuer

Die neunziger Jahre waren geprägt vom Ende der UdSSR und von seinen Folgen. Jetzt brach die kubanische Wirtschaft zum zweiten Mal zusammen, es begann das mehrjährige Leben in der „Spezialperiode in Friedenszeit“ – ohne Strom, ohne Benzin, es fehlte einfach alles, die Menschen hungerten. Selbstverständlich litt auch die Buchproduktion und schrumpfte von sechzig Millionen (1989) auf fünf Millionen (1995).

In der bis heute andauernden Mangelwirtschaft gab es nie genug Papier, die Druckmaschinen sind veraltet, jede Publikation ist ein Abenteuer. Autoren und Leser stehen immer in der Warteschlange, denn die Produktion bleibt ein Problem. Die Kubaner sind eine enorm lesefreudige Gesellschaft: Über Bücher wird ernsthaft diskutiert, Literatur ist wichtig, auch weil es sonst wenig Abwechslung gibt. Und Bücher dienen zu einem gewissen Grad als Korrektiv, wo Pressefreiheit nicht existiert. Man liest alles, was es gibt – aber längst nicht alles, was man möchte, weil es nicht zur Verfügung steht. Es fehlt selbst ein bescheidenes Angebot an zeitgenössischer Literatur so gut wie der Zugang zu Werken „reaktionärer“ Autoren wie Mario Vargas Llosa.

Abhilfe für diese kulturelle Unterversorgung schafft neuerdings „el paquete“, der USB-Stick, den einige aufmüpfige Kubaner jede Woche im Wohnzimmer produzieren: ein erfolgreiches Startup-Unternehmen, das inzwischen viele Nachahmer gefunden hat und (noch) toleriert wird. Für einen CUC (= ein Dollar) bietet der Stick Literatur, Filme und kritische Information. Der Staat fördert weiterhin – auf seine Weise – das Leseinteresse, trotz Schwierigkeiten mit einzelnen Autoren.

Von den vielen dem Regime unliebsamen „Problemfällen“ sei neben Heberto Padilla etwa Reinaldo Arenas genannt, dann der Lyriker und Journalist Raúl Rivera, der im „Schwarzen Frühling“ 2003 zu langer Haft verurteilt wurde (inzwischen lebt er in Madrid), und der Schriftsteller Ángel Santiesteban, der wegen seines Blogs „Die Kinder, die niemand liebte“ nach einem Fake-Prozess 2013 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Zwei Jahre später entliess man ihn infolge des internationalen Drucks „auf Bewährung“.

Literatur aus der Werkstatt

Offensichtlich hat das Regime Angst vor der freien Meinung. Auch vor Büchern? Kuba war im lateinamerikanischen Kontext immer ein Land mit einer auffallend reichen Literatur. Aber um heutige Werke zu verstehen, wird ein Blick auf ihre Entstehung nötig. In den siebziger und achtziger Jahren wurden in den Gemeinden Kulturhäuser mit Literaturwerkstätten gebaut. Dort treffen sich jede Woche lese- und schreibfreudige junge Menschen, diskutieren über ihre Texte, bis sie an einem Wettbewerb mit kleinem Preis teilnehmen.

Wird ein Manuskript prämiert, ist der Druck gesichert – und es gibt etwas Geld, denn Verlagsverträge mit Tantiemen sind bei den geringen Auflagen, fehlenden Nachdrucken und dem niedrigen Verkaufspreis irrelevant. So entstand eine Generation von Schriftstellern, nach 1959 geboren, die aus den Schreibstuben kommt. Aber ihr Blick auf die Bedingungen, die die Revolution für ihr Schaffen bereitstellt, ist kritisch und illusionslos.

Die gesamte Verlagsindustrie liegt in den Händen des Staates: Unliebsame Manuskripte gehen leicht unter oder verstauben in den Schränken. Daher sind Selbstzensur und Angst präsent, schliesslich kann das Regime eine gelockerte Leine jederzeit wieder anziehen. Hat eine (literarisch urteilende) Jury jedoch ein Buch ausgewählt, garantiert das Druck und Geld: Die besten und heissbegehrten Preise, „Carpentier“ oder „Casa de las Américas“, sind mit 3.000 CUC dotiert – ein Vermögen, denn der monatliche Durchschnittsverdienst liegt bei nur 25 CUC, und fünf Stunden langsames Internet kosten 10.

Der Staat unternimmt aber nichts, um diese Bücher bekannt zu machen; im Inland wird die Auflage von rund 3.000 Exemplaren an Bibliotheken und die sonst leeren Buchläden verteilt, für einen Verkauf ins Ausland sorgt die einzige nationale Agentur, die weder über ein ordentliches Budget noch Know-how verfügt. Also geschieht nichts, seit etwa zehn Jahren kommen kaum Bücher kubanischer Autoren zu uns – mit Ausnahme des in Spanien verlegten Leonardo Padura.

Beklagt wird auch die spärliche Literaturkritik, die dem Leser Orientierung und dem Autor etwas Ermutigung geben soll. Natürlich gibt es Rezensionen in Zeitschriften, und neuerdings wird auch in Internetmedien diskutiert. Aber wie weckt man das Interesse bei einem spanischen oder lateinamerikanischen Verleger, wie soll er von der Existenz der Bücher erfahren, wird er das Wagnis der Publikation auf sich nehmen, wenn es keinen Binnenmarkt gibt? Der spanische Konzern Planeta und Penguin Random House unterhalten in fast allen Ländern Lateinamerikas Zweigstellen, verlegen dort die nationalen Autoren, bei Erfolg werden sie in Spanien publiziert. Aber es gibt keine Niederlassung in Kuba. Und wie sollen sich ausländische Verlage über kubanische Novitäten informieren, wenn sie nicht selber anreisen? Und wenn sie kommen, wo finden sie die Bücher? So häuft sich viel verständlicher Frust.

Die Short Story im Mittelpunkt

Was nun schreiben die „Kinder der Revolution“? 1990 erschien die in Paris prämierte Erzählung „Der Wolf, der Wald und der neue Mensch“ von Senel Paz – Vorlage für den Film „Erdbeer und Schokolade“ –, die erstmals die Homosexualität thematisierte. Neue Schreibstile entstanden, die zuvor verbotene Themen behandelten. 1993 erschien die bahnbrechende Sammlung „Los últimos serán los primeros“, die 37 junge Autoren vorstellte. In den nächsten Jahren folgten zehn weitere Anthologien, die alle von der erstaunlichen Vitalität des Genres Kurzgeschichte zeugten – und zugleich den Verfassern eine erste Chance der Veröffentlichung ermöglichten, denn das Hauptproblem war, überhaupt gedruckt zu werden.

Ein Blick auf die Mitte der neunziger Jahre publizierten Titel zeigt, dass es nur wenige, schmale Novitäten gab, was dem akuten Papiermangel der „Spezialperiode“ geschuldet war. Und es dominierten die Erzählbände, in denen der Leser vieles erfährt über das Trauma des Einsatzes im Angolakrieg mit 2.600 Toten, die schwierige Beschaffung von Lebensmitteln in der „Spezialperiode“, die Diskriminierung der Schwarzen, das Drama der Bootsflüchtlinge, den Verlust der Illusionen, die kleinen Rebellionen, die Trauer der geteilten Familien – immerhin sind 2,7 Millionen Kubaner emigriert.

Die neunziger Jahre brachten auch eine Liberalisierung; es gab kaum Zensur, und so versuchten viele Autoren, einen Roman zu schreiben und ihn wenn möglich im Ausland zu publizieren – das war endlich erlaubt. Aber in den Schreibwerkstätten hatten die Lehrer ihnen eingeschärft, dass man für Romane Erfahrung brauche, ein gewisses Alter, und die Gegenwart lasse sich nur aus der Distanz behandeln, besser also abwarten. Trotz diesen Ermahnungen – ein Bremsklotz für jede Publikation in Kuba – fingen sie an zu schreiben, denn um 2000 gab es dank der „Öffnung“ im Ausland eine bescheidene Nachfrage. Spanische und ausländische Verleger, Agenten und Journalisten reisten zu den Buchmessen und suchten die „Perle“.

Natürlich gab es bald einen Rückschlag – diesmal war es die Verhaftung von 75 Intellektuellen im Jahr 2003. Diese neuerliche Verhärtung fegte das keimende ausländische Interesse hinweg. Auch hatten die Besucher etliche Manuskripte geprüft und waren überrascht von der Vielzahl brillanter Kurzgeschichten – aber wo blieben die Romane, an denen Verlegern und Scouts besonders gelegen war? Man fand erotische Texte wie Pedro Juan Gutiérrez‘ „Schmutzige Havanna-Trilogie“, Kriminalromane à la Leonardo Padura, Science-Fiction, den grossartigen historischen Roman „El polvo y el oro“ von Julio Travieso, einige Werke über Liebesbeziehungen wie Ena Lucía Portelas „Cien botellas en una pared“. Aus dem US-Exil las man Guillermo Rosales‘ „Boarding Home“, in Paris behandelte Karla Suárez mit „Silencios“ (dt. „Gesichter des Schweigens“) den Alltag der 1960er Jahre, in Spanien erschien das poetische Buch „Todos los buitres y el tigre“ von Jorge Luis Arzola, in Mexiko schrieb José Manuel Prieto „Liwadija“ – eine russische Geschichte über eine Entführung aus dem Serail. Vieles blieb unentdeckt. Aber der Vergleich zwischen der grossen Zahl an Kurzgeschichten und den letztlich wenigen Romanen war ernüchternd.

Enge Horizonte

Im August 2006 übernahm Raúl Castro die Macht im Land. Er versprach viele Veränderungen, und in der Tat hat sich in diesen etwas mehr als zehn Jahren manches gewandelt. Die Blockade ist noch nicht aufgehoben, aber sie wird gelockert. Es gibt Reisemöglichkeiten für Kubaner, kleine Privatinitiativen sind in der Wirtschaft und vor allem im Tourismus erlaubt, die Verwandten schicken mehr Devisen – aber was bedeutet der „Wandel“ für die Literatur?

Dank dem neuen Kuba-Boom kehren auch Agenten und Verleger auf die Buchmessen zurück, sprechen mit den Autoren, nehmen Dateien mit. Freilich spielt der Zufall bei der Entdeckung neuer Talente eine wichtige Rolle, dabei helfen nur Kontakte. Was schreibt die Nuller-Generation? Wieder gibt es exzellente Erzählungen, desgleichen Blogs und andere Internetmedien, die die Meinungsfreiheit ausloten.

Die Schriftsteller ringen um spannende Themen, sie brauchen Vermittler, nicht alle können emigrieren. Laut Statistik leben von etwa sechzig zwischen 1960 und 1970 geborenen Autoren nur noch zehn auf der Insel. Bis anhin haben sich die Publikationsbedingungen nicht verbessert, Veränderungen sind auch nicht in Sicht, und das lässt Verzweiflung aufkommen. „Wir sind so gut oder schlecht wie unsere Kollegen, aber wir haben keinen Markt, niemand kennt uns. Daher möchten wir im Ausland gedruckt und in Miami, Madrid und Havanna gelesen werden. Unser in jeder Hinsicht surrealistischer Alltag interessiert euch wirklich?“

Vermutlich entstehen mit dem politischen „Wandel“ Romane, in denen die Autoren die Selbstzensur über Bord werfen und ihre Probleme mit der Revolution nicht nur in einer Dystopie lösen wie Jorge Enrique Lage, den seine „Autopista“ (2014) von Miami über die Karibikinseln bis nach Kolumbien führt. Ansatzweise befasst sich J. L. Fragela in „El cordero aúlla“ (2015) mit den Befindlichkeiten auf der Insel. Aber der fehlende kommerzielle Buchhandel bleibt das entscheidende Problem, und da könnte nur ein realer und schneller Wandel abhelfen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst in der NZZ vom 13.11.2016 und wurde mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der NZZ übernommen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz