Goethe und Schiller als Sherlock Holmes und Dr. Watson

Stefan Lehnberg macht die beiden deutschen Klassiker zu Helden eines Kriminalromans

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geheimnisvoll beginnt Stefan Lehnbergs Roman Durch Nacht und Wind. In der Vorrede spricht der fiktive Autor Friedrich Schiller von einer Begebenheit, die seinen Freund Johann Wolfgang von Goethe und ihn in „Not und Verderben“ stürzen würde, wenn sie zu ihren Lebzeiten publik würde. Ein Prolog, der schlaglichtartig und rätselhaft in die folgende Handlung einleitet, ist im Kriminalroman ein beliebtes Gestaltungselement. Allerdings wird meist der Mord oder die Empfindungen des Opfers kurz vor der Tat geschildert und somit für den Leser eine Fährte zum Täter gelegt. Stefan Lehnberg geht anders vor. Er entwirft die Fiktion, dass Schiller und Goethe, dessen Leben wie kein anderes von Tag zu Tag dokumentiert ist, eine mysteriöse Geschichte erlebt haben. In deren Verlauf werden sie auf eine noch nicht genannte Art und Weise selbst schuldig – ansonsten müssten sie die Öffentlichkeit nicht fürchten.

Dem zeitgenössischen Leser wird diese Form der Vorrede nicht vertraut sein. Der Aufbau eines Spannungsbogens durch vage Andeutungen und ein Schuldeingeständnis des Schreibenden ist in der Tradition des 18. Jahrhunderts begründet. Schillers Geisterseher, an den Lehnberg thematisch anschließt, spielt mit diesem Moment des Spanungsaufbaus durch den Eindruck, der Erzähler berichte eine unerhörte Begebenheit, die aufgrund ihrer Neu- und Andersartigkeit nicht bekannt werden darf. Kann Lehnbergs „criminalistisches Werk“ als Novelle im Gewand des Kriminalromans gelesen werden? Der einsträngige Plot lässt eine solche Lesart auf jeden Fall zu.

Der Großherzog von N., ein äußerst unangenehmer und rücksichtsloser Zeitgenosse, erhält von einem Professor die Information, dass ein wertvoller Ring, der sich in seinem Besitz befindet, mit einem Fluch belegt sei. Zwar ist der Großherzog, der sich mit seiner Familie auf dem Landsitz von Anna Amalia aufhält, zutiefst beunruhigt, möchte sich aber nicht von dem Schmuckstück trennen. Goethe und Schiller, die von der Herzoginmutter mit der Untersuchung des Falls beauftragt werden, tun die Ängste des Großherzogs, der sich jeden Morgen von einer alten Frau das Horoskop lesen lässt, als Aberglaube ab. Sie fahren amüsiert über seine irrationalen Ängste und seine rüpelhafte Art nach Weimar zurück.

Wenige Tage später erhalten sie die Nachricht, dass der Großherzog auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen ist. Seine Leiche wird mit Würgemalen am Hals in einer Truhe gefunden, die von innen verschlossen wurde. Mord oder Selbstmord? Diese Frage ist auf den ersten Blick kaum zu klären. Unheimliche Veränderungen der Leiche, die bereits nach einem Tag extreme Verwesungsspuren aufweist, geben den beiden Autoren weitere Rätsel auf. Im Auftrag des Herzogs Carl August versucht das ungleiche Ermittlerpaar, den Fall zu lösen. Die Frage, ob sie die irrationalen Ängste des Großherzogs falsch eingeschätzt haben und damit eine Mitschuld an seinem Tod tragen, ist für die beiden Hobbydetektive allerdings die größere Motivation. Beide sind nicht nur intellektuell, sondern auch emotional verunsichert. Es gilt, nicht allein einen Todesfall aufzuklären, zugleich muss ein Weltbild behauptet werden.

Die Vorlage für das von Stefan Lehnberg entworfene Ermittlerduo bilden unverkennbar die von Arthur Conan Doyle geschaffenen Figuren Sherlock Holmes und Dr. Watson. Der Erzähler Schiller ist der praktisch veranlagte Detektiv, dessen medizinische Kenntnisse wichtige Fakten ans Licht bringen. Die Parallelen zu Dr. Watson sind offensichtlich. Goethe wird hingegen als der aufmerksame Beobachter gezeichnet, dessen Kombinationsgabe die Lösung des Falles vorantreibt. Das Muster von Doyle füllt Lehnberg mit biografischen Details aus dem Leben in der Weimarer Klassik. Dabei greift er gekonnt bekannte Eigenheiten der beiden Autoren auf und bringt so die Kenner der Epoche immer wieder zum Schmunzeln.

„Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens“. Diese Aussage des fiktiven Goethe verweist darauf, dass Lehnberg versucht, mit Themen des 18. Jahrhunderts zu arbeiten und somit auch das Modell des historischen Erzählens zu erfüllen. Dennoch verspürt der mit der Goethezeit Vertraute Unbehagen. In der ausgehenden Aufklärung, deren erklärtes Ziel es war, die Möglichkeiten der Vernunft auszuloten, stellt der Aberglaube ein Gegenmodell dar, das wenn nicht bekämpft, so doch zumindest nicht ernst genommen wurde. Das Verhalten von Goethe und Schiller zu Beginn der Handlung führt dies exemplarisch vor. Der Roman ist folgerichtig darauf angelegt, zu zeigen, dass die Vernunft und das intellektuelle Lösen von (scheinbar) unerklärlichen Vorgängen zentrale Beweggründe der Epoche wie des Kriminalromans selbst sind. Allerdings geht diese Fragestellung im Lauf der Handlung etwas verloren beziehungsweise wird durch das Spiel mit komischen Versatzstücken in den Hintergrund gedrängt. Damit stellt sich die Frage, nach der Tragfähigkeit der grundlegenden Idee für die Konzeption des Romans: die Verbindung einer boomenden Gattung mit zwei für die deutsche Geistesgeschichte zentralen Persönlichkeiten.

Stefan Lehnberg ist nicht der erste Autor, der bekannte Schriftsteller zum Personal eines Kriminalromans macht. So hat Tilman Spreckelsen für die Romane Nordseegrab (2015) und Nordseespuk (2016) einen fiktiven Schreiber Theodor Storms entwickelt, der gemeinsam mit dem Autor knifflige Fälle löst. Doch welche Bedeutung hat diese demonstrative Fiktion? Werden die bekannten Autoren lediglich aufgrund ihres Bekanntheitsgrades zu Helden des Kriminalromans? Regiert also gewissermaßen das Marketing die Feder? Sowohl Friedrich Schiller als auch Theodor Storm spielen eine Rolle in der Entwicklung der Kriminalliteratur. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie selbst im Alltag ein detektivisches Gespür entwickelten. Zwar wird die Neugier des fiktiven Schiller bei Lehnberg als Merkmal des Autors angeführt, allerdings erscheint dieser Hinweis eher eine Ausrede des Ich-Erzählers zu sein, um seine Sensationslust beim Lauschen an der Tür zu verschleiern. Ist es also vielmehr die Lust an der Parodie, die den Komiker Stefan Lehnberg antreibt?

Ziel des Autors ist es ganz offensichtlich nicht, sich an den schreibenden Vorgängern abzuarbeiten und im Sinne einer Überschreibung einen agonalen Konflikt zu bewältigen. Dieses Motiv wird in der Literatur zur literarischen Goethe-Darstellung gerne genannt, um die Faszination von Autoren seit Beginn des 20. Jahrhunderts an der fiktiven Darstellung des Klassikers zu erklären. Ebenso wenig wird an den beiden Weimarer Autoren ein allegorisches Konzept von (deutscher) Literatur entwickelt. Vielmehr werden die beiden von ihrem Sockel gehoben. Der Kriminalroman zeigt sie als Ermittler mit Fehlern und Schwächen. Hätten die beiden zu Beginn der Erzählung die Situation nicht falsch eingeschätzt, wäre die Handlung anders verlaufen. Bereits in der Vorrede wird das deutlich. Wer allerdings eine explizite Kritik an Goethe und Schiller erwartet, wird ebenso enttäuscht.

Lehnbergs „criminalistisches Werk“ Durch Nacht und Wind ist auf gute Unterhaltung ausgelegt. Einen tieferen Sinn in Gattung und Inhalt zu suchen, geht daher vermutlich an der Zielsetzung des Autors vorbei. Die Geduld des Lesers wird ab und an durch das Gewand des historischen Romans überstrapaziert, wenn die Sprache altertümlicher ist als in den Werken von Goethe und Schiller selbst und andererseits mit modernen Formulierungen versucht wird, komische Elemente in den Text einzuflechten. Dass Goethe sich bei Schiller über den „Quark von Aufgaben“ beschwert, die der Herzog ihm aufbürdet, ist nur schwer vorstellbar. So bleibt am Ende festzuhalten, dass  Stefan Lehnberg einen kurzweiligen Kriminalroman geschrieben hat, der mit Themen, Motiven und Klischees der Goethezeit spielt. Ob dieser durch das Ermittlerduo Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller gewinnt, muss der Leser selbst entscheiden.

Titelbild

Stefan Lehnberg: Durch Nacht und Wind. Die criminalistischen Werke des Johann Wolfgang von Goethe. Aufgezeichnet von seinem Freunde Friedrich Schiller.
Tropen Verlag, Stuttgart 2017.
237 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783608503760

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