Philosophieren im Lehnstuhl oder im Labor

Nikil Mukerjis „Einführung in die experimentelle Philosophie“ erkundet überraschende Spannungen zwischen Rationalität und Intuition

Von Wolfgang KrohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Krohn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Philosophische Experimente? – das lässt aufhorchen, hat sich doch die Philosophie, wie sie an den Universitäten betrieben und gelehrt wird, der empirisch-experimentellen Erkundung von Wirklichkeit entzogen. Die Einzelwissenschaften errangen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Status von Disziplinen mit zunehmender institutioneller Eigenständigkeit und abnehmendem Bedarf an Philosophie. Was ihr zu tun übrig blieb, waren die großen übergreifenden Weltbild-Synthesen zu formen oder die Fundamentalprobleme des Daseins und Bewusstseins zu erkunden. Allenfalls in den Bindestrich-Philosophien der Disziplinen wie Mathematik-, Physik-, Rechts-, Gesellschafts-, Kunstphilosophie blieb ein Wechselspiel zwischen aktueller Forschung und philosophischer Reflexion bestehen.

In historischer Betrachtung geht dieser Weg in die Marginalisierung der modernen Philosophie einher mit einer guten Portion Ironie. Denn am Beginn stand ausgerechnet die experimental philosophy, mit der im 17. Jahrhundert Mitglieder der Royal Society den Aufstand gegen die an den Universitäten vorherrschende aristotelische Tradition probten. Die Begriffsbildung geht wohl auf das gleichnamige dreibändige Werk von Henry Power aus dem Jahr 1663 zurück, in dem er auch den „Patriark of Experimental Philosophy, the Learned Lord Bacon“ benennt. Power und viele seiner Zeitgenossen sahen die Erfolge der Philosophie daran gebunden, sich nicht länger auf Alltagsbeobachtung und Begriffsspekulation zu verlassen, sondern die experimentelle Erschließung neuer Wirklichkeiten – z.B. durch Mikroskop und Teleskop – mit neuen Begriffen der Wirklichkeitsbeschreibung zu verbinden. Beinahe leichtfüßig überschritten viele Forscher des 17. und frühen 18. Jahrhunderts die Grenzen zwischen philosophischer Begriffsarbeit und experimenteller Forschung. Diese in jenem frühneuzeitlichen Kontext höchst moderne Tradition ist nie ganz zum Erliegen gekommen (man denke an Forscher wie Helmholtz, Maxwell, Poincaré, Mach, Bohr, von Weizsäcker). Aber mit der Herausbildung der Disziplinen im 19. Jahrhundert wurde es für die Philosophie zu einer universitätspolitischen Überlebensaufgabe, sich selbst auch als Disziplin mit eigenem Gegenstandsgebiet, Methodenkasten und Begriffsapparat aufzustellen.

Der kanonische Beginn dieser Disziplinierung – durchaus im doppelten Sinne der Züchtigung und Akademisierung – wird mit Freges Begriffsschrift von 1879 gesetzt. Die Analyse von Sinn und Bedeutung der Ausdrucksformen in natürlichen, theoretischen und formalen Sprachen mit den Mitteln der modernen Logik wurde zum Kerngeschäft der Philosophie, die sich im 20. Jahrhundert „analytische Philosophie“ nannte. Analytische Philosophie musste keiner anderen Disziplin ins Gehege kommen noch Belehrungen aus der empirischen Forschung entgegennehmen. Sie wurde zum Paradigma disziplinär autonomer Philosophie und prägte nach dem 2. Weltkrieg insbesondere die angelsächsische Entwicklung. Die Präzisierungen und Differenzierungen, die die analytische Philosophie mit Blick auf die sprachlichen Grundlagen des Denkens, der Moral und vieler weiterer Gebiete hervorkehrte, waren erstaunlich, ergiebig und in ihrer Genauigkeit einzigartig. Sie schienen den Weg in die disziplinäre Eigenständigkeit zu rechtfertigen. Aber die Ironie spielt weiter mit: Je tiefer die logische Analyse in die sprachliche Kodierung der Wirklichkeitswahrnehmung eindrang, desto stärker kehrten die Probleme der Altvordern zurück, die doch den anderen Disziplinen überlassen worden waren. 

Nikil Mukerijs Buch setzt hier an. Es beschreibt allerdings keine dramatische revolutionäre Bewegung, sondern, wie die analytische Philosophie selbst die disziplinäre Einengung aufbrach, indem sie das produktivste Instrument der Wirklichkeitserkenntnis – das Experimentieren – für sich wiederentdeckte. Wieweit es zwischen dieser Öffnung und jener des 17. Jahrhunderts eine Verwandtschaft gibt, wird von Mukerij nicht erörtert. Ich werde am Ende darauf zurückkommen.

Die disziplinäre Reinigung, der sich die analytische Philosophie seit Beginn des 20. Jahrhunderts unterzogen hatte, hatte ihr den Spottnamen „Lehnstuhlphilosphie“ eingebracht. Mukerij überschreibt das erste Kapitel mit dem schönen Titel „Philosophie zwischen Lehnstuhl und Labor“. Die wenige Empirie, die überhaupt gebraucht wurde, um im Lehnstuhl zu philosophieren, war Alltagswissen von der Sorte „Die Katze liegt auf der Matte“ (Paradesatz des englischen Sprachphilosophen Austin), „der Besen steht in der Ecke“ (berühmt durch Wittgenstein) oder konnte vom Lehnstuhl aus hypothetisch gehandhabt werden: „Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze“ (Beispiel von Russell). Sie entlastete von allen Methoden, die empirisch-experimentelle Schritte eingeschlossen hätten. Luzide und pointiert entwirft Mukerij das argumentative Grundschema der analytischen Lehnstuhlphilosophie, das darin besteht, eine philosophische These aufzustellen, ein Szenario oder Gedankenexperiment zu entwerfen, in dem die These eine Rolle spielt, und einzuschätzen, ob sie sich darin bewährt oder widerlegt wird. Er illustriert das Schema mit einem der renommierten Beispiele aus der modernen Erkenntnistheorie, dem nach dem Philosophen Etienne Gettier benannten Gettier-Paradox: Nach anerkannter philosophischer Analyse ist die treffende Definition von Wissen, dass es sich um eine „wahre, gerechtfertigte Meinung von etwas, das der Fall ist“ handelt. Gettier entwarf ein Gedankenexperiment von der Art, dass eine Person zum Zeitpunkt t auf eine Uhr schaut, um zu wissen, wie spät es ist. Die Uhr zeigt die Zeit t an; das rechtfertigt die Überzeugung der Person, dass t die korrekte Zeit ist. Und tatsächlich ist es gerade t Uhr. Was die Person nicht weiß, ist, dass die Uhr tags zuvor zufällig exakt zum Zeitpunkt t stehen geblieben war. Die Person hat zwar eine wahre, gerechtfertigte Meinung von etwas, das der Fall ist, aber hat sie Wissen? Schwerlich, denn die Meinung ist allein durch den puren Zufall wahr, dass sie genau zum Zeitpunkt t abgefragt wird. Das Gedankenexperiment führte zum Zusammenbruch der Standarddefinition. Natürlich könnte man die Hürde der Rechtfertigung erhöhen, indem man eine Uhrenkontrolle oder Mehrfachuhren verlangte. Aber dem Erfindungsreichtum für eine weitere Gettier-Falle sind ebenfalls keine Grenzen gesetzt. Das Beispiel ist gut gewählt, weil es vorführt, wie leistungsfähig die analytische Methode in zentralen Fragen der Philosophie sein kann.

Für Mukerij und den Ansatz der experimentellen Philosophie kommt es darauf an, an dem Beispiel die außerordentlich wichtige Funktion der Intuition in dieser Methode hervorzuheben. Die Standarddefinition des Wissens bricht zusammen, weil die Intuition sagt, das Beispiel weise auf ein offensichtliches Nichtwissen hin, das jedoch nach der Definition als Wissen zu bezeichnen wäre. Jede hinreichend sprachlich und logisch geschulte Person müsse dies einsehen. Der Rest des Buches, so könnte man sagen, ist eine Auseinandersetzung mit diesem Zentralbegriff der Intuition. In dem genannten Beispiel wird der Intuition unterstellt, dass sie bei allen gleich funktionieren müsse und daher stellvertretend von jedem einzelnen eingesetzt werden könne. Der Lehnstuhlphilosoph, der sich das Gedankenexperiment ausdachte, sollte zu Recht davon ausgehen, dass alle verständigen Nachdenker zu seinem Resultat kommen. Aber diese Unterstellung ist nicht überall tragfähig; es gibt zu viele Gegenbeispiele.

Ein solches bekannt gewordenes und von Mukerij ausgeführtes Gegenbeispiel dreht sich um den Begriff der ‚Absicht‘. Wenn jemand sagt: „Meine Firma soll mit dem Projekt X Gewinn machen und mir ist egal, ob es der Umwelt schadet“ und es kommt zu einem Umweltschaden, lag das Anrichten des Schadens dann in Absicht der handelnden Person? Experimentelle Philosophen legten dieses Szenario Leuten zur Beurteilung vor und fanden, dass die Mehrheit die Absichtlichkeit bejahte. Falls jedoch dasselbe Projekt eine positive Umweltveränderung bewirkte, lag dies dann auch in der Absicht des Akteurs? Die Mehrheit bestreitet dies. Diese Asymmetrie hatte erheblichen Einfluss auf die ethische Theorie. Zunächst läge es ja der philosophischen Lehnstuhl-Philosophie nahe, den Mehr- und Minderheiten eine ‚richtige‘ Meinung entgegen zu setzen, z.B. die, dass weder die positive oder negative Werthaftigkeit der Folgen einen Einfluss auf die Zuschreibung einer Absicht haben sollte. Aber einige Ethiker gewannen den Intuitionen der Mehrheit Rechtfertigungen ab, und der Diskurs war eröffnet. Mit Beispielen dieser Art und der Untersuchung der an sie geknüpften schwankenden Intuitionen eröffnete im Jahre 2003 der Philosoph Joshua Knobe den Weg in die experimentelle Philosophie. Es wurde schnell klar, dass unterschiedlich entstandene (z.B. durch ethnische oder sozio-strukturelle Herkunft) und begründete (z.B. durch religiöse Pflichten, Befürchtungen oder philosophische Schulung) Intuitionen nicht durch einfache Faktoren in ‚richtige‘ und ‚falsche‘ zerlegt werden konnten, auch wenn die Kritiker aus den Reihen der Lehnstuhlphilosophie dies versuchten. In einem langen Kapitel „Einwände“ gibt der Autor ihnen Raum, wobei vor allem methodologische Einwände zur Validität experimenteller Befunde erörtert werden. Man möchte zugunsten des experimentellen Zugangs hervorheben, dass methodische Schwächen wohl kaum den Siegeszug aufhalten können. Entweder gibt es harte kategoriale Einwände gegen die Vermischung philosophischer Gedankenarbeit mit empirischen Erhebungen von Überzeugungen, oder nicht. Gibt es sie nicht, wird man die Methodenprobleme erfolgreich beheben.

Die Felder, auf denen Mukerij das experimentelle Vorgehen exemplarisch vorführt, entstammen der Erkenntnistheorie und der praktischen Philosophie. In der Erkenntnistheorie geht es neben der bereits angesprochenen Analyse des Wissensbegriffs um den Kernbegriff der „Bedeutung“. In der praktischen Philosophie wird neben der „Absicht“ das Thema „Willensfreiheit“ aufgegriffen. Der Autor führt anhand der bestehenden experimentellen Befunde jeweils die Bruchstellen der klassischen Intuitionen vor, wobei beim Thema Willensfreiheit allerdings kaum von einem anerkannten Bestand an philosophischer Begrifflichkeit gesprochen werden kann. Seit langer Zeit intervenieren hier sowohl allgemeine Theorien über die naturwissenschaftliche Determiniertheit allen Geschehens als auch empirisch-neurologische Befunde von der Art der Libet-Experimente über den zeitlichen Vorlauf der neuronalen vor der willentlichen Entscheidung mit dem philosophischen Diskurs. Besonders bei diesem Themenfeld wird eindrücklich vorgeführt, wie die empirisch erfassten Reaktionen verschiedener Gruppen von Versuchspersonen auf Gedankenexperimente frischen Wind in die Diskussion gebracht haben. 

Experimentelle Philosophie ist im Stil der analytischen Philosophie geschrieben. Der Autor ist ihr zutiefst verpflichtet; er möchte sie mit ihren eigenen Mitteln an und über ihre Grenzen führen. So unterscheidet er durch begriffliche Präzisierung drei Ansätze der experimentellen Philosophie und stellt deren (Un-)Vereinbarkeitsbeziehungen zu drei nicht-experimentellen Ansätzen dar. Er zerlegt seine Analysen in Schlussketten, bereitet die Hypothesen für die Erklärung von Befunden auf, bietet detaillierte Interpretationsalternativen für die philosophische Diskussion an. Darüber hinaus bietet das Buch ausgezeichnete Lese-Navigation, die jederzeit rückversichert, wo genau der Leser sich befindet. Dem Autor ist so ein Textbuch gelungen, das alle Ansprüche einer sorgfältigen Einführung erfüllt. Es geht jedoch auch darüber hinaus, indem er nicht nur Interesse weckt und Kenntnisse vermittelt, sondern zugleich auch die Defizite, Grenzen und Einwände sorgfältig darstellt. Man ist am Ende über alle Vor- und Nachteile eines Neuansatzes in der Philosophie informiert. Was will man mehr? 

Gemessen an der Aufbruchsstimmung der experimental philosophy, die im 17. Jahrhundert die gesamte Schulphilosophie in die Schranken forderte, wirkt der von Mukerij dargestellte Aufbruch gezügelt und gezähmt. Am Ende laufen die Experimente darauf hinaus, Reaktionen auf Gedankenexperimente durch Meinungsumfragen zu erheben, diese mit statistischen Methoden auszuwerten, um die für die Meinungsbildung maßgeblichen Faktoren zu identifizieren und die Ergebnisse als seriöse kognitive Meinungen und ethische Haltungen ernst zu nehmen. Die Nähe und weitgehende Überlappung mit der Kognitionspsychologie ist unbestreitbar. Wäre da nicht etwas mehr drin? Ein entscheidender Durchbruch in der experimentellen Ökonomie wurde erzielt, als die Versuchspersonen echtes Geld in die Hand bekamen und ihre Entscheidungen in wirklichen ökonomischen Situationen treffen mussten. Diese Experimente erschütterten die Axiome der Rational-Choice-Theorie nachhaltig und führten zu neuen Erkenntnissen über die Einschätzungen von Gewinn und Verlust, Solidarität und Fairness, Zufriedenheit und Risikobereitschaft. Wären solche wirklichen Experimente auch in theoretischer und praktischer Philosophie möglich? An welche Experimentalpraktiken (außer Gedankenexperimenten) könnte man da anschließen? Insgesamt spielt in dem von Mukerij dargestellten Ansatz die in den Experimentalwissenschaften überaus wichtige Dimension der Entdeckung von etwas Neuem keine große Rolle. Nietzsche – ich weiß, keine Referenz für analytische Philosophen – rief in der Fröhlichen Wissenschaft: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ und wollte dazu ermuntern, nach dem Vorbild des Kolumbus mit vagen Vermutungen Neuland des Denkens zu entdecken. Im Lehnstuhl geht das nicht so gut. Da fragt man eher: „Was bedeutet Amerika genau?“. Aber wenn man sich schon auf Experimente einlässt, warum nicht auch solche, die ins Ungewisse führen? Joshua Knobe, einer der wichtigsten Begründer der experimentellen Philosophie, bekennt in einem Interview 2016: „Man mag mir eine kurze autobiographische Abschweifung erlauben. Es waren diese eher traditionellen Arbeiten, die mich vor allem in die Philosophie hineinzogen. Ich las Spinoza, Nietzsche, Hume, Kierkegaard, Aristoteles, in die ich mich total verliebte. Auf der Universität machte ich die schockierende Entdeckung, dass die philosophische Kultur sich so gedreht hatte, dass viele der zentralen Themen in den Werken dieser Denker als außerhalb der Kernthemen der Disziplin betrachtet wurden“ (eigene Übersetzung, WK). Knobe dient die experimentelle Philosophie inzwischen als Basis dafür, klassische Themen über Werte und Wirklichkeit, kulturelle Vielfalt, Wandel und Beständigkeit von Moral, Antriebe der Religiosität, Leiblichkeit der Erfahrung, das Glück und sogar das antike Thema nach dem Wesentlichen in den Dingen wieder dem philosophischen Diskurs zuzuführen, ohne die Strenge der analytischen Philosophie preiszugeben. Ein Weg dahin führt in die Interdisziplinarität, also in die Überlagerung von philosophischen Grundfragen mit empirischen Untersuchungen in den Human- und Sozialwissenschaften. Genau dieser Vermischung wollte die analytische Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Festschreibung ihrer Kernaufgabe in der logischen Analyse von Sprache und Bedeutung entgehen. Wenn ein Jahrhundert später die Zeichen auf den Wert dieser Vermischung zurückverweisen, erscheint dies wie ein Fortschritt durch Rückschritt – eine Renaissance. Diese Parallele zur Renaissance – die der Wiedergeburt des antiken Wissens galt, tatsächlich jedoch zur neuen „experimental philosophy“ führte – erlaubt die Spekulation, dass durch den Einzug des Experimentierens in die philosophische Arbeit etwas ungeahnt Neues im Entstehen begriffen ist.

Mukerijs kleine, solcher spekulativer Übergriffe abholde, dafür aber sorgfältig recherchierte und präzise gearbeitete Einführung in die Experimentelle Philosophie der Gegenwart öffnet jedem, besonders aber dem skeptischen Leser Einblicke in diese neue Welt der Philosophen, die sich auf die Schiffe gewagt haben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Nikil Mukerji: Einführung in die experimentelle Philosophie.
2 s/w Grafiken, 5 s/w Tab., kart.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
211 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560554

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch