Die Macht der Mythen

Katharina Martin und Christian Sieg präsentieren Zukunftsvisionen aus unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer in dem Buch ‚Zukunftsvisionen‘ aktuelle Zeitdiagnosen erwartet, wird eher enttäuscht sein. In dem Sammelband diskutieren Autoren aus der Ägyptologie, Archäologie, Germanistik, Philosophie und aus den Geschichts- und Rechtswissenschaften Zukunftsbilder aus unterschiedlichsten Zeiträumen und kulturellen Kontexten. Dabei finden sich hoch wissenschaftliche Berichte über Datierungs-, Übersetzungs- und Deutungsprobleme, die dem Laien des Öfteren die Nutzung eines Fremdwörterlexikons abverlangen, neben gut zugänglichen spannenden Texten.

In den ersten drei Beiträgen von Christian Sieg, Klaus Vondung und Andreas Urs Sommer finden sich historisch wie philosophisch informierte, interessante Begriffsklärungen. Utopien wie Apokalypsen dienen als Kontrastfolien einer als defizitär erlebten Gesellschaftsordnung. Im Verlauf der Geschichte haben beide Konzepte weitreichende Umdeutungen erfahren. Die Offenbarung des Johannes prophezeite mit visionärer Sicherheit den totalen Untergang der sündigen Welt, auf den ein 1000jähriges Reich und dann der Endkampf zwischen Gott und Satan folge. Mit der Denkmöglichkeit einer völligen Selbstauslöschung der Menschheit, etwa durch Atombomben oder Umweltzerstörung, wurde der Begriff um das irdische Paradies kupiert und hinfort gleichbedeutend mit totaler Katastrophe verwendet. Utopien sind keine schicksalhaft determinierenden Vorhersagen. Zunächst entwarfen sie – in räumliche Fiktionen gekleidet – radikale Gegenmodelle zu herrschenden gesellschaftlichen Missständen. Solche Gedankenexperimente machten ein Anderssein vorstellbar und verunsicherten das Offenbarungswissen. Ab dem 18. Jahrhundert wurde das utopische Denken verzeitlicht: Nun wurde die Vervollkommnung des Menschengeschlechts als erreichbar in die Zukunft projiziert. Entwicklungsidee und Fortschrittsglaube – Vertrauen auf gesellschaftliche Gestaltbarkeit und menschliche Vernunft – erlaubten, die Kluft zwischen problematischer Gegenwart und positiven Zukunftsvorstellungen zu überbrücken. 

Vier Beiträge behandeln Apokalypsen. Joachim Friedrich Quack stellt frühägyptische (ab dem 6. Jahrhundert v. Chr.) Texte (und deren Interpretationsprobleme) vor, in denen Unheilsprophezeiungen in Heilsversprechungen münden. Jay Rubenstein diskutiert den Einfluss wörtlicher Interpretationen der Prophezeiungen im Buch Daniel vielleicht schon auf die Teilnahme am ersten Kreuzzug (1096), sicher aber auf dessen zeitgenössische eschatologische Deutung: Nicht länger nämlich wurde Jerusalem – wie bei Augustin und Hieronymus – als bloße Allegorie für das künftige Himmelreich verstanden, sondern galt zugleich als geographische Einheit dieser Welt. Beide Prophezeiungen – die ägyptische wie die mittelalterlich-christliche – erfüllten auch herrschaftslegitimierende Funktionen.

Knapp 100 Jahre später – so zeigt Matthias Riedl – vermochte Joachim von Fiori auf der Grundlage seiner These der Strukturgleichheit von Altem und Neuem Testament geschichtliche Ereignisse – auch den herrschenden Investiturstreit – in das apokalyptische Schema einzuordnen und mit heilsgeschichtlichem Sinn aufzuladen. Er entwickelte eine Drei-Zeitalter-Lehre: Nach dem Zeitalter des Vaters (von Jakob bis Christus – Altes Testament) und des Sohnes (von Christus bis zur Gegenwart – Neues Testament) stehe der Christenheit ein neues Zeitalter des Heiligen Geistes bevor – ein drittes Reich. Jede neue Stufe der göttlichen Selbstoffenbarung habe Verbesserungen der politischen Ordnung zur Folge. Das Prinzip des sozialen Fortschritts war in die Welt gesetzt.

Die christlich-eschatologische Bedeutung von Apokalypse verblasste zunehmend. Maren Conrad findet in der zeitgenössischen Literatur, in Filmen und in Computerspielen postapokalyptische Robinsonaden: Ein einzelnes Individuum überlebt, die leere Welt wird wieder neu mit Sinn gefüllt und aus der Apokalypse wird eine Transitions- und Heilsgeschichte. 

Im zweiten Hauptteil geht es um „Utopien“. Einen methodisch interessanten Zugang wählt Katharina Martin: An Münzprägungen im römischen Kaiserreich liest sie Zukunftsvisionen ab: Zeichen des Wohlstands (Ähren, Füllhörner) und Bilder der kaiserlichen Familie (Ahnen und Enkel) beschwören ein Goldenes Zeitalter. Dieses ist (nach Zeiten des Verfalls) unter Kaiser Augustus wiedergekehrt oder es steht (in den Krisenzeiten im 3. Jahrhundert n. Chr.) in naher Zukunft bevor. Thema ist stets der ewige Bestand Roms (roma aeterna) und sein bestmöglicher Zustand (saeculum aureum).

Toni Morant i Arino untersucht die utopischen Visionen der Falangisten in Spanien. Sie deuteten die demokratische 2. Republik (1931-1939) im apokalyptischen Denkschema: Nach den Jahren in der Wüste (der Unterdrückung) und der Bewährung (im Bürgerkrieg) galt es, die dritte und letzte Etappe der Geschichte zu verwirklichen – die ganzheitliche, antiindividualistische, klassenlose nationale Gemeinschaft. Diese Utopie scheiterte.

Nach der Analyse von Josef Früchtl demonstrieren zeitgenössische Filme die Wiederkehr der Metaphysik. Sie feiern die Auferstehung des Fleisches und die Wiedergeburt der Seelen, zeigen Natur als beseelte Totalität, illustrieren die Hoffnung, unsere zerstörerische Technik könne einer intelligenteren weichen. Alles soll – so die utopische Botschaft dieses holistischen Weltbilds – interaktiv miteinander verbunden sein.

Der Beitrag zur Frage nach Strafrechtsänderungen in multikulturellen Gesellschaften verzichtet auf utopische Entwürfe. Die konsistente Anwendung geltender Kriterien für die Bewertung von Unrecht und Schuld – so die These von Tatjana Hörnle – reiche hin.

Nicht jeder dieser stilistisch wie inhaltlich sehr differierenden Beiträge wird alle Leser gleichermaßen interessieren. Aber gerade die Heterogenität macht eines sichtbar: Über die Zeiten hinweg hatten – oder haben? – Mythen einen starken Einfluss auf Denken und Handeln der Menschen und Mythen lassen sich für die unterschiedlichsten Ziele nutzen. Fioris drittes Testament etwa taucht als „Dritte Internationale“ wie auch als „Drittes Reich“ auf. Und die Verkündung des 1000jährigen Reiches hätte – so der (von Riedl in seinem faszinierenden Beitrag über Fiori zitierte) Historiker Cohn – „nur geringen Gefühlswert besessen, wenn nicht das Phantasiebild von der dritten und glorreichen Ordnung über die Jahrhunderte hinweg zum feststehenden Bestand der Sozialmythologie Europas gehört hätte.“

Doch nicht nur Visionen, auch ‚neu‘ entdeckte wissenschaftliche Ideen wurzeln häufig in weit zurückreichenden Denktraditionen. Lessing etwa – so zeigt Christian Sieg in seiner analytisch präzise begriffsklärenden Einleitung – knüpfte an Fioris Zeitenlehre an. Er entwickelte ein Stadienmodell, das wie ein Vorläufer des Konzepts der Entwicklungslogik anmutet, das in neueren sozialwissenschaftlichen Diskursen eine gewisse Prominenz erlangt hat. Wie Piaget unterstellt Lessing Entsprechungen zwischen Ontogenese und Phylogenese. Und ähnlich wie in Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung folgen auf die Furcht und Gesetzestreue des Kindesalters im zweiten Zeitalter demütige Gläubigkeit und im dritten Liebe und Kontemplation. So schreitet das Menschengeschlecht vom Kindes- zum Knabenalter voran und wird mit der Aufklärung schließlich erwachsen. Fioris Offenbarung wird dabei als Erziehung gedacht, die die Disposition zur Vernunft zur Voraussetzung hat. Und letztlich kann die Vernunft aus sich selbst die Vollendung herbeiführen.

Angesichts der gegenwärtigen Zeitläufte erscheint das Buch über Zukunftsvisionen vergangener Zeiten modern: Die Verzweiflung über die Wiederkehr von autoritären Strukturen und bejubelter Dominanz der Gefühlsrhetorik liegt im Widerstreit mit dem Vertrauen in Vernunft und dem (noch) ‚unvollendeten Projekt der Moderne‘. Stets neu entbrennt so der tradierte Kampf zwischen der Furcht vor der Apokalypse und der Hoffnung auf die Utopie. Wie Heine (allerdings mit anderem Bezug) bemerkte: „Es ist eine uralte Geschichte, doch wem sie just passieret, dem bricht’s das Herz entzwei.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Katharina Martin / Christian Sieg (Hg.): Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie.
Hrsg. vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelm-Universität Münster, Bd. 13.
Ergon Verlag, Würzburg 2016.
282 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783956502118

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