Ein Plädoyer für die fließende Schrift

In „Wer nicht schreibt, bleibt dumm“ erörtern Maria-Anna Schulze Brüning und Stephan Clauss nachdrücklich den Wert der Handschrift

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit ist reif für eine Streitschrift wie diese: Die Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning und der Journalist Stephan Clauss erkunden in Wer nicht schreibt, bleibt dumm mit hoher Kompetenz und Liebe zum Detail den Wert einer verbundenen Handschrift im schulischen Alltag. Die Autoren beklagen eine grundsätzlich fehlende Schriftkompetenz, die seit mehr als drei Jahrzehnten bei einer zunehmenden Zahl von Kindern und Jugendlichen festzustellen sei: „Immer mehr Kinder können nicht leserlich und oft nur mit großer Anstrengung schreiben. Krakelschriften sind keine Einzelfälle mehr, sondern in den Klassenzimmern längst zum Normalfall geworden.“ Auf den Punkt gebracht: „Jedes sechste Kind kann nicht richtig schreiben!“

Was ist hier los? Woran liegt das? Wie kann es sein, dass an den Grundschulen seit Kurzem nur mehr die Druckschrift gelehrt und die Schreibschrift eher optional nachgereicht wird? Und wenn einem Kind diese Gnade noch zuteilwird, welche Schreibschrift sollte es sein? Die Lateinische Ausgangsschrift, die vom Iserlohner Schreibkreis entwickelt und 1953 in der Bundesrepublik verbindlich eingeführt wurde? Die Schulausgangsschrift, die in der DDR gelehrt wurde? Die Vereinfachte Ausgangsschrift, die seit 1972 mit der Lockung verordnet wurde, sie wäre für Kinder leichter zu erlernen? Oder die Grundschrift, die seit 2011 „den Bruch zwischen Druck- und Schreibschrift“ aufzuheben verspricht?

Wer das Glück hat, eine gewisse Distanz zwischen sich und die schulische Sphäre gelegt zu haben, hat wohl kaum eine Ahnung von den ständigen Experimenten, denen die Grundschüler ausgesetzt werden. Über das Phonetische Schreiben als Etappe auf dem Weg zur Rechtschreibung sei hier der Mantel des Schweigens gedeckt.

Was aber die Diskussion zu Schreibschrift angeht, so fordern die beiden Autoren zu einer breiten öffentlichen Diskussion auf.  Denn das Thema ist kein rein innerschulisches, sondern berührt ein grundlegendes kulturelles Selbstverständnis und Erbe.

Eine kurze, eher oberflächliche Geschichte der Schrift eilt durch die Jahrtausende: von der Keilschrift der Sumerer über die karolingische Minuskel bis zur Fraktur und Helvetica, vom Federkiel der Mönche über Gutenbergs Druckerpresse bis zur Schreibmaschine und zum Touchscreen. Kaum landen die Autoren in der Gegenwart, wird der Tonfall schwer. Die Diagnose: Wir verlieren unmerklich und stillschweigend eine fundamentale Kulturtechnik. Es fallen Begriffe wie „Niedergang“, „Desaster“, „Chaos“.

Konkret auf den Schulalltag bezogen heißt das: „Für sehr viele Kinder ist die mangelnde Schriftkompetenz eine Katastrophe. Sie kann im Extremfall aus einem normal begabten Schüler einen Schulversager machen.“ Die Hammer Lehrerin Schulze Brüning hat jahrzehntelang diesen allmählichen Verlust der Schreibfähigkeit miterlebt und dokumentiert. Ihre im Buch angeführten Beispiele eines heillos verunglückten Schreibens sprechen eine eigene Sprache, und so manches Mal zuckt der Leser beim Betrachten der handschriftlichen Katastrophengebiete wie ertappt zusammen.

Schulze Brüning streitet mit Verve für eine intensive Lehre der Handschrift, jedoch gegen die Vereinfachte Ausgangsschrift und gegen die Grundschrift. Es kann nicht sein, sagt sie, dass die verbundene Handschrift einfach ausstirbt, an den Schulen nicht mehr gelehrt wird. Den Kindern wird damit eine Grundlage genommen, die später nie wieder zu erlangen ist. Schon jetzt kommt eine neue Generation von Lehrerinnen und Lehrern in die Klassenräume, die selbst kaum mehr handschriftlich schreiben. Wie sollen diese bedauernswerten Menschen den Schulkindern eine fließende Handschrift beibringen?

Die aktuelle Grundschrift will noch eine „teilverbundene“ Schrift sein, doch das ist ein bloßer Etikettenschwindel, sie liefert vielmehr die Legitimation für die Abschaffung der Schreibschrift. Die Erfahrung der Lehrerin Schulze Brüning ist eindeutig: „Der Schrifttyp Grundschrift ist in den Handschriften der Fünftklässler nicht erkennbar, dafür wird aber etwas ganz anderes deutlich: Immer mehr Kinder beherrschen überhaupt keine Buchstabenverbindungen. Sie können Schreibschrift nicht schreiben und meistens auch nicht lesen.“

Die Einführung der Grundschrift wurde forciert, statt sie vorher zu erproben und wissenschaftlich zu evaluieren. Noch deutlicher wird die Hildesheimer Germanistin Ursula Bredel mit ihrer Auffassung, die Einführung der Grundschrift sei „ein Experiment ohne fundierte Kenntnisse des Prozesses am lebenden Subjekt“.

Schulze Brüning wendet gegen die Druckschrift ein, dass sie im Lernprozess eher abgemalt statt wirklich geschrieben wird. Zwar haben die Kinder rasche Erfolgserlebnisse, weil sie die Druckbuchstaben ja ständig in ihrer Lebenswelt sehen, doch die scheinbar klaren Buchstaben werden nach wildwüchsigen Systemen abgemalt und entgleisen bei zunehmender Geschwindigkeit, sodass nicht nur die Worte, sondern auch die Buchstaben auseinanderdriften. Von Groß- und Kleinschreibung auch innerhalb der Worte ganz zu schweigen.

Wie steht es mit der Vereinfachten Ausgangsschrift? Schulze Brüning ist unmissverständlich in ihrem Verdikt. Die Vereinfachte unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von der Lateinischen Ausgangschrift, doch die scheinbar geringen Änderungen wirken sich, was das Schreibenlernen angeht, schlicht verheerend aus. Alle Buchstaben beginnen und enden einheitlich an der oberen Mittellinie. Klingt super, ist aber eine erhebliche Erschwernis, wie allein schon das Köpfchen-e zeigt. Die obere Mittellinie gibt keine Orientierung, sondern lässt im Gegenteil die Schreibenden in der Luft hängen.

Schulze Brüning geht Buchstabe für Buchstabe durch und belegt mit eindrucksvollen Schriftproben die Schwierigkeiten, die gerade die Vereinfachte Ausgangsschrift den Schülern bereitet, wenn es ans flüssige, schnellere Schreiben geht. Dies ist der Moment, in dem sich die „Sauklaue“ manifestiert.

Die Schüler – oft quälen sich die Jungs mehr als die Mädchen – schreiben nicht aus Trotz, Dummheit, Faulheit oder genetischer Minderbegabung (Jungs als vermeintlich hoffnungslose Grobmotoriker) so grauenhafte Handschriften. Sie können es einfach nicht. Es hat ihnen niemand gezeigt, wie es geht beziehungsweise wie es leicht und fließend gehen könnte.

Dies ist ein bemerkenswerter Pluspunkt des Buches. Maria-Anna Schulze Brüning und Stephan Clauss schieben den Schwarzen Peter nicht den Schülern zu, die unter ihrer Sauklaue ohnehin genug leiden – denn bis zum Ende der Schulzeit, oft auch bis zum Ende des Studiums wird eine annehmbare, lesbare Handschrift immer noch erwartet. Nein, sie sehen das Versäumnis vielmehr im Wirrwarr der schulischen Verordnungen und der völlig ahnungslosen Einführung ständig neuer Systeme, die Lehrern und Schülern kostbare Zeit sparen sollen, ihnen tatsächlich aber eine grundlegende Kulturtechnik entziehen.

Die Kinder können sich eine Schreibschrift nicht selbst beibringen, sie muss von Anfang an gezeigt und immer wieder geübt werden, auch wenn das Zeit kostet. Klar und unmissverständlich: „Kinder brauchen einen Lehrer, strukturierte Anleitung und sehr viel Übung. Wer glaubt, das ersparen zu können, riskiert Verluste in der Substanz.“

Mehr noch: Die Kinder wollen weit überwiegend eine Handschrift schreiben können! Schulze Brüning hat ihre Klassen befragt, was sie vom handschriftlichen Schreiben halten. Überraschender Tenor der „Head-down-Generation“, die kaum einmal den Daumen von der Smartphonetastatur bekommt: Sie halten überaus viel davon. Die Antworten sind es wert, beherzigt zu werden, da viele Schüler gerade auf das sinnliche Erleben beim Handschreiben zielen: „Das Gehirn wird bei der Handschrift mehr trainiert als wenn man tippt“; „Damit Kinder selber denken, was sie schreiben“; „Man prägt sich die Rechtschreibung besser ein“; „Die eigene Handschrift ist Teil der persönlichen Identität“; „Handschrift führt von Person zu Person“. Und auch diese Mahnung aus Schülermund darf nicht fehlen: „Wenn in der Schule keine Handschrift mehr gelehrt würde, wäre die Menschheit am Ende“.

Da bei aller argumentativen Fairness die beiden Autoren doch hin und wieder den Anschein erwecken, alles Schreib-Elend sei mit den Laissez-faire-68ern in die Schulwelt gekommen, mag ein Blick über den Tellerrand helfen. Die britische Handschriftenlehrerin Rosemary Sassoon kommt zu einer ähnlichen Diagnose wie ihre deutsche Kollegin und sieht einen ungewöhnlichen Ausweg aus dem ideologischen Dilemma: „Diejenigen, die das Handschriftenschreiben und den Schreibunterricht in ihren verschiedenen Ländern bestimmen, sollten sich bei denen Rat suchen, die die Handschrift am meisten benutzen, nämlich bei den Überlebenden des Bildungssystems, den guten Schülern. Diese Schüler sind die wahren Experten, nicht die Pädagogen.“ Sassoon warnt jedoch auch vor dem rückwärtsgewandten Ideal der großelterlichen Schönschrift, die in jenen längst vergangenen Schuljahren entstand, als dem Schreiben und Schriftüben noch ein großer Zeitraum zugebilligt wurde.

Unbestreitbar ist die Notwendigkeit des handschriftlichen Schreibens in der nachschulischen Welt nicht mehr so groß wie noch vor einigen Jahrzehnten. Computer, Laptops und Smartphones bieten ständig und allerorten ihre Tastaturen dar, sodass man auf Buchstabenfelder drücken kann, statt sich handschriftlich zu äußern.

Dennoch scheint die Sehnsucht nach einer eigenen, persönlichen Handschrift zu wachsen. „Die Aufmerksamkeit muss auf sehr sorgfältige Weise von den Leserbedürfnissen zu den Bedürfnissen des Schreibers wechseln“, konstatierte Rosemary Sassoon. Auf diese eher außerschulischen Phänomene gehen Maria-Anna Schulze Brüning und Stephan Clauss in ihrem Buch nur kursorisch ein. Immerhin bringen sie den Hinweis auf erfolgreiche Manager, die sich nicht nur einen kostbaren Füllfederhalter zum Unterschreiben der Verträge leisten, sondern sich neuerdings auch von Handschriftdesignern eine repräsentative Unterschrift entwickeln lassen.

Die eigene Handschrift gilt immer noch als besonderer Ausweis der Persönlichkeit. Vielen ist das eigene, nach Jahren des ausschließlichen Tastaturschreibens unbeholfene und ungelenke Gekrakel peinlich. Andere entdecken den besonderen, fast meditativen Reiz, eine Handschrift wieder zu lernen (und wieso eigentlich nicht wieder Sütterlin schreiben?).

Auch wenn das Buch Wer nicht schreibt, bleibt dumm sich vornehmlich um den schulischen Bereich kümmert, bietet es doch eine Vielzahl von Anregungen und Hinweisen auch für erwachsene Leser, wieder eine fließende Handschrift zu erlernen und sich daran zu erfreuen.

Titelbild

Maria-Anna Schulze Brüning / Stephan Clauss: Wer nicht schreibt, bleibt dumm. Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen.
Piper Verlag, München 2017.
301 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058247

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