Zivilisation und Katastrophe

Zum Umgang mit Geschichte in Franzobels „Das Floß der Medusa“

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Nacht vom 20. auf den 21. September 1938 liest die namenlose Hauptfigur der Ästhetik des Widerstands, dem monumentalen Hauptwerk Peter Weiss’, den Bericht zweier Franzosen über eine Katastrophe, die sich im Juli 1816 ereignete.

In jenem Jahr manövriert der unfähige, royalistische Kapitän Hughes Duroy de Chaumareys die Medusa, Flaggschiff eines Flottenverbandes, das Soldaten und einige Kolonialisten in die neuerlich zurückerhaltene Stadt Saint-Louis im Senegal bringen soll, in die Arguin-Sandbank. Als die Plätze in den Rettungsbooten nicht ausreichen wird dilettantisch ein Floß aus Masten und Planken konstruiert. Auf diesem sollen 150 Menschen bis zur Hüfte im Wasser stehend von den Rettungsbooten an Land gezogen werden. Nachdem klar wird, dass dieses Vorhaben zum Scheitern verdammt ist, wird das verbindende Tau gekappt. Das manövrierunfähige Floß wird samt seiner Besatzung sich selbst überlassen. Knappe zwei Wochen später wird es gefunden – mit den verbliebenen 15 Passagieren, die sich von ihren ehemaligen Begleitern ernährt hatten.

Diese Fahrt erzählt nun der österreichische Autor Franzobel, der bereits den Ingeborg-Bachmann-Preis und den Arthur-Schnitzler-Preis erhalten hat, in seinem neuen Roman Das Floß der Medusa. Mit ungewöhnlicher Deutlichkeit und einem äußerst schroffen Stil seziert er die Schiffsbesatzung und die historischen Begebenheiten. So fliegt der blutige Kopf einer „Negerin“ (so die Schreibweise im Roman) quer über das Floß oder die Exkremente eines sonst doch immer koscheren jüdischen Seemannes im Arztzimmer der Medusa durch die Luft. Schädel werden gespalten und ein Matrose zu Tode gepeitscht. All das begleitet von reichlich Vergleichen, für die sich der Erzähler aus dem popkulturellen Fundus der Gegenwart bedient. Nichts läge daher ferner als diesen Roman als historische Darlegung abzutun, denn der eine hat ein „Alain-Delon-Gesicht“, der nächste ist ein „Lino-Ventura-Verschnitt“ oder sieht aus „wie das Monster einer Stephen-King-Verfilmung“. So hat Franzobel schon genaue Vorstellungen, mit welchen Schauspielern man „diese Geschichte“ am besten verfilmen könnte, denn sollte

Hollywood einmal darangehen […], wäre wohl Gérard Depardieu die Idealbesetzung für diesen Antoine Richeford. Als Kapitän wäre ein Schauspieler vom Schlage eines Philip Seymour Hoffman perfekt, und Mads Mikkelsen könnte Gouverneur Schmaltz spielen oder Alexandre Corréard? Emma Stone und Emma Watson als Picard-Töchter, die junge Brigitte Bardot für … Aber das sollen sich die Casting-Agenturen selbst überlegen.

Durch die Zeitgenossenschaft des Erzählers mit den Lesenden, die vor allem durch die Bezüge zur modernen Filmkultur erzeugt wird, schafft es Franzobel, die Geschehnisse so anschaulich wie möglich zu machen, ohne in einen bloß deskriptiven Historismus oder eine oberflächliche Aktualisierung des Historischen zu verfallen.

Dabei zeichnet er weniger ein Porträt der gesellschaftlichen Verhältnisse des nach-revolutionären Frankreichs, sondern vielmehr gleicht Das Floß der Medusa gerade auf den ersten 300 Seiten bis zum Schiffbruch einer malerischen Studie, die sich an Ausschnitten entlang hangelnd auf die soziale Konstitution Frankreichs verweist. Immer wieder zeigt der Erzähler kurze Szenen, in denen die französische Gesellschaft als Ganze aufscheint. So müssen sich die jungen republikanisch gesinnten Offiziere mehrfach dem dilettantischen Kapitän unterordnen und der wiederum lässt einen Matrosen bloß auspeitschen, um seine Macht zu verdeutlichen – beides Armutszeugnisse für die erst wieder eingesetzte herrschende Klasse.

Da er den historisch verbrieften Tatsachen grundsätzlich treu bleibt, ist es nicht verwunderlich, dass bereits mit dem Auslaufen der Medusa die Arbeit des unterhaltenden Chronisten beginnt. Dieser vermag es uns unmittelbar vor Augen zu führen, wie im beginnenden 19. Jahrhundert die unabgegoltenen politisch-ökonomischen Auseinandersetzungen, z.B. der vorläufige restaurative Siegeszug der Aristokratie, das Aufbegehren des Bürgertums und der wiederholte politische Zusammenstoß von Republikanern und Royalisten, die sozialen Hierarchien und jegliche Kommunikation bis zur kleinsten Ebene hindurch bestimmen.

Doch wozu diese Unmittelbarkeit? Denn während der Ich-Erzähler der Ästhetik des Widerstands mit seinen Genossen immer wieder auf die Frage zurückkommt, was es nütze, sich mit Kunstwerken und Geschichte auseinanderzusetzen und immer wieder auf das Jetzt im Damals hinaus will, führt Franzobel lediglich die Vergangenheit vor. Was bedeutet es, sich mit historischen Ereignissen auseinanderzusetzen? Für Franzobel offenbar nur Unterhaltung.

Hier wird die Erzählung einer humanen Katastrophe, die den Kern des Menschlichen treffen will, ihres Scheines der Einheit der Erzählung mit dem Erzählten entlarvt. Franzobel erzählt zugegebenermaßen außergewöhnlich. Obwohl er aber eine uns gegenwärtige Erzählinstanz installiert, und gerade weil er imstande ist, uns die Katastrophe unmittelbar vor Augen zu führen – wie einen „asiatische[n] Slapstick B-Movie", um hier einen Vergleich des Buches zu bemühen – wird das aktive Lesen zum passiven Zuschauen. Grausame Begebenheiten müssen erst in die scheinbar rationale Form des Films übersetzt werden, um dem idealen Leser angemessen zu sein. Durch diese Verformung klaffen Erzählung und Erzähltes auseinander. Indem Franzobel die Katastrophe in zeitgemäßen Portionen serviert, stößt sie dem Publikum nicht mehr bitter auf. Durch seine formale Übersetzung in die Gegenwart wird das Erzählte kulturell uniformiert und die Geschichte übersprungen. Genau wie in einem Hollywoodfilm wird der Rezipient allein schon durch die Form isoliert von seiner Außenwelt. Hier ist noch nicht einmal der Versuch unternommen worden, Lesende aufzufordern, sich mit Hilfe der Reflexion auf die Vergangenheit Klarheit über die Gegenwart zu verschaffen.

Moral und Zivilisation gehen auf dem Floß verloren und die Menschen fressen sich in Anfällen einer apokalyptisch inszenierten Ekstase. Bei Franzobel stehen diese erzählten Momente durch seine Art der Erzählung indifferent und somit disparat nebeneinander. Das Nichteingreifen des Erzählers, der sich mit dem Publikum permanent zu identifizieren sucht, evoziert dasselbe seitens der Lesenden. Doch gerade im Lesen müsste den Momenten Bedeutung abgewonnen werden, soll die Katastrophe nicht zum Anlass für scheinheilige Unterhaltung verkommen. So wie die Offiziere und alle anderen auf dem Schiff zu mutlos sind, gegen den Kapitän aufzubegehren, ist es Franzobel, um radikal mit diesem Ereignis zu verfahren.

Nicht zuletzt an seinem erzählerischen Umgang mit dem erfundenen Matrosenjungen Viktor, der gleichzeitig Sympathieträger des Romans ist, offenbart sich dieses Problem. Statt ihn an der offensichtlichen Unvernünftigkeit seiner Zeit, deren bloßer Ausdruck die Schiffskatastrophe ist, zerschellen zu lassen, erreicht er doch wie durch ein Wunder lebend das Land. Gleichermaßen romantisch wie illusionär.

Franzobel hat einen großen Wurf gewagt, der ihm vor allem wegen seiner ungewöhnlichen erzählerischen Kunstfertigkeiten fulminant misslingt. Dass Das Floß der Medusa trotzdem lesenswert scheint liegt wohl daran, dass man nach besseren Annäherungen an einen solchen „Topos der europäischen Unheilserfahrung“ (Tilman Krause in Die Welt, 18.02.17) suchen muss.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Franzobel: Das Floß der Medusa. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2017.
592 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058163

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch