Unterricht in Gefühlen und edlem Zwirn

In Michela Murgias „Chirú“ begibt sich die Erzählerin in unklare Beziehungen zu einem sehr jungen Mann

Von Christof RudekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Rudek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer in bestimmten Kreisen reüssieren will, der muss gut angezogen sein. Das weiß Eleonora, eine erfolgreiche Schauspielerin Ende dreißig, als sie Chirú – einem achtzehnjährigen Musikstudenten, der am liebsten im Kapuzenpulli herumläuft – begegnet und ihn unter ihre Fittiche nimmt. So besteht denn auch eine ihrer ersten erzieherischen Maßnahmen darin, den Jungen in eine exquisite Schneiderwerkstatt mitzunehmen, wo ihn der Maître über edle Stoffe aufklärt, die dort zu maßgeschneiderten Luxusprodukten verarbeitet werden. Als Eleonora Chirú später nach längerer Trennung wieder sieht, trägt er teuren Samt in Maßanfertigung. Das nennt man dann wohl einen pädagogischen Erfolg.

Michela Murgias neuer Roman handelt von menschlichen Beziehungen – in der Liebe, der Freundschaft, der Familie, aber auch im Berufsleben und in der Gesellschaft, in der man, wenn man etwas erreichen will, auf andere angewiesen ist. Und in der man – jedenfalls nach Eleonoras Erfahrungen – allzu oft sein wahres Ich hinter einer Maske verbergen muss. Unter dem Machtgehabe und der Heuchelei, die hier herrschen, hat Eleonora, die auch die Erzählerin des Buches ist, schon von klein auf in ihrer Familie leiden müssen. Die Beziehung zu Chirú soll dagegen von Zuneigung und Vertrauen geprägt sein. Er ist nicht der erste sehr junge Mann, dem sie sich annimmt. Teo, Alessandro und Nin waren schon vorher da. Eleonora nennt sie beharrlich ihre „Schüler“ – und weiß um die Versuchung des Allmachtsgefühls, das diese Beziehungen mit sich bringen, und um ihren prekären Status irgendwo zwischen Lehrerin, Mutter und Geliebter. Das Verhältnis zu Nin hatte vor Jahren ein dramatisches Ende genommen.

Michela Murgia, geboren 1972, hat in Italien bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht und mehrere Preise gewonnen. „Chirú“, 2015 im Original erschienen, ist das fünfte Buch der Autorin, das in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie die Hauptfiguren ihres Romans stammt sie von der Insel Sardinien. Dort, in der Provinzhauptstadt Cagliari, beginnt und endet der Roman auch. Zwischendurch geht es über Rom nach Stockholm, Prag und Florenz, den Stationen einer Tournee, die Eleonora absolviert.

Es ist natürlich kein wirklicher Unterricht, den sie ihrem Zögling angedeihen lässt. Von gemeinsamen Ausstellungsbesuchen ist die Rede, viele Gespräche über Beziehungen und Gefühle werden geführt – vor allem aber will sie ihm Hilfestellung geben bei seinem Eintritt in den Kulturbetrieb, in dem sie sich als Schauspielerin eine gewisse Position erarbeitet hat und er als Violinist seinen Platz erst noch finden muss.

Chirú ist entschlossener, als seine neue Freundin zunächst wahrnimmt – auch in ihrer beider Beziehung, die – wer hätte das gedacht? – nicht frei von erotischen Untertönen bleibt. Aber in Stockholm macht Eleonora intime Männerbekanntschaft und verliebt sich nach Jahren der Abstinenz. Chirú, der schon bald etwas ahnt, auf Distanz zu halten – das kann auf Dauer nicht gut gehen. Es kommt zum Bruch.

Murgias Roman ist psychologisch stimmig, behandelt seine Themen mit einiger Dringlichkeit und enthält manche kluge Reflexion. Moralische Wertungen überlässt er dem Leser – etwa die Beurteilung der Heuchelei, die Eleonora in der Gesellschaft kritisiert, jedoch auch selbst aus beruflichen Rücksichten und zu ihrem eigenen Schutz praktiziert – sogar gegenüber ihren Liebsten Martin und Chirú. Man mag vielleicht einwenden, dass die Erzählerin dadurch nicht gerade sympathisch erscheint – ganz zu schweigen von dem Karrieredenken, das sie Chirú vermittelt, und der Selbstgefälligkeit, die sie des Öfteren an den Tag legt. Aber das Sympathiepotential der Figuren ist kein Merkmal literarischer Qualität.

Dagegen mag man sich zu Recht daran stören, dass das Buch hier und da die Grenze zum Kitsch überschreitet. So ist Eleonoras Stockholmer Liebe Martin de Lorraine gut aussehend, gebildet, intelligent, witzig, elegant, höflich, natürlich, von europäischem Adel, weltgewandt und polyglott, fährt einen Jaguar Oldtimer – und ist nebenbei noch Direktor der Stockholmer Oper. Mit ihm findet Eleonora schließlich ihr Glück, ganz traditionell als Ehefrau und werdende Mutter. Wenn dann aber ein paar Tische weiter in dem noblen sardinischen Restaurant Chirú sitzt und seine Reize karrierefördernd gegenüber einem alten Kulturmachtmenschen spielen lässt, kann man sich fragen, ob sie den Buben nicht auf die schiefe Bahn gebracht hat.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Michela Murgia: Chirú. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Julika Brandestini.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132871

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