„Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal“

Zum 65. Geburtstag von Nobelpreisträger Orhan Pamuk

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Sie haben nicht ein oder zwei Zeilen gestrichen, sie haben es überhaupt nicht veröffentlicht“, klagte Orhan Pamuk vor vier Monaten über ein Interview, das er der großen türkischen Zeitung „Hürriyet“ gegeben hatte. Der Literaturnobelpreisträger hatte darin Recep Tayyip Erdoğans Präsidialreform heftig kritisiert.

„Er hat neue Symbole für den Zusammenprall und die Vernetzung von Kulturen gefunden“, hieß es 2006 in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, das Orhan Pamuk als erstem türkischen Schriftsteller in der langen Geschichte des Nobelpreises die wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt zusprach.

Was für Günter Grass Danzig, für Heinrich Böll Köln und für Nagib Machfus Kairo war, das ist für Pamuk seine Geburtsstadt Istanbul – das Zentrum des eigenen literarischen Werkes, in dem sich persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Veränderungen gleichermaßen widerspiegeln. „Es gibt wohl kaum einen Autor in der Weltliteratur, der so faszinierende Stadtschilderungen schreiben kann wie Pamuk“, hatte Horace Engdahl, der Sekretär der Nobelakademie, erklärt.

„Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem viele Romane gelesen wurden. Mein Vater hatte eine umfangreiche Bibliothek und erzählte von den großen Schriftstellern wie Thomas Mann, Kafka, Dostojewski oder Tolstoi. Schon als Kind waren für mich all diese Romane und Autoren eins mit dem Begriff Europa“, sagte Pamuk in einem Interview. Doch trotz dieser frühen Affinität zur großen europäischen Literatur hat er in seinen eigenen Werken stets den Spagat zwischen Tradition und Moderne, zwischen Orient und Okzident versucht. Im 2001 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman Rot ist mein Name – der zwar im 16. Jahrhundert angesiedelt ist, dessen Bedeutung aber tief in die Gegenwart reicht – beschreibt er auf eindrucksvolle Weise Istanbul als Schwellenstadt zwischen den Kulturen, als urbanen Moloch, der polyphonen gesellschaftlichen Strömungen ausgesetzt ist. Diese Vielstimmigkeit unterstrich er durch ein gutes Dutzend in der Handlung auftretender Erzähler.

Mit einem zeitgenössischen Thema beschäftigt sich Pamuks großer Roman Schnee (dt. 2005), der von der „New York Times“ 2004 als bestes ausländisches Buch ausgezeichnet wurde. Darin reist ein Mann in eine Provinzstadt, um eine merkwürdige Serie von Selbstmorden junger Mädchen zu untersuchen. Sie sollen sich umgebracht haben, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Dann kommt es zu einem Putsch. Private Schicksale mischen sich mit kollektiven Tragödien; Religion und Politik lassen im Zusammenspiel eine für die Individuen prekäre Situation entstehen.

Trotz seiner großen internationalen Erfolge (seine Werke wurden bisher in 35 Sprachen übersetzt) ist Orhan Pamuk in seiner Heimat keineswegs unumstritten. Wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ wurde der Autor 2005 vor Gericht gestellt.

Orhan Pamuk, der am 7. Juni 1952 als Sohn einer großbürgerlichen Familie in Istanbul geboren wurde und als Kind Maler werden wollte, hatte nach einem abgebrochenen Architekturstudium einen Universitätsabschluss als Journalist erworben. Im Alter von 23 Jahren entschied er sich, ausschließlich als Schriftsteller zu arbeiten. Er zog sich vor der Veröffentlichung seines literarischen Erstlings Cevdet Bey ve Ogullar für viele Jahre zurück in das Sommerhaus der Familie auf einer Insel im Mamarameer.

Bis auf einen dreijährigen USA-Aufenthalt (1985–1988) an der Columbia University in New York, wo seine Frau promovierte und er selbst an seinem Buch Kara Kitap (dt. Das schwarze Buch) arbeitete, hat Pamuk Istanbul nicht für längere Zeit verlassen. „Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal. Ich fühle mich dieser Stadt verbunden, weil sie mich zu dem gemacht hat, der ich bin“, so Pamuks Liebeserklärung an seine Heimatstadt, in der er mit seiner Frau und seiner Tochter lebt.

„Mit großem Aufwand versuchte ich der moralischen Pflicht nachzukommen, Mevluts Menschlichkeit auf 600 Seiten auszubreiten und ihn als vielschichtigen Menschen zu zeigen – und das, ohne auf die Tränendrüse zu drücken“, hatte Pamuk im Vorfeld über die Hauptfigur seines aktuellen Romans Diese Fremdheit in mir (2016) erklärt. Gelungen ist ihm das nicht wirklich überzeugend. Es las sich stark weichgezeichnet und ohne den für Pamuk typischen Biss. Umso größer ist der Wunsch, dass er in seinem neuen, im September erscheinenden Roman Die rothaarige Frau wieder vollends seine wahren Stärken zeigt.