Einmischungen eines Kosmopoliten

Mit „Nach der Flucht“ erinnert sich Ilija Trojanow an seine eigenen Erfahrungen als Emigrant und bündelt in knapp 200 Notaten seine Gedanken zum wichtigsten existentiellen Problem unserer Gegenwart

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang der 1970er Jahre kam der 1965 in Sofia geborene Ilija Trojanow als sechsjähriger Flüchtling mit seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland. Dort erhielt die Familie politisches Asyl. Dass es Trojanow verwehrt blieb, dort aufzuwachsen, wo seine Vorfahren groß geworden waren, hinterließ, obwohl der Junge noch im Vorschulalter war, als er die einschneidende Erfahrung von Flucht und Exil machen musste, tiefe Spuren.

Diese finden sich auch überall im Werk des 1996 mit dem autobiographischen Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall einem breiteren Publikum bekannt gewordenen Schriftstellers. Nie hat Trojanow aufgehört, sich für das Land zu interessieren, in dem er zur Welt gekommen ist, und sich den Gründen und Folgen der Flucht seiner Familie zu stellen. Nach seinem Debütroman sowie dem Reportageband Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte (2006) und dem Fernsehfilm Vorwärts und nie vergessen – Ballade über bulgarische Helden (2007) erschien schließlich mit Macht und Widerstand vor zwei Jahren sein bisheriges Hauptwerk. Es stellt nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Verhältnissen im staatssozialistischen Nachkriegsbulgarien Todor Žiwkows dar, sondern enthält auch eine geharnischte Polemik gegen die Art der Aufarbeitung der unmittelbaren Vergangenheit im heutigen Bulgarien.

Nach der Flucht nun komprimiert in zweimal 99 Notaten, denen ein „Vorab“ vorangestellt sowie ein Zitat des mittelalterlichen Theologen Hugo von St. Viktor (1097–1141) als „Nachtrag“ beigegeben wurde, Trojanows Fluchterfahrungen und verallgemeinert sie zu einem Blick auf das exemplarische Schicksal vieler Menschen in unserem noch jungen dritten Jahrtausend. Dabei hat der Autor die beiden Notatblöcke spiegelbildlich einander gegenübergestellt. Während die Zählung im ersten Teil – „Von den Verstörungen“ – von römisch „I.“ bis römisch „XCIX.“ aufwärts erfolgt, setzt der zweite Teil – „Von den Errettungen“ – mit Notat Nummer 99 ein und endet mit der Ziffer 1. Zwischen beide Blöcke, als Spiegelachse sozusagen, hat Trojanow ein Bild aus jenem Zyklus des afro-amerikanischen Künstlers Jacob Lawrence (1917–2000) gestellt, der ihn nach eigener Aussage zu diesem Buch inspiriert hat: The Migration Series (1940/41). Es zeigt Menschen auf der Flucht, von rechts nach links eine karg angedeutete Landschaft durcheilend, Koffer, Taschen und andere Gepäckstücke tragend, gesichts- und damit zugleich so zeit- wie ortlos.

Mit einem Gemisch aus die eigenen Erfahrungen als Emigrant betreffenden Erinnerungen, Zitaten, Anekdoten, Aphorismen und kurzen, „Dramolette“ genannten, dialogischen Spielszenen umkreist das Buch sein Thema. Nimmt Teil 1 dabei vor allem die Schwierigkeiten des Ankommens nach der Flucht in den Blick, konzentriert sich der zweite Teil schließlich darauf, aus dem Begreifen der Flucht als einer Bewegung, die zugleich von etwas weg-, aber auch auf etwas Neues hinführt, Hoffnung zu schöpfen für eine glückende Ankunft. „Es gibt ein Leben nach der Flucht“, heißt es dazu bereits in den vier das Buch einleitenden Absätzen. Und weil Trojanow in seiner dem Ganzen vorangestellten Widmung an die eigenen Eltern betont, dass deren Flucht letzten Endes ein Geschenk für ihn bedeutete, darf man daraus schließen, dass der Autor selbst sich angekommen fühlt, ohne freilich seine Herkunft vergessen zu haben oder vergessen zu wollen.

Wie schwer Ankunft in einer anderen Kultur aber generell ist, weiß er so genau, dass er das im Zusammenhang mit dem aktuellen Flüchtlingsproblem und seiner Bewältigung gerade inflationär gebrauchte Wort „Integration“ geflissentlich vermeidet. Zu sehr hebt es ihm wohl ab auf ein Aufgehen des einen im anderen, zu wenig berücksichtigt es, dass niemand seine Herkunft einfach abzustreifen vermag. Das fängt bei der Sprache an, setzt sich bei Kindheitserinnerungen fort, die man in der Fremde allerdings mit seinen zurückgebliebenen Freunden nicht mehr teilen kann, und geht bis zu einem Gefühl der Entfremdung, das auch nach Jahren nicht weichen will: „Stets wird der Geflüchtete vorgestellt als einer, der einst von woanders kam. Der spät in einer Winternacht in den Gasthof trat. Der nicht eingeladen war. Ein Mündel, dem ein Teller Suppe vorgesetzt wurde, weil es sich so ziemt.“

Mag Heimat letzten Endes auch nur eine Illusion sein – sie loszuwerden ist dennoch unmöglich. Sie wird dem Flüchtling „nachgetragen wie ein abgenutztes Hemd, das er zurückgelassen hat“. Und gibt ihm auch Jahre nach der Flucht eine epochale politische Wende die Gelegenheit, besuchsweise in das Land seiner Geburt zurückzukehren, so kann er unter den einst Zurückgebliebenen nicht mehr heimisch werden: „Auf dem Rückflug freut er sich, bald wieder nach Hause zu kommen.“

Wie all diesen „Verstörungen“ begegnen? Nostalgie, weiß Trojanow, ist der falsche Weg, denn „Nostalgie hat für jeden Widerspruch eine Erklärung“. Sich ihr hinzugeben, nur noch in Gedanken an das Vergangene sich lebendig zu fühlen, vermag vielleicht in Momenten größter Einsamkeit zu trösten, am Sich-fremd-Fühlen in der Gegenwart ändert die Verklärung des Gewesenen auf Dauer freilich nichts. Ob ein gesunder Pragmatismus – „Unsere Heimat ist da, wo wir gern gesehen sind, wo wir Arbeit und Brot finden.“ – das Leben in der Fremde auf Dauer erträglicher werden lässt, den Geflüchteten bei den Einheimischen willkommener macht, steht ebenfalls dahin. Also muss ein anderer Weg her.

Trojanows Text deutet ihn in dem Gleichnis vom Zusammenfließen zweier Flüsse an, des Rio Negro und des Rio Solimões. Von Grund auf verschieden, was ihre Fließgeschwindigkeiten, Wassertemperaturen und pH-Werte betrifft, der eine jede Menge Sand, der andere vor allem Schlamm und Lehm mit sich führend, sind bereits 20 Kilometer, nachdem sie sich zum gewaltigen Amazonas vereinigt haben, sämtliche Hinweise auf ihre einstige Eigenständigkeit verschwunden: „Die Gewässer sind eins geworden, ein neuer Fluss ist entstanden, mit eigenem pH-Wert, mit spezifischer Temperatur und Geschwindigkeit, der sowohl Schlamm als auch Sand mit sich führt.“ Hier verbirgt sich die Utopie eines Ankommens im Neuen, das nicht nur den Ankommenden verändert, sondern dessen Stempel auch den Einheimischen prägt, wobei das gegenseitige Geben und Nehmen den einen wie den anderen verändert.

„Die Menschheit kann nur kosmopolitisch überleben“, heißt es gegen Ende des zweiten Teils von Ilija Trojanows Buch. Damit wird all jenen entgegnet, die in Ab- und Ausgrenzung ihr Heil suchen, nationalistische Ressentiments pflegen und Eigensinn vor Gemeinsinn stellen. Probleme, die die Welt betreffen, im Krähwinkel zu lösen, führt zu keiner Lösung, sondern nur zu neuen, noch größeren Problemen. Stattdessen gilt es, die Chance zu begreifen, die die Ankommenden verkörpern, und die Gefahr nicht in der Überfremdung, sondern im Fehlen des fremden Blicks zu sehen. Oder, um mit Trojanow zu sprechen: „Erst wenn er sich von den Zuschreibungen der Herkunft und den Zumutungen der Ankunft losgelöst hat, ist der Geflüchtete wirklich frei.“

Titelbild

Ilija Trojanow: Nach der Flucht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
125 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972962

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