Eine zweifache Alteritätserfahrung zwischen Exil und Identitätssuche

Mit „Désorientale“ hat Négar Djavadi einen fesselnden Debütroman vorgelegt

Von Jeanne WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jeanne Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Négar Djavadi ist nie nur eines, sondern in einer Person immer beides. Gebürtige Iranerin und lange schon Französin, Regisseurin und eben auch Autorin. Und so ist auch ihr erster Roman auf dem Modell einer zweiseitigen Schallplatte aufgebaut: Auf der A-Seite entfaltet sich ein episch wirkender Familienroman, während die B-Seite, „la petite sœur ingrate“, einen intimeren und politischeren Einblick in die Geschichte gewährt. Die Identitätssuche von Kim „la désorientale“ knüpft an das Exilerlebnis der Iranerin Kimiâ an; ihre individuelle Geschichte fügt sich in die Familiengeschichte ein, die wiederum einen Teil der Geschichte des Iran darstellt. So bewegt sich der Roman zwischen Orient und Okzident, zwischen dem Teheran der 70er Jahre und dem zeitgenössischen Frankreich, zwischen ‚tausend und einem’ iranischen Leben und der Geschichte einer Frau, die nach ihrem Platz sowohl in ihrer Familiengeschichte als auch in der Gesellschaft sucht.

Im Wartesaal einer Pariser Klinik wartet Kimiâ – auch Kim genannt – auf eine künstliche Befruchtung. Die um sie herrschende Stille löst bei ihr Erinnerungen aus: Sie stellt sich einen solchen Warteraum in ihrem Geburtsland, dem Iran, wie eine mit geheimnisvollem Plaudern und heiterem Lachen gefüllte Karawanserei vor. In Anlehnung an das orientalische Märchen Tausend und eine Nacht und Scheherazades mündliche Erzählkunst berichtet die Ich-Erzählerin mit vielen Abschweifungen, die die chronologische Reihenfolge der Ereignisse aufheben, von zahlreichen Familienanekdoten, die sich überkreuzen und eng miteinander verstrickt werden.

Mais la vérité de la mémoire est singulière. La mémoire sélectionne, élimine, exagère, minimise, glorifie, dénigre. Elle façonne sa propre version des événements, livre sa propre réalité. Hétérogène, mais cohérente. Imparfaite, mais sincère. Quoi qu’il en soit, la mienne charrie tant d’histoires, de mensonges, de langues, d’illusions, de vies rythmées par des exils et des morts, des morts et des exils, que je ne sais trop comment en démêler les fils.

Das Erzählen spielt eine wesentliche Rolle als sinngebendes Mittel zur Deutung der Familiengeschichte und geht einher mit der Erinnerungsarbeit, die vom Exilerlebnis ausgeht – auf den engen Zusammenhang zwischen Erinnerung und Exil hat bereits Edward Said in seinen Reflections on Exile hingewiesen.

Kimiâ vergegenwärtigt sich die Familiengeschichte und greift in ihrer Erzählung, dem Genre des Familien- bzw. Generationsromans entsprechend, bis zu vier Generationen weit zurück: Sie verfolgt die Geschichte der Familie Sadr vom Harem ihres Urgroßvaters Montazemolmolk, Herrscher über eine abgeschiedene persische Provinz, bis zur Abfahrt ihrer Familie nach Frankreich. Dabei zeigt sie zum einen den großen Einfluss der politischen Ereignisse auf das Schicksal ihres Vaters Darius, der als frankophiler Intellektueller zunächst Gegner des Schahs und in der Folge Gegner von Khomeiny ist und einen wichtigen Fluchtpunkt des Romans bildet. Der offene Brief, den er 1976 an den Shah Mohammad Keza Pahlavi richtete, wird die Familie dazu führen, nach Frankreich zu fliehen. Am Ende des Romans erfährt man, dass sein Tod – „das Ereignis“ („l’événement“), das vom Romananfang immer weiter verschoben wird – mit der methodischen Ermordung der politischen Gegner im Ausland durch die Islamische Republik Iran zwischen 1985 und 1995 verbunden ist. Neben Darius tauchen weitere Figuren auf, wie Kimiâs Mutter Sara, die ihren Mann bedingungslos unterstützt, die beiden Schwestern Leïli und Mina, die Onkel, die von 1 bis 6 (plus 1) durchnummeriert werden, die Groß- und Urgroßeltern väterlicher- und mütterlicherseits.

Dabei geht Kimiâ auf Familienmythen und -geheimnisse ein und fragt nach den Bedingungen der Abstammung und des Erbes. Sie weist auf die problematische Stellung der Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft hin, in der diese kaum Rechte besitzen. Als Kind stellt sie mit Erstaunen fest, dass die Namen der Frauen auf dem Familienstammbaum gar nicht vorkommen. Das Problem der Norm taucht aber nicht nur in Verbindung mit dem Geschlecht auf, sondern auch mit einem bestimmten und wesentlichen Erbkriterium, das innerhalb der Familie Sadr zu einem echten Familienmythos geführt hat, nämlich den blauen Augen: „Les yeux bleus devinrent une marque de fabrique, un label, un certificat d’authenticité.“ Darauf wird von bestimmten Familienmitgliedern so großen Wert gelegt, dass sie manchmal, wenn dieses Merkmal fehlt, unfähig sind, jegliche Familienähnlichkeit zu erkennen. Somit wirft die Erzählerin ausgehend von der Abstammungsgeschichte der Familie die Frage nach der Alterität und der marginalen Identität auf, die im zweiten Romanteil hinsichtlich Kimiâs eigener Identitätssuche weiter entfaltet wird. „Donc… Non seulement j’étais une fille, mais je n’avais pas hérité des yeux bleus de Darius.“

Durch das Erzählen erweist sich Kimiâ als Bewahrerin des Familiengedächtnisses, so wie ihr Onkel Saddeq („l‘oncle numéro 2“) es vor ihr war. Mit ihm teilt sie nicht nur diese wichtige Bewahrerrolle und die Kunst des Erzählens, sondern auch etwas ‚Unsagbares’: Beide sind homosexuell und damit durch eine Andersartigkeit, die im Iran strikt tabu ist, gekennzeichnet. In diesem Land, in dem Homosexualität völlig verleugnet wird – Djavadi zitiert die 2007 geäußerte Behauptung Mahmoud Amadinejads, es gäbe im Iran keine Homosexuellen –, greift Saddeq auf die Strategie des Erzählens zurück, um die eigene Identität und die Lüge, auf der sein Leben beruht, zu verbergen. Seine eigene Geschichte verbirgt er hinter derjenigen seiner Familie; das Unsagbare seines Schicksals versteckt er hinter der Fiktion und dem wiederholten Erzählen: „Et surtout, je déteste mentir sur ma vie (et pourtant je le fais) ; ce même mensonge avec lequel Saddeq avait façonné la sienne. Le fait de s’être octroyé le rôle du dépositaire de la mémoire familiale me paraît aujourd’hui comme une ruse astucieuse, une manière habile d’éviter de parler de lui, des tumultes intérieurs […].“

Kimiâs Erkenntnis, dass sie homosexuell ist, fällt genau mit dem Aufbruch der Familie ins Exil zusammen. Sie macht daher eine doppelte Alteritätserfahrung durch: Gleichzeitig verliert sie ihre Kultur- und Identitätsorientierung. Sie ist aber nicht nur desorientiert („désorientée“), sondern wird durch den Integrationsprozess auch „entorientalisiert“ („désorientalisée“) und neugeboren:

À vrai dire, rien ne ressemble plus à l’exil que la naissance. S’arracher par instinct de survie ou par nécessité, avec violence et espoir, à sa demeure première, à sa coque protectrice, pour être propulsé dans un monde inconnu où il faut s’accommoder sans cesse des regards curieux.

Eine Zeit lang sucht sie Zuflucht in Musik und Außenseitertum. Doch findet sie allmählich den Weg zum Erzählen ihrer Geschichte, und erreicht dadurch, Tabus aufzudecken, zu überschreiten und so die Familiengeschichte zu bearbeiten. Im Gegensatz zu ihrem Onkel ermöglichen ihr das Sagen und Erzählen in einem anderen Kontext, sich auf die Suche nach der eigenen Identität zu machen und somit ihre Besonderheit als homosexuelle Frau zwischen zwei Kulturen, Ländern und Sprachen zu offenbaren und bekräftigen.

Folglich ist das Emigrationsland nicht nur ein Ort des Exils und der Enteignung, sondern auch ein Ort, der Wörter und Sprache, d.h. eine gewisse Potenz, bietet, um die eigene Alterität und Differenz auszudrücken und zu definieren: Im Iran fehlt das Wort „lesbisch“, weshalb erst das Exil es der Jugendlichen Kimiâ ermöglicht, diese Wortbedeutung konkret zu erforschen. Als junge Frau gelingt es ihr auch, die Zeichen, die seit ihrer Geburt auf ihre Differenz hinweisen, zu entschlüsseln. Ihre Großmutter mütterlicherseits deutet Kimiâs Geburt zum Beispiel esoterisch-abergläubisch: Kimiâ sei ein Junge gewesen, der sich kurz vor seiner Geburt wegen des zeitgleichen Todes der Großmutter väterlicherseits Nour in ein Mädchen verwandelt habe: „Kimiâ est une fille certes, mais une fille en apparence. À l’intérieur, Kimiâ est un garçon, le garçon qu’elle aurait dû être si Nour n’avait pas rendu son dernier souffle alors qu’elle cherchait le sien.“

Nach langwierigem Umherirren nimmt Kim letztendlich ihre Differenz und Besonderheit an, was als eine notwendige Bedingung zur Entstehung des eigenen Kinderwunsches erscheint. Somit schreibt sie sich in die Folge ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern in den Familienzyklus der Geburten und Tode ein, wobei Offenheit und Freiheit hervorgehoben werden: „[…] parce que les enfants sortent de nous, mais ne sont pas obligés de nous ressembler, pas vrai ?“

Durch ihre Alterität stellt Kimiâ/Kim in mancher Hinsicht eine hybride Figur dar. Sie befindet sich sowohl am Rande der iranischen als auch der französischen Kultur; sie ist weder völlig fremd (Französisch hat sie schon in der Schule in Teheran gelernt) noch Französin. Daher betrachtet sie beide Kulturen kritisch und liebevoll zugleich und stellt von der Perspektive ihrer eigenen Außenseiterposition aus eine gewisse Unbeständigkeit der kulturellen Identitäten fest. Sie bevorzugt, im Gegensatz zu einer begrenzten und festen, eine komplexe, durch Nuancen, Variationen und Diversität gekennzeichnete Identität, die über nationale Grenzen und Zugehörigkeiten hinausgeht: „Je me réinventais au gré de mes humeurs, de l’intensité de la lumière ou des verres de bière avalés, en m’étonnant de constater à quel point un même individu peut être envisagé différemment selon l’histoire dans laquelle il décide de s’inscrire.“

In Désorientale bewegt sich die Konstitution der Identität nicht nur über die Kulturen und Sprachen, sondern auch über traditionelle und konservative Geschlechterrollen hinaus: „Bref, le désir étant incessamment mouvant, si tant est qu’on lui prête attention, les variations sont infinies.“ Betont wird die Vielfalt der Möglichkeiten, aus denen ein Individuum geformt wird.

Djavadis glanzvolles Erzählen, das sowohl der orientalischen als auch der westlichen Tradition viel verdankt, bietet tiefe und zeitgemäße Reflexionen über Exil und Identität. Désorientale ist daher nicht nur die atemberaubende Erzählung einer Identitätssuche, sondern auch ein von Menschlichkeit zeugendes Plädoyer für Toleranz, die Vielschichtigkeit von Erbe und Identität sowie für ein fruchtbares Zusammentreffen von Kulturen. Der Roman ist eine Hymne an die Freiheit, Vielfältigkeit und Offenheit gegenüber Andersartigkeit: „[…] chacun est libre d’être ce qu’il est, de désirer ce qu’il désire, de vivre comme il l’entend, à condition de ne pas nuire à la tranquillité d’autrui et à l’équilibre général.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Négar Djavadi: Désorientale.
Französisch.
Éditions Liana Levi, Paris 2016.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9782867468346

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