Kalter Krieg und heiße Liebe

Über eine umgearbeitete Fassung von Bodo Kirchhoffs „Mexikanische Novelle“

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst letzten Jahres ist Bodo Kirchhoff für seine Novelle Widerfahrnis mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Erstaunlich ist an der Buchpreisverleihung nicht so sehr, dass Bodo Kirchhoff für seine jüngste Novelle die Auszeichnung erhalten hat – bei einer doch insgesamt nicht durch literarische Hochkaräter bestechenden Konkurrenz auf der Shortlist –, sondern dass er ihn nicht für einen seiner letzten beiden fulminanten Romane Die Liebe in groben Zügen (2012) oder Verlangen und Melancholie (2014) erhalten hat. Denn so, wie manchem Autor besser die erzählerische Kleinform als der große Romanwurf gelingt, ist Kirchhoff am überzeugendsten auf der literarischen Langstrecke.

Dass er indessen auch die kürzere Form der Novelle meisterhaft beherrscht, beweist seine Neubearbeitung der Mexikanischen Novelle nachdrücklicher als seine jüngste Erzählung Widerfahrnis. Ob der Autor und sein Hausverlag, die Frankfurter Verlagsanstalt, bereits vor der Buchpreisverleihung an eine Neuausgabe seiner 1984 zum ersten Mal erschienenen Mexikanischen Novelle gedacht haben, mag dahingestellt bleiben. Ganz sicher wird sich für beide die Neupublikation im Fahrwasser des Buchpreises lohnen – der Aufwand für die vom Verlag so beworbene „Neufassung“ dürfte sich in Grenzen gehalten haben. Im Wesentlichen ist der Textbestand gleich geblieben, was angesichts der Qualität der Erzählung und ihren historischen Wert für die Literaturgeschichte der 1980er-Jahre auch gut ist. Es gibt zwar in der Neufassung keine Anachronismen wie Smartphones oder Tablets und der zeitgeschichtliche Hintergrund der frühen 1980er Jahre bleibt als eigentliches Thema des Textes erkennbar.

Gleichwohl hat Kirchhoff ein wenig an der Sprache, Syntax und Erzählanlage gefeilt: Im Vergleich zur Erstausgabe ist die Neubearbeitung sprachlich bisweilen deutlich straffer und härter im Stil und ebenso auffällig von zahlreichen geheimnisvollen, proleptischen Passagen und Einschüben gekennzeichnet, die den Text insgesamt zu einem Werk mit zahlreichen Leerstellen und den Ich-Erzähler zu einem Protagonisten machen, der die Begegnungen, Situationen und Erlebnisse, die ihm widerfahren, nicht so recht einzuschätzen und zu deuten weiß.

Als Kolumnist für ausführliche Porträts der Breisgauer Zeitung reist der Ich-Erzähler auf einen US-Amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in die Nähe der Mexikanischen Grenze, um den deutschen Offizier Ritzi zu interviewen, der gerade in der sprachlichen Neufassung dämonische und unheimliche Züge erhält und nur zu sich selbst finden kann, wenn er fliegt. Der journalistische Auftrag gerät allerdings schnell in den Hintergrund, als der Ich-Erzähler den Reizen der Mexikanerin „Baby Ophelia“ verfällt und sein Begehren sich zu einer regelrechten Besessenheit auswächst. Die Machenschaften ihres Bruders, die angespannte politische Situation und das Auftauchen Ritzis in seinem mexikanischen Hotelzimmer bis hin zu seiner Verhaftung als vermeintlicher Mörder Ritzis bleiben zwar für den Leser logisch nachvollziehbar, doch scheint der Ich-Erzähler die eigene Rekapitulation seiner Erlebnisse nicht einordnen und ihnen auch keinen Sinn geben zu können.

Genau darin liegt der zeithistorische und literarische Wert von Kirchhoffs Erzählung, insofern die realistischen Schilderungen von einem symbolischen Subtext begleitet werden. Vom Ich-Erzähler erfährt man nicht sonderlich viel. Als Kind eines Apotheker-Ehepaars, das bei einem Autounfall tödlich verunglückte, wächst er dennoch in behüteten Verhältnissen auf und ist als Erwachsener politisch eher links-liberal und in der pazifistischen Bewegung der frühen 1980er-Jahre zu verorten, was seinen Auftrag, einen deutschen Luftwaffenoffizier zu porträtieren, umso merkwürdiger macht. Hier werden ideologisch konträre Positionen anhand von Figuren literarisiert und zusammengeführt, die gleichsam die gesamtgesellschaftlichen und transnationalen politischen Lager abbilden. Wer heute an existenzielle Bedrohungen nicht nur des Individuums, sondern der gesamten Menschheit angesichts verhärteter politischer Fronten denkt, mag vor allem an die Kuba-Krise von 1962 denken. Tatsächlich sind aber gerade die späten 1970er-und frühen 1980er-Jahre von gegenseitigen Aufrüstungsdrohungen der Kalten Kriegermächte und in Deutschland besonders virulent seit dem Nato-Doppelbeschluss von der Angst eines Atomkrieges geprägt – nicht zufällig thematisiert auch im Unterhaltungsbereich das Siegerlied des Eurovision Songcontest von 1982 mit Nicoles Ein bisschen Frieden diese allgemeine mentalitätsgeschichtliche Anspannung und die Sehnsucht nach Abrüstung und Frieden.

Es macht den dokumentarischen Wert dieser Erzählung aus, dass der Ich-Erzähler am Ende im Gefängnis mit der Zuneigung zu einem Mitinhaftierten nur eine kurze sexuelle Erlösung findet, die reale Bedrohung seiner Existenz aber eben nicht aufgelöst wird, sondern vielmehr wohl mit seiner Auslöschung zu rechnen ist. Die „Sprache der Liebe, die jeder versteht“ und die damit verbundene „Zeremonie des Erlösens“ sind für den Ich-Erzähler am Ende im Gefängnis und angesichts des drohenden Todes ebenso beruhigende wie utopische Einsichten und Hoffnungen, deren Einlösung auf internationaler politischer Ebene noch auf sich warten ließen.

Titelbild

Bodo Kirchhoff: Mexikanische Novelle.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2017.
180 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002367

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