Hinterm Horizont geht’s weiter

Dirk von Petersdorff schlägt einen lyrisch-musikalischen Bogen von der Romantik über Udo Lindenberg bis zum Hip-Hop

Von Christian PalmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Palm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie Dirk von Petersdorff im Untertitel seines nur 113 Seiten umfassenden Buches In der Bar zum Krokodil ankündigt, untersucht er „Lieder und Songs als Gedichte“, betont also vor allem deren lyrische Dimension. Den ungewöhnlichen Haupttitel hat der Jenaer Literaturwissenschaftler einem Lied der Comedian Harmonists entliehen, die seit Ende der 1920er-Jahre große Erfolge als Vokalensemble im In- und Ausland verzeichneten, bis sie wegen ihrer drei jüdischen Mitglieder im Nationalsozialismus mit einem Auftrittsverbot belegt wurden und sich in der Folge auflösten. Die 1920er-Jahre, in denen auch (schon) Marlene Dietrich und (noch stets) Stefan George kulturell aktiv waren und Die Dreigroschenoper entstand, bilden die zweite von drei Phasen aus der Geschichte des Liedes, mit denen sich die Studie befasst. Die erste Phase beginnt mit der „Bearbeitung“ beziehungsweise „Erfindung“ alter Lieder durch den romantischen Dichter Clemens Brentano und endet mit Heinrich Heines „Wende zur Ironie“; die dritte Phase setzt mit Udo Lindenbergs früher Musik aus den 1970er-Jahren ein und erstreckt sich bis in die Gegenwart.

Nach einer allgemeinen Einleitung, in der leider eine Begründung der Epochenauswahl fehlt, und einigen theoretischen Anmerkungen im zweiten Kapitel folgen zwölf weitere, die in chronologischer Reihenfolge jeweils einer Person, einer Musikgruppe und zuletzt einer Musikrichtung, dem Hip-Hop, gewidmet sind. Neben den bereits genannten Künstlern und Werken befassen sich die Analysen auch mit Liedern von Joseph von Eichendorff sowie der Bands Tocotronic, Wir sind Helden, Element of Crime und Die Fantastischen Vier. Auf den beiden letzten Seiten geht es schließlich noch um den Freundeskreis-Hit A-N-N-A (1997) sowie dessen „Beziehung zur Lyrikgeschichte“, aus der das titelgebende Palindrom stammt. So hat die Stuttgarter Hip-Hop-Band um Max Herre die Idee eines ‚Anna‘-gramms, das „von hinten, wie von vorne“ gelesen werden kann, aus Kurt Schwitters’ dadaistischem Gedicht An Anna Blume übernommen. Da von Petersdorff auf ein Fazitkapitel verzichtet, schließt sein Buch mit einer Anmerkung zu Freundeskreis: „Wer Kurt Schwitters weiterrappt, kümmert sich nicht um die Grenzen von Hoch- und Volkskultur, von Avantgarde und Pop, von E und U. Liedern und Songs war es immer eine Lust, diese Grenzen zu überspielen.“ In diesen Schlusssätzen wird ein Aspekt unterstrichen, der zugleich die größte Stärke des gesamten Buches ausmacht. Dass kanonisierte Dichter der ‚hohen‘ Literatur und Vertreter der Populärkultur in ein und demselben Buch besprochen werden, ist in der akademischen Welt zwar nicht neu, aber nach wie vor eher unüblich – und das, obwohl diese Grenze in der kulturellen Praxis, nicht nur in der Musik, zunehmend durchlässig geworden ist und sich aufzulösen scheint. Gerade weil es „hinterm Horizont“ der vermeintlichen Hochkultur „weitergeht“, wie man in Anlehnung an eine Liedzeile des schon erwähnten Lindenberg sagen könnte, ist von Petersdorffs Blick über den Tellerrand einer traditionell aufgefassten Germanistik per se begrüßenswert. Damit wäre aber auch schon das Beste zu diesem Buch gesagt, das ansonsten einige Qualitätsmängel aufweist.

Doch der Reihe nach: Da das Buch mit dem (sicherlich nicht unberechtigten) Befund beginnt, dass zwar „jeder etwas“ mit den Begriffen „Lied“ und „Song“ anzufangen wisse, dabei aber an „höchst unterschiedliche Erscheinungen“ denke, geht das zweite Kapitel auf die Frage „Was ist ein Lied?“ ein. Ob es möglicherweise Unterschiede zwischen „Lieder[n] und Songs“ gibt oder ob die Doppelwendung des Untertitels bloß eine Tautologie ist, wird nicht aufgeklärt. Stattdessen zitiert der Autor an dieser Stelle drei Lieddefinitionen aus dem von Dieter Lamping herausgegebenen Handbuch der literarischen Gattungen. Erstens wird das Lied als „Zusammenspiel von Text und Musik“ ausgewiesen. Obwohl hier von einer „Medienüberschreitung“ die Rede ist, wartet der Leser vergeblich auf eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Intermedialität, das sich seit etwa zweieinhalb Jahrzehnten als Forschungsparadigma in den Kultur- und Literaturwissenschaften etabliert hat und für die Studie wichtig gewesen wäre. Während Irina O. Rajewsky „die Frage nach den Formen und Funktionen der Zusammenführung unterschiedlicher medialer Systeme“ bereits in ihrem Standardwerk Intermedialität aus dem Jahr 2002 als wesentlich für die Beschäftigung mit Phänomenen der „Medienkombination“ wie etwa der Liedgattung erachtete, findet der Begriff Intermedialität bei von Petersdorff nicht einmal Erwähnung.

Die zweite Lieddefinition, die der Verfasser aus Lampings Handbuch entlehnt, betrifft das Kunstlied, „dem die Musik nur zum Zwecke einer nachträglichen Vertonung hinzugefügt wurde“. Drittens wird das Lied als „eine Untergattung der Lyrik“ eingeführt, „die sich zwar formal in die Tradition des Strophenliedes stellt, jedoch weder auf Musik oder Gesang bezogen noch auf sie angewiesen ist“. Als Beispiel wird hier zum ersten Mal Heinrich Heine erwähnt, dem später noch eine wenig begründete Scharnierfunktion zwischen den Kapiteln und Epochen zukommt. So wird über Heines innovative Reimtechnik, die unter anderem den Gebrauch von Fremdwörtern beinhaltet, ein Bogen zu den Comedian Harmonists geschlagen, die „geradezu eine Entfesselung des Reims“ betrieben hätten. Daneben dient das Symbol des Nachtigallengesangs als Verbindungsstück zwischen Heines Liedern und dem Kapitel mit dem Titel „Die Nachtigall singt wieder: Udo Lindenberg“. Der singuläre Bezug auf Lindenberg, der laut dem Autor auch noch eine eigene „Kunstsprache“ entwickelt hat, „die tatsächlich niemand spricht: außer Udo Lindenberg“, ist als Beweis für eine „Kontinuität der Themen“ und ein bei vielen Songwritern ausgeprägtes „Bewusstsein von der langen Geschichte des Lieds“ allerdings viel zu dürftig.

Da selbst Größen des Deutschrocks wie Peter Maffay oder Marius Müller-Westernhagen nicht berücksichtigt wurden, stellen sich hier – wie übrigens im ganzen Werk – Fragen nach der Zusammenstellung und der Repräsentativität des Korpus. Hierzu schweigt sich der Verfasser jedoch weitgehend aus. Seine Ausführungen zur zweiten Epoche, den 1920er-Jahren, enden immerhin mit dem knappen Hinweis, dass „die Lieder und Songs von den Comedian Harmonists bis zum späten George“ aufgrund ihrer Fortsetzungsfähigkeit für das Werk „interessanter“ gewesen seien als die von „Aggression und Hass“ gekennzeichneten Lieder der NS-Zeit. Wenn im Schlusskapitel aber behauptet wird, dass der Rap im „Bereich der populären Musik […] zuletzt die größten Innovationen hervorgebracht“ habe, ist erneut nicht nachzuvollziehen, warum dies nur anhand zweier „Klassiker des Genres“ aus den 1990er-Jahren belegt werden muss. Die deutschsprachige Hip-Hop-Musik endet jedenfalls nicht mit Sie ist weg von den Fantastischen Vier und A-N-N-A von der vor zehn Jahren aufgelösten Gruppe Freundeskreis, sondern hält – gerade aufgrund ihrer Innovationskraft – viele jüngere, ebenso salonfähige Beispiele wie Marteria, Prinz Pi, Cro oder MoTrip bereit, die gegenwärtig Teil der Jugendkultur in Deutschland sind.

Um aber auf die noch offene Frage „Was ist ein Lied?“ zurückzukommen, muss leider ergänzt werden, dass sich der Verfasser letztlich für keine der drei von ihm zitierten Definitionen explizit entscheidet. Da er die dritte Definition, wonach das Lied eine Untergattung der Lyrik ist und „auf einer Ebene mit dem Sonett oder der Ode“ steht, aber mit Johann Gottfried Herder noch weiter ausführt, könnte man als Leser fast geneigt sein, hier die theoretische Grundlage der Studie zu vermuten. Ob dies stimmt, bleibt aber unklar; und ob die Pop-und Rocksongs von Wir sind Helden oder Tocotronic tatsächlich als bloße Gedichte ohne Musik oder Gesang funktionieren und in dieser Form überhaupt wünschenswert sind, ist noch einmal eine ganz andere Frage. Auch wenn die Studie von einem Literaturprofessor verfasst wurde, ist sie aus literaturwissenschaftlicher Sicht unbefriedigend. Wer (fast) ohne theoretisches Rüstzeug auszukommen glaubt, macht sich wissenschaftlich – auch in den Kulturwissenschaften – angreifbar. „Wie aber ein wirklich freier oder auch wilder Umgang mit alten Liedern aussieht“, zeigt sich eben nicht nur in dem Eingreifen Brentanos in alte Texte, auf das dieser Satz eigentlich gemünzt ist, sondern auch in von Petersdorffs Buch. Nicht nur, aber auch aufgrund der theoretischen Versäumnisse bleiben einige Liedanalysen oberflächlich beziehungsweise frei und wild. Zu Eichendorffs Gedicht Mondnacht beispielsweise, das mit dem Vers „Als flöge sie [die Seele] nach Haus“ endet, lautet das Fazit:

So kann ein gläubiger Mensch dieses Lied genauso zustimmend hören wie ein religiös skeptischer Mensch. Es ist für Hörer mit unbestimmten Sehnsüchten nach Zugehörigkeit genauso geeignet wie für philosophisch informierte Leser, die um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis wissen. […] Das Lied gibt keine Gewissheit, sondern sagt: Denkt über Gewissheit nach, sucht nach ihr, empfindet sie in besonderen Momenten!

Bei der Lektüre dieser und ähnlicher Zeilen wünscht man sich, dass sich auch der Verfasser mehr Zeit zum Nachdenken gegönnt hätte und damit dem zweifellos interessanten Thema besser gerecht geworden wäre.

Titelbild

Dirk von Petersdorff: In der Bar zum Krokodil. Lieder und Songs als Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
113 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835330221

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