Die Leidenschaft des Schreibens

Über Rüdiger Schnells Streitschrift wider die „History of emotions“

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Geschichtsschreibung handelt von Leidenschaften; doch wenn sie selbst leidenschaftlich sein will, hört sie auf, Geschichtsschreibung zu sein. Der Historiker darf sich die Gefühlswallungen, das Wüten und die Raserei, die er beschreibt, nicht zu eigen machen. Seine Anteilnahme ist eine intellektuelle und imaginative, keine emotionale“. Dieses erkenntnistheoretische Credo formulierte der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Versuch über den Menschen, der 1944 im amerikanischen Original als An Essay on Man veröffentlicht worden war. In diesem letzten zu Lebzeiten erschienenen Werk brachte Cassirer noch einmal seine gesamte Philosophie des Menschen als einem animal symbolicum auf den Punkt. Die Fähigkeit, Symbole zu setzen und zu verstehen, ermögliche dem Menschen, Wirklichkeit zu gestalten. Und in diesem Sinne war seine Theorie der Geschichtswissenschaft weit mehr als eine bloße Variante jenes „sine ira et studio“, dem sich schon Tacitus im Proömium seiner Annalen zu Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts verschrieben hatte. Für Cassirer ging es in der Geschichte um Leidenschaften, die der Historiker wiederum leidenschaftslos abhandeln müsse, und nur, wenn er diese methodische Vorsichtsmaßnahme beherzige, könne das oberste Ziel historischer Erkenntnis, das menschliche Leben zu begreifen, erreicht werden.

Der Mediävist Rüdiger Schnell, emeritierter Professor für Deutsche Philologie an der Universität Basel und exzellenter Kenner der mittelalterlichen Literaturgeschichte, hat sich in der vorliegenden, mehr als 1.000 Seiten umfassenden und methodisch wie inhaltlich beeindruckenden Monografie demgegenüber dafür entschieden, die von Cassirer empfohlene Zurückhaltung in Sachen Leidenschaft aufzugeben. Er setzt sich darin leidenschaftlich, pointiert und bisweilen polemisch auf kritische Art und Weise mit der neueren Historischen Emotionsforschung auseinander; einem Zweig der Geschichtswissenschaften, der in den letzten Jahren institutionell wie inhaltlich expandiert hat und der den unzähligen Neuorientierungen zuzurechnen ist, mit denen uns die Kulturwissenschaften permanent beglücken. Schnell geht es darum, die „aktuelle Historische Emotionsforschung auf ihre Erkenntnisinteressen und -möglichkeiten hin zu befragen“, ihre Theorien, Thesen, Begriffe und Methoden zu beleuchten und ihre zentrale Annahme zu überprüfen, dass Gefühle eine Geschichte haben. Es waren im Wesentlichen drei Beweggründe, die den Autor zu seiner Streitschrift mit dem Titel Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of emotions veranlasst haben: erstens die Barrieren zwischen Mediävisten und Neuzeithistorikern, die die Historische Emotionsforschung zu vielen irreführenden Periodisierungen und Diskontinuitätsbehauptungen verleiteten, zweitens ihre fehlende Berücksichtigung von sprach- und literaturwissenschaftlichen Perspektiven, die insbesondere in der unterlassenen Kontextualisierung der benutzten Quellen und einer letztlich willkürlichen Verknüpfung unterschiedlicher Textgattungen zum Ausdruck komme, und drittens das Unverständnis über ein geschichtswissenschaftliches Feld, das eine derartig unzulängliche, wenn nicht gar epistemologisch unmögliche Unterdisziplin wie die History of emotions zu einem florierenden Forschungsgegenstand werden lasse.

Schnells Streitschrift besteht aus insgesamt elf unterschiedlich langen Kapiteln, in denen er nahezu alle nur erdenklichen Studien der Historischen Emotionsforschung ausführlich paraphrasiert und kritisiert. Seine Methode ist am besten als close reading zentraler Texte zur History of emotions zu bezeichnen, die er durchgängig mit den Ergebnissen der literaturwissenschaftlichen Mediävistik im Allgemeinen und eigenen einschlägigen Monografien und Aufsätzen im Speziellen kontrastiert (diese nehmen im Literaturverzeichnis drei Seiten ein!). Darüber hinaus hinterfragt er die theoretischen Grundannahmen der kritisierten Texte und hat sich in die diversen Spielarten des sozialen Konstruktivismus vertieft, der ihnen in aller Regel zugrunde liegt. Auf diese Art und Weise gelingt es ihm, die Aporien der History of emotions überzeugend herauszuarbeiten. Diese resultieren, vereinfacht gesagt, aus einer weitgehenden Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, also dem Versuch, die Gefühle selbst zu analysieren, der jedoch an dem Sachverhalt scheitere, dass die zur Verfügung stehenden Quellen nur nachträgliche (sprachliche) Repräsentationen seien. Darüber hinaus schaffe sich die Historische Emotionsforschung ihren Gegenstand selbst, indem sie nicht etwa nach einem definitorisch vorgegebenen Phänomen suche, sondern Verhaltensweisen, Einstellungen und Praktiken darunter subsummiere. Beide Probleme, also die quellenbedingte Unmöglichkeit, an den Gegenstand der „wirklichen Gefühle“ heranzukommen, sowie die selbstreferentielle Gegenstandskonstitution sind für Historiker nichts Neues. In ihnen manifestiert sich die „anwesende Abwesenheit der Vergangenheit“ (Achim Landwehr), also die zentrale Paradoxie der Geschichtswissenschaft, einen Gegenstand bearbeiten zu müssen, der vergangen ist und nicht mehr existiert. Insofern sind Emotionen ein ebenso unmöglicher historischer Gegenstand wie jeder andere.

Schnells wesentliches Verdienst besteht insofern nicht darin, diese Unmöglichkeit aufzuzeigen (seine Ausführungen dazu sind im Gegenteil eher redundant), sondern vielmehr in dem Nachweis, auf welche unzulängliche Art und Weise die History of emotions die Paradoxien ihres Gegenstandes glättet und in sinntriefende Narrationen einbettet, die mitunter eschatologische Züge annehmen („Emotionen machen Geschichte“ oder „Emotionen sind geschichtsmächtig“). Zwei Beispiele: In einer 2006 veröffentlichten Monografie, deren Untersuchungszeitraum sich auf das sechste und siebte nachchristliche Jahrhundert erstreckt, hat die amerikanische Mediävistin Barbara H. Rosenwein das Konzept der „emotional communities“ in die Historische Emotionsforschung eingeführt, das Schnell auf mehr als 70 Seiten seziert. Grundlage ihrer semantischen Analysen sind die einschlägigen Emotionswörter, Grabinschriften dreier gallischer Städte (Trier, Vienne, Clermont), die Schriften Papst Gregors des Großen sowie Briefanreden und Heiligenviten. Kapitelweise geht Schnell Rosenweins Monografie durch, arbeitet die Probleme des von ihr benutzten Materials heraus, kritisiert ihre Vernachlässigung textwissenschaftlicher Aspekte und widerlegt viele ihrer Argumente. Er kommt zu dem gut begründeten Schluss, dass Rosenweins Analyse „bei dem Nachweis von Vorstellungen, Idealen und Wertungen von Emotionen“ stehenbleibe und ihr Buch überhaupt nicht von „emotionalen Gemeinschaften“ handle. Damit relativiert Schnell die Tragfähigkeit dieses in der Historischen Emotionsforschung außerordentlich einflussreichen Konzepts und untergräbt nachdrücklich deren Plausibilität.

Das zweite Beispiel, das eine vergleichbare Stoßrichtung besitzt, sind zwei Monografien Ute Freverts, der Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, der wohl wichtigsten deutschsprachigen Protagonistin der History of emotions. Sie stammen aus den Jahren 2011 und 2013 und behandeln die Frage, inwieweit sich die Gefühlswelten der modernen westlichen Gesellschaft von früheren Zeiten unterscheiden. Im Mittelpunkt von Freverts Zugang steht die These eines emotionsgeschichtlichen Umbruchs um 1800, der sich in erster Linie in veränderten Emotionskonzepten und neuen emotionsrelevanten Praktiken gezeigt habe. Diese traditionelle Epochengliederung, die sowohl der Bielefelder Sozialgeschichte als auch der Historischen Semantik Reinhart Kosellecks folgt, widerlegt Schnell, indem er Freverts Quellenbelegen zahlreiche mittelalterliche Texte an die Seite stellt, die ihre These ad absurdum führen. Er zeigt, dass in den Emotionskonzepten im 19. Jahrhundert vormoderne Denkmuster weitergetragen wurden und keine wie auch immer geartete Zäsur vorliegt. Den Mythos einer vermeintlichen Andersheit von Gefühlen in der Neuzeit zerstört Schnell im zehnten Kapitel dann gründlich. Für ihn ist die Produktion solcher Mythen beredtes Zeichen einer Oberflächlichkeit, wenn nicht gar Unwissenschaftlichkeit der Historischen Emotionsforschung. Im Grunde genommen schlägt hier ein Literaturwissenschaftler die historische Zunft auf ihrem ureigenen Terrain: der Quellenkritik.

Es ist an dieser Stelle schlechterdings unmöglich, die Vielzahl an zutreffenden Einzelbeobachtungen in Schnells Monografie einer ausführlichen Würdigung zu unterziehen. In seinem resümierenden elften Kapitel kommt er zu dem ernüchternden Fazit, das Projekt einer „Geschichte der Gefühle“ zu verabschieden, „sofern darunter die Geschichte von Gefühlen als subjektiven Erfahrungen bzw. als eine Geschichte des inneren Erlebens verstanden wird“. Stattdessen entwirft Schnell ein konsequent interdisziplinär verfasstes Programm einer reduzierten Emotionengeschichte, deren Gegenstandsfelder er ausführlich vorstellt und die er mittels soziolinguistischer und semiotischer Methoden zu bearbeiten vorschlägt. In der Tat zählen Schnells Ausführungen zu sprach- und zeichentheoretischen Aspekten des Themas „Emotion“ zu den interessantesten und faszinierendsten des gesamten Buches, das auch sonst unendlich viel Anregungspotenzial (nicht nur) für Emotionshistoriker bereithält. Dies ist nicht zuletzt auch einer Leidenschaft des Schreibens geschuldet, die Schnell geradezu mitreißt und zu immer neuen Ufern der (konstruktiven) Kritik führt. Dass er dabei auch manchen Popanz aufbaut und bisweilen über das Ziel hinausschießt, sei ihm nachgesehen. Die Verfechter der Historischen Emotionsforschung täten gut daran, sich gründlich mit Schnells Ausführungen zu befassen und die fälligen Korrekturen an ihren eigenen Ansätzen vorzunehmen. So jedenfalls sollte Wissenschaft eigentlich funktionieren…

Titelbild

Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of emotions.
2 Bände.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015.
1052 Seiten, 95,00 EUR.
ISBN-13: 9783847103486

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