Nur nicht vermünchnern . . .

Oskar Maria Graf und die bayrische Hauptstadt

Von Ulrich DittmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Dittmann

Der bekennende Lyrikliebhaber Oskar Maria Graf hat zwei große Hymnen auf New York verfasst; die Gedichte, die er seiner bayrischen Heimat widmete, gelten dem grünen Voralpenland am Starnberger See, wo er aufwuchs, nicht aber der Stadt, in die er im Jahr 1911 als knapp Siebzehnjähriger dem Land entfloh. München war seine erste Station in dem von Städten bestimmten Leben; kurze, aber wichtige Tage erlebte er mehrfach in Berlin; seine feste Adresse war lange Zeit die Maxvorstadt in München, das er im Jahr 1933 gerade noch rechtzeitig verlassen konnte. Zunächst führte ihn seine ‚Odyssee‘ für ein Jahr nach Wien, es folgten vier Jahre in Brünn und schließlich: New York bis zum Lebensende; die deutsche Politik nach 1933 hatte diese Wege erzwungen.

Nach 1945 besaß er als staatenloser Exilant kein Re-entry Permit und hätte deswegen nicht nach New York zurückkehren können, wo er gern lebte, wenn auch auf bescheidenem Niveau. Er war kein Heimatverweigerer! Nur schmälerte die auslaufende Adenauerzeit erheblich die Attraktivität Münchens.

Obwohl er den Münchner Jahren von 1911 bis 1933 entscheidende Anstöße für seine Bücher verdankt und Bayern auch immer wieder der Handlungsort seiner Werke wurde, blieb sein Blick auf dessen Hauptstadt lebenslang ambivalent, und das auch noch, als er aus dem US-Exil erfolglos „nach Deutschland […], natürlich nach München“[1] zurückzukehren plante. Nach vier enttäuschenden Besuchen im letzten Lebensjahrzehnt verhinderte der Tod, dass er seinen Lebensabend in der ersten Stadt seiner Biographie hätte verbringen können und wohl auch wollen. München bleibt somit ein offenes Ende in seiner Biographie. Nur topographisch rundet das städtisch gepflegte Urnen-Ehren-Grab auf dem Bogenhausener Prominentenfriedhof das exemplarisch reiche Schriftstellerleben ab. München bleibt eine offene Wunde darin.

Seine Anfänge, die Grenzüberschreitung vom Land in die Stadt, haben ihn im Gegensatz zu anderen Autoren nicht überwältigt, ihr gingen entschiedene Grenzerfahrungen voraus. Dank der Familie und seiner Herkunftslandschaft kam er nicht als der naive Provinztölpel, als den er sich gern in den Autobiographien präsentiert.

Die Eltern waren von Spannungen durch ganz konträre Herkunft geprägt: Die Mutter hing als Tochter aus einem alteingesessenen großen Hof unfern des Sees an den Ritualen des katholischen Glaubens. Die väterlichen Vorfahren dagegen waren Protestanten aus der Salzburger Gegend, am Anfang des 18. Jahrhunderts als Waldenser vertrieben und als arme Handwerker in Bayern zugewandert, sie waren „Emigranten am Anfang“[2]. Dem Vater gelang es, die ‚Brotgerechtigkeit’ zu aktualisieren, das heißt, das gemäß Zunftordnung von alters her erlaubte Bäckerhandwerk im Haus der Familie mit wachsendem Gewinn auszuüben. Wie die Mutter als „Das sinnvollste Beispiel“[3] in den religiösen Traditionen wurzelte, so der Vater in denen des Handwerks und Handels – der Sohn erfuhr also neben dem Wert des Herkommens auch den eines dank Arbeit prosperierenden Geschäfts mit dauerndem Wachstum.

Neben diesen familiären bestimmten soziale Spannungen die Landschaft der frühen Jahre. Drei unterschiedliche Milieus passierte der junge Oskar, wenn er die Ware der väterlichen Bäckerei austrug: Die Herrscherfamilie und die Neureichen aus der Stadt siedelten am See. Auf der Höhe, im Ort Berg, wohnten wohlhäbige Bauern und Fischer, im östlich anschließenden Moos lebten die ‚Vilzler‘, asoziale Randexistenzen, die geheimnisumwittert Unruhe ins Land trugen.

Oskar verfügte also über ein differenziert-spannungsreiches Wahrnehmungsraster. Seine Heimat lieferte ihm einen gut gegründeten Erfahrungsfond, bevor er in die Stadtgesellschaft kam. Die Differenz beider Milieus ließ ihn bei seinen gewichtigen Kalendergeschichten solche aus der Stadt mit eher düsterem Ende gegen die vom Land setzen, in denen städtischer Einfluss die ländliche Solidarität zu stören beginnt.

Dass er das Land verließ, lag an seiner Leidenschaft für Literatur, die er mit zwei Geschwistern teilte. Dem ältesten Bruder jedoch war sie ein Dorn im Auge. Der übernahm nach seiner Dienstzeit mit militärischem Drill die Bäckerei, in der der junge Oskar gelernt hatte und arbeitete. Brutal verfolgte er die literaturbegeisterten Geschwister. Oskar floh nach München und hoffte, dort den Ort für eigenes Schaffen zu finden. Für seine Anfänge schien ihm München den Boden zu bieten. Sehr bald bewarb er sich bei den Verlagen und Redaktionen, beim Piper-Verlag versuchte er mit Schnurren im Stil von dessen Hausautor Georg Queri sein Glück. Aber seine ersten Veröffentlichungen wurden in Verlagen anderer Städte veröffentlicht: Zwei Gedichte brachte 1914 Franz Pfemferts Aktion, weitere 1915 und 1916 Die freie Straße, beide Berliner Zeitschriften. Das erste Lyrikbändchen erschien 1918 im Dresdner Verlag von 1917. Die Anregung zur ersten autobiographischen Prosa, Frühzeit (1922), kam von Wieland Herzfelde, dem Berliner Verleger und Freund – München kam ihm nicht entgegen: „Nächte hindurch schrieb ich. Unruhige Tage voller Verzweiflung und Hunger […] niemand sprach mit mir.“[4] „Vereinsamt bin ich gestanden, jahrelang, bis ich den Weg zur revolutionären Bewegung gefunden habe“[5], resümierte er später in Wien die Münchner Anfänge. Mit der ‚Bewegung‘ sind Kontakte aus der Vorkriegszeit gemeint, die ihn zu den Anarchisten und Bohemiens in Erich Mühsams „Gruppe Tat“ geführt hatten. Diesen gesellschaftlichen Randgruppen verdankt er die Freundschaft mit dem Maler Georg Schrimpf; der war Münchner, aber auch Autodidakt und stand als gelernter Bäcker der städtischen Gesellschaft fern.

Nachdem Oskar seine Militärzeit durch eine simulierte Kriegsneurose auf zwei Jahre abkürzen konnte, erlebte er die letzten Kriegsjahre in München. Er intensivierte seine Kontakte zu den Kreisen aus der Vorkriegszeit, die 1918 mit der Revolution die bayrische Monarchie beendeten. Diese Zeit bleibt sein Schlüsselerlebnis; der Bericht über das, was er miterlebte, erschloss ihm endgültig den Weg in die Literatur und sicherte ihm den eigenen Stammplatz weit über die Münchner Literaturgeschichte hinaus.

So sehr er in seinem Erfolgsbuch Wir sind Gefangene auch die Revolution schmäht – „Diese Münchner Revolution war ein Gaudium für ihre Gegner[…] Sie war eine Posse“[6] –, liegt der Schilderung doch durchgängig die Kritik am reaktionären Münchner Bürgertum zugrunde. Bei einem Lokalbesuch am Abend des 7. November 1918 blickt er in „echt Münchnerische Gesichter“ und resümiert: „,Wally, an Schweinshaxn!‘ Dies schien hier die einzige Situation zu sein.“[7] Als er in dieser Zeit von einem Besuch im Dorf zurückkehrt, ist sein Kommentar: „Mir graust vor der Stadt“.[8]

So explizit Graf über Revolution und auch die Bohème[9] urteilt, so permanent, wenn auch oft latent, durchzieht seine Texte die Distanzierung von München und seinen Bürgern. Man vermag sich kaum des Eindruck erwehren, dass ihn sein Abschied von der Stadt beim Gang ins Exil 1933 anfangs sogar befreite. „Eigentlich gehts ganz gut um bei uns, besser als zu letzt in M.“, schreibt er am 7. 10. 1933 an den Bruder Maurus[10]; und im Kontext der Russlandreise: „O, geliebtes ‚Brno‘ meiner guten glücklichen Jahre, wie oft sehne ich mich zurück, wie nach einem Stück echter, geborgener Heimat!“[11] Vergleichbare rhetorische Aufschwünge über München sucht man vergeblich! Im Gegenteil: Die Biographie umspannt sowohl antizipierend als auch retrospektiv ein deutlicher Widerwille gegen die bayrische Hauptstadt. Die wenig bekannte, weil nur im zweiten Band der Kalendergeschichten 1929 erschienene und nicht mehr überarbeitete Erzählung Der Ruhm trügt enthält die extrem selbstkritische Figur des zum Dichter erklärten ehemaligen Hilfslehrers Jakob Torberger, der in vielen Details, in Figur, Auftreten, Herkunft, verfehltem Dichterpreis und plötzlichem Dichterruhm Graf gleicht. Obwohl der Name der Stadt nicht fällt, kann mit der „,Kunschtstadt‘“[12], in die Torberger „eine wilde Sehnsucht“[13] treibt, nur München gemeint sein. Sein Schicksal entwirft eine deprimierende persönliche Zukunftsvision des Autors Graf. Ganz real-gegenwärtige Parallelen deuten sich schon in Wir sind Gefangene an: Dort sah Graf sich auf die Rolle eines „Renommier-Proletariers“ reduziert, wie „man [ihn] sich in den Salons“[14] hielt. Wie sehr sich Graf in Torberger masochistisch selbst porträtiert, zeigt der Schluss der Erzählung, der hier ausführlicher zitiert werden soll. Die fiktive Erzählung bestätigt wie seine Autobiographie die Kritik an München: „Wer ihn genau beobachtete, dem kam es vor, als habe auch diesem Menschen irgendeine unbekannte Macht eine Rolle aufgezwungen […]. Mit der Zeit aber wurde Torberger ein Mensch wie alle anderen. Sein Ruhm blieb. Er war gewissermaßen beständig geworden […] ordentlich und bieder wie ein nettes bürgerliches Ansehen. Kurz, der Dichter und die Stadt sie gehörten zusammen […]. Ja, sie siegte, aber dieses Siegen war stets ein unbegriffenes Unterliegen…“ Das heißt „unbegriffen“ für Torberger, aber als Drohung begriffen vom Autor: Nie wie er werden! Im Anschluss an seine Auseinandersetzung mit seiner Frau Mirjam über den Erfolg des Dekameron, zu dessen Verhinderung sie ihren „letzten Schmuck“ hätte verkaufen wollen, resümiert Graf: „Wo war der große Plan meiner ‚Beichte‘ […]? Alles war davongeschwommen im behäbigen Dahinrinnen des reibungslosen Kleinbürgeralltags. […] Ich führte  das Leben eines vermögenden Bourgeois aus dem Mittelstand, mit Weißwurstessen vormittags im Augustiner, Mittagsschläfchen, Kaffeehausbesuch nachmittags und Tarockspielen bis in die Nacht hinein. Meine Freunde warfen mir totale Verbürgerlichung vor“[15]. Sein Urteil über den Stand, dem er sich hier zuordnet, lautete „Damals [nach Ende der Räterepublik] fing die jämmerliche Provinzialisierung an, welche die einstige […] Kunststadt München in geistiger, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht sehr schnell völlig bedeutungslos machte. Dazu trug vor allem das engstirnige, bösartig denunziatorische Verhalten des Bürgertums gegen alles ‚Linke‘ und Außerbayrische bei, aber auch die wenigen Einsichtigen schwiegen“.[16]

Dezidierter und komplexer als mit Torberger gestaltet er sein Selbst- und Gegenbild – den „Kampf mit dem Kleinbürger in sich“[17] – im satirischen Sittinger-Roman: Vom Spießer-Typ, hier einem Postinspektor eindeutig Münchner Prägung, sagt Graf schon im Motto: „In manchen Zeiten heißen sie ‚du‘ und ‚ich‘“[18]. Aus dieser Darstellung lässt sich als Schluss nur folgern: Nie Sittinger werden!

Im Eingeständnis seiner Affizierbarkeit durch den Sog des Münchnerischen[19] liegt als eine wichtige Weiterung dessen Affinität zur NS-Bewegung: „Übrigens, das Kleinbürgerlich-Vergeltungssüchtige, das sich in Hitler bis zur teuflisch-pedantischen Rachsucht auswuchs – jäh erschreckt und bestürzt merke ich manchmal, daß auch in meinem Charakter allerhand davon vorhanden ist.“[20] Damit addiert sich eine Gegenreaktion auf, die nur lauten kann: Nie vermünchnern! Das Glücksgefühl während seiner Zeit in Wien, der ausgedehnteren Zeit in Brünn und im hymnisch besungenen New York gründet in der Distanz zu München. Die Erfahrungen während der vier späteren München-Besuche, erst ab 1958 für den endlich in die USA Eingebürgerten möglich, standen im Schatten der restaurativen Kulturszene. „München selbst, das offizielle, benimmt sich saumäßig zu mir“[21], schrieb er beim ersten Aufenthalt. Ausgerechnet diesen Satz fügte man in die Sammlung prominenter Zitate, mit denen das Informationszentrum im Münchner Rathaus den Blick auf die Stadt facettiert.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist eine Vorveröffentlichung aus: Kleine Literaturgeschichte Münchens. Hg. von Waldemar Fromm / Manfred Knedlik / Marcel Schellong. Regensburg: Pustet 2018. Wir danken dem Verfasser und den Herausgebern für die freundliche Genehmigung dazu.

Anmerkungen:

[1] Brief an Robert Warnecke 24. 12. 1952. In: G. Bauer und H. F. Pfanner (Hg.), Oskar Maria Graf in seinen Briefen. München 1984. S. 214.

[2] Brief an Therese Graf 16. 12. 1937. Vgl. Fußnote 1, S. 117.

[3] So der Titel einer 1933 erstmals veröffentlichten häufig abgedruckten Erinnerung an die Mutter, Vgl. O. M. Graf, An manchen Tagen. Reden, Gedanken und Zeitbetrachtungen. In: Oskar Maria Graf Werkausgabe. Hg. von Wilfried F. Schoeller. Frankfurt/M. 1982 ff. (Textidentisch mit der Centenar-Ausgabe des List Verlages 1994) Hier: Werkausgabe XII, S. 319-329.

[4] O. M. Graf, Wir sind Gefangene. In: Werkausgabe Band I, S. 63f.

[5] O. M. Graf, Nicht gehaltene Rede. In: O. M. Graf, Reden und Aufsätze aus dem Exil. Hg. Helmut F. Pfanner. München 1989 S. 24-29. Hier S. 29.

[6] Siehe Fußnote 4, S. 368.

[7] Ebd. S. 357.

[8] Ebd. S. 365.

[9] Vgl. die Distanzierung von Mühsam und Bohème unter Berufung auf die Mutter in: O. M. Graf, Leben meiner Mutter. Werkausgabe V, S. 487.

[10] Vgl. Fußnote 1, S. 71.

[11] O. M. Graf, Kleine Erinnerung an Boris Pasternak. In: Reden und Aufsätze, vgl. Fußnote 5, S. 47-51, hier S. 48.

[12] O. M. Graf, Kalendergeschichten II. Geschichten aus der Stadt. Werkausgabe XI/3 S. 64.

[13] Ebd. S. 58.

[14] O. M. Graf, Wir sind Gefangene. Vgl. Fn 4, S. 375. – Anlässlich dieses Buches erkannte Thomas Mann, wie weit und wie kritisch Graf über die Münchner Szene hinausreichte und wie man ihn missverstand. Schon im Juli 1927, also bald nach Erscheinen diagnostizierte er in seiner Besprechung für die amerikanische Zeitschrift The Dial: „Die Münchener Presse wird sein Buch nicht loben, obgleich sie aus Versehen schon dies und das daraus abgedruckt hat.“ (Hans Wysling, Dokumente und Untersuchungen. Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung. Thomas-Mann-Studien Bd. 3. Bern und München 1974. S. 59) Übrigens entfiel dieser Satz beim Abdruck des Essays in deutschen Journalen und späteren Ausgaben.

[15] O. M. Graf, Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933. Werkausgabe X, S. 291.

[16] Ebd. S. 100.

[17] Gerhard Bauer, Oskar Maria Graf. Ein rücksichtslos gelebtes Leben. München (dtv) 1994. S. 283.

[18] O. M. Graf , Bolwieser. Roman eines Ehemannes. Anton Sittinger. Ein satirischer Roman. Werkausgabe IV. S. 214 und S. 383.

[19] Vgl. das V. und VI. Kapitel des Romans, in denen Sittinger explizit in München und im bayrischen Umland verortet wird, wo „die Kommunisten […] nicht Fuß fassen [konnten]. Kein Wirt gab ihnen einen Saal.“ (Kap. XIII).

[20] Vgl. Fußnote 15, S. 250f.

[21] Vgl. Fußnote 1, S. 283.