Der lange Weg des Willi Fährmann

(1929–2017)

Von Dirk HallenbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Hallenberger

Es ist, als sei es immer dieses eine Foto: Dichtes, schlohweißes Haar, dunkle Augen, keine Brille, der Gesichtsausdruck aufmerksam und zugewandt, insgesamt ein wenig zeitlos. Das Zweite, was sich unwillkürlich mit Willi Fährmann verbindet, ist Beeck – und nicht etwa Duisburg, sondern dieser „graue Vorort“, von dem, wie er selbst schrieb, „viel Bemerkenswertes“ nicht zu erzählen sei – den wir jedoch ohne dessen Autor schwerlich kennengelernt und so auch nicht erfahren hätten, dass hier die König-Brauerei ihren Sitz hat. Dort arbeitete der Vater, der einst täglich sechs Flaschen köstliches Deputatbier mit nach Hause brachte, was sich für den Sohn insofern auszahlte, als dass der Vater den Hausfriseur, der gleichzeitig als Leiter der katholischen Bücherei in Beeck stets Bücher zu den Fährmanns mitbrachte, mit jenem Deputat entlohnte. Auf diesem wunderbaren Wege geriet der Sohn allmählich in die Welt der Literatur, und die Welt von Beeck geriet später in die Literatur von Willi Fährmann, wo sie die Romane und Erzählungen vor allem mit dem hopfigen Geruch der König-Brauerei durchweht. Nachzulesen ist all dies in Fährmanns schöner Autobiografie Das Glück ist nicht vorbeigegangen (2009), die zum 80. Geburtstag des Schriftstellers erschien.

Glück ist vielleicht das dritte Stichwort, um Willi Fährmann näher zu kommen, er selbst hat es immer wieder betont. Als Jugendlicher begegnete er in solch einem Glücksmoment an der Beecker Kirche, die in unmittelbarster Nachbarschaft lag, einem jungen Kaplan, der ihn nicht nur für die „Katholische Jugend“ gewann, sondern ihm durch Vorlesen und Ausleihen von Büchern die Welt der Literatur weiter erschloss. Das ergänzte die frühen literarischen Begegnungen, die Fährmann durch das „glänzende“ Geschichtenerzählen seiner Oma sowie das Vorlesen seines Vaters gemacht hatte: Für ihn „waren das Stunden des Glücks“. Umgekehrt prägten die Erfahrungen, die Fährmann im Umfeld der katholischen Jugendbewegung sammeln konnte, später seine literarischen Werke, die „immer aus einer religiös-christlichen Grundhaltung“ geschrieben sind (Kurt Franz). Darin trifft sich der Duisburger mit dem gleichaltrigen Schriftstellerkollegen aus dem Osten des Ruhrgebiets, mit dem Dortmunder Josef Reding, die beide etwa zur selben Zeit zu veröffentlichen begannen – und beide mit Kinder- und Jugendbüchern. Im Gegensatz zu Reding, der früh als freier Schriftsteller praktizierte, erfüllte sich Fährmann seinen Traum, Lehrer zu werden (nach Abendschule und Pädagogischer Akademie). Denn ursprünglich hatte er Maurer gelernt und als Geselle gearbeitet. Die Alternative in der Duisburger Nachkriegszeit wäre Bergmann gewesen, doch dazu war er einfach zu groß. Lehrer zu werden und zu sein, das empfand Fährmann als ein weiteres Glücksmoment in seinem Leben.

Während seiner Zeit als Volksschullehrer in Duisburg publizierte Fährmann seine ersten Kinder- und Jugendbücher, unter ihnen der Roman Das Jahr der Wölfe (1962), der (unerwartet) ein riesiger Erfolg wurde, was seinem Autor wohl zu weiteren Glücksmomenten verhalf. Mit dem Jahr der Wölfe setzte Fährmann das thematische Fundament ähnlich angelegter Romane, die im Nachhinein zu mehrteiligen Familiensagas zusammengefasst wurden: „Menschen in extremen Situationen“ (Birgitta Mogge-Stubbe). Dazu gehören Emigration, Flucht, Aussiedlung und Minderheitenprobleme, Themen, die immer noch aktuell sind. Fährmann transportiert diese Stoffe bevorzugt in historische Romane, erzählt Geschichte in Geschichten, was man jedoch nicht als ein Ausweichen vor der Gegenwart missdeuten darf. Das gilt auch für seinen ebenso erfolgreichen Roman Es geschah im Nachbarhaus (1968), in dem es anhand eines historischen Falls von Kindermord um willentlich geschürte Vorurteile gegenüber einer jüdischen Familie geht und der „eines der ersten Jugendbücher zum Antisemitismus“ war (Gundel Mattenklott). 

Es geschah im Nachbarhaus signalisiert einen weiteren Aspekt in Fährmanns Schaffen. Bei aller Weltoffenheit sind die Romane häufig regional angebunden, spielen häufig in Gegenden, die Fährmann gut kennt: im Ruhrgebiet und am Niederrhein, wo Fährmann ab 1963 lebte und (als Lehrer, Rektor und Schulrat) arbeitete. Eindrucksvoll nachzulesen ist diese Verortung etwa im Roman Zeit zu hassen, Zeit zu lieben (1985), dem Das Jahr der Wölfe vorausgehenden zweiten Teil der vierteiligen Bienmann-Saga, einer Familiengeschichte zwischen 1870 und 1970. Dort, in Beeck, kämpfen sich zwei junge masurische Zuwanderer Seite an Seite durch die Phasen der Märzrevolution und der Ruhrbesetzung während der frühen Weimarer Republik, zwischen linken und rechten Aufmärschen, zwischen katholischen und evangelischen Vereinnahmungen. Programmatisch demonstriert der Erzähler hier, dass Gegensätze nicht getrennt voneinander, sondern nur nebeneinander zu betrachten sind. Als ein Stück ‚Geschichte von unten‘ ist der Roman ein sorgfältig recherchiertes und spannend erzähltes Dokument über die vergessene Revolution an der Ruhr. Wie der explizite Revierroman Zeit zu hassen, Zeit zu lieben zeigt, sind Fährmanns Geschichten „nicht in jede beliebige bundesdeutsche Klein- oder Großstadt zu übertragen“ (Gundel Mattenklott). Wegen der „didaktisch geschickten Verschränkung von Heimatkunde und Zeitgeschichte“ (Ralf Caspary) gelangten überdies etliche Romane Fährmanns in den Schulunterricht.

Willi Fährmanns umfangreiches wie auflagenstarkes Werk, das auch solch ambitionierte Kinderbücher wie Der überaus starke Willibald (1983) und das mit der (wiederum) vierteiligen Fink-Saga (1989–2004) eine weitere große Familiengeschichte umfasst, wurde mit zahlreichen Preisen bedacht, wobei der Roman Der lange Weg des Lukas B. (1980), der erste Teil der Bienmann-Saga, am erfolgreichsten abschnitt. Es fällt allerdings auf, dass unter den verliehenen Preisen einer nicht vorkommt – ausgerechnet derjenige, der für Fährmanns Heimatregion steht: der Literaturpreis Ruhrgebiet. Diese Auszeichnung, die nur allzu gut zu Fährmann gepasst hätte, hatte er sich im Rahmen eines Berichts zu seinem 75. Geburtstag ausdrücklich gewünscht. Dieses eine Glück – das bleibt zu bedauern – war ihm am Ende nicht vergönnt. Willi Fährmann starb am 25. Mai 2017 in Xanten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen