Hans Wollschläger als Rezensent

Ein später Brief an ihn zehn Jahre nach seinem Tod

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lieber Hans Wollschläger,

verzeihen Sie mir bitte, dass ich so spät auf Ihren letzten Brief antworte. Ich muss erst Ihre neue Adresse ermitteln. Himmel oder Hölle – wo wohnen Sie jetzt? Die Auskünfte, die ich deswegen einholte, widersprachen einander diametral. Die Theologen zum Beispiel plädierten überwiegend für die Hölle, nur Herr Bedford-Strohm trat für den Himmel ein. Gott, sagt er, holt in seiner großen Güte auch die entschiedenen Gottesleugner unweigerlich zu sich ins Himmelreich. Ganz anders dachten die Bamberger Historiker darüber – Gott hab sie selig! Die sahen die Hölle als den einzigen Ort an, der für Sie als Wohnort in Frage komme. Nur die Auskünfte der Literaturwissenschaftler und der Literaturkritiker waren uneinheitlich: Teils – teils, einerseits – andererseits, wie es eben ihre Art ist; mit Ausnahme natürlich der Herren Kuhn, Süselbeck, Raddatz und Rowohlt, die Ihr Werk zum Teufel wünschten. Soll ich dieses Teufelszeug etwa zitieren? Ich werde mich hüten! Wie himmelhochjauchzend dagegen jubeln Ihre Freunde, Fans und Verleger! Sie priesen und preisen Sie bis in die höchsten Höhen! Sollten Sie wirklich im Himmel gelandet sein? Bitte sagen Sie mir doch, ob Sie sich dort einigermaßen wohlfühlen. Ich bezweifle es.

Wo waren wir stehen geblieben? Ach richtig: bei Himmel und Hölle, also bei der Literaturkritik. Sie, lieber Herr Wollschläger, sind ja nicht nur das umstrittene Objekt der Literaturkritik, sondern Sie sind auch selbst als Rezensent und sogar als Theoretiker der Literaturkritik hervorgetreten. Zwei ganze Bücher, Von Sternen und Schnuppen, handeln davon, und sie enthalten noch längst nicht alles, was Sie als Kritiker geschrieben haben. Ich erinnere nur an Ihre frühen Rezensionen für die linke Studentenzeitung konkret. Es sind gnadenlose Verrisse darunter und überwältigende Lobpreisungen. Beides, Tadel und Lob, muss natürlich sein, wo Literaturkritik mehr sein will als bloße Rekapitulation der Klappentexte oder marktgerechte Werbung, mehr auch als sensationslüsterne Aufdeckung von Intimitäten oder anmaßende, höchstrichterliche Urteilsfindung. Sie haben diesen wünschenswerten Mehrwert der Literaturkritik auf die Formel gebracht, das „Wegschaffen“ sei ihre zentrale Aufgabe; „wahre Kritik“, sagen Sie, „ist schaffend immer nur im Wegschaffen: sie ist produktiv einzig durch Destruktivität“.

Wirklich verlockend! Wegschaffen! Und wenn alles Minderwertige einmal weggeschafft ist, dann haben Sie uns Lesern viel Zeit erspart: Lebenszeit. Wussten Sie übrigens – ich sage das, um Sie ein wenig zu ärgern – dass Sie in diesem Punkt nicht weit entfernt sind von dem sogenannten Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, der Sie gar nicht mochte und den Sie auch nicht mochten? Er, Reich-Ranicki, dekretierte: „man muss ja das Schlechte verdrängen, um Platz zu machen für das Schöne und Gelungene“.

Allerdings verlangen Sie Ihrerseits von den Lesern die Lese- und Lebenszeit, die es kostet, Ihre Rezensionen zu lesen, und die sind ja mitunter, um es milde auszudrücken, recht ausführlich geraten. Man schämt sich fast, diese Arbeiten nur Rezensionen zu nennen. Sind es nicht eher Abhandlungen, Aufsätze, Essays, eingehende Musterungen? Sollen wir wirklich statt der misslungenen Bücher Ihre meisterhaften Rezensionen lesen? Aber je besser, frecher, vernichtender die Rezensionen sind, desto mehr reizen sie unseren Voyeurismus und desto neugieriger machen sie uns auf das Buch, das Sie in den Orkus schicken. Das ist die Crux, die Aporie der Literaturkritik, zu der es keine Alternative gibt. Es sei denn: Man verschwiege, wovon man redet. In dieser Kunst des beredten Verschweigens haben Sie es zu staunenswerter Brillanz gebracht. Die Opfer dieses Verschweigeverfahrens sind ganze Berufsgruppen, beispielsweise die Kritiker und Romanautoren der Gegenwart, aber auch die professionellen Vertreter der Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften. Sie alle müssen sich mit pauschalen Wegschaffungen abfinden, um den Weg frei zu machen für Ihre Auseinandersetzung mit einzelnen Büchern. Was ist heute – so klagen Sie – aus den großen Kritikern von einst geworden! Ich zitiere: „wo der Kritiker sich ehemals die relativ rare Möglichkeit, gehört und gelesen zu werden, durch vielerlei Legitimationen erringen musste, steht heute ein gigantischer, allesfressender Medienapparat bereit, jedem Ladenschwengel des Kulturgeschäfts das Wort zu erteilen, und was da an Urteilskraft aus allen Spalten und Kanälen hochkommt, der kleine tägliche Trödel des Feuilletons, das bloße Tralala fideler Schäbigkeiten, ist dem Ehrennamen Kritik schon lange nicht mehr gewachsen“ (Von Sternen und Schnuppen 1, S. 27).

Ihre Buchrezensionen lese ich am liebsten. Beispielsweise die über Heinrich Bölls Briefe aus dem Krieg, über Horst Janssens Frauenbilder, über das Geschichtswerk von Ferdinand Gregorovius oder auch Ihre furiose Replik auf Dieter Kuhns Attacke gegen Ihren Lehrer Arno Schmidt, den Kuhn als „reaktionären Kleinbürger“ bezeichnete und der gleichzeitig Sie, lieber Herr Wollschläger, dessen „literarischen Trittbrettfahrer“ nannte. Das geht Ihnen entschieden zu weit! Da drehen Sie auf! Da geht es wirklich zur Sache. – Übrigens: Nein, ich habe das Buch von Dieter Kuhn nicht gelesen und werde es auch nicht lesen. Die Zitate aus seinem Buch und Ihre bissigen, beißend-ironischen Kommentare dazu haben mir gereicht. Sie haben es geschafft: Sie haben dieses Buch für mich weggeschafft. Sie haben den Autor und sein Buch tatsächlich erledigt. Erledigung eines unerledigten Falles- so lautet ja der Titel Ihrer polemischen Rezension. 

Aber:  Wäre es wirklich „menschenfreundlich“, wenn man den bösen Kuhn, der Sie so unqualifiziert attackiert hat, wegsperren und in eine Anstalt einweisen würde? Das erwägen Sie jedenfalls. Ich zitiere: „eine Abstrafung nach dem StGB würde jedenfalls auch für den beamteten Lehrer Kuhn Folgen haben, die ich ihm nicht wünsche, so menschenfreundlich es andererseits wieder wäre, seine Lehrtätigkeit einzuschränken und ihn für eine Weile an einen Ort zu bringen, der Gelegenheit zur Besinnung gibt“. – Wegschaffen, Erledigen, Wegsperren – das hat schon einen bedenklichen Beigeschmack, finde ich.

Andererseits: Ganz oder gar nicht, das ist Ihre Maxime. Sie zahlen nie mit kleiner Münze, nicht wenn Sie tadeln, und auch nicht, wenn Sie loben. Dann können Sie sogar das ganze kritische Handwerkszeug über den Haufen werfen und sich nur noch auf das pure subjektive Empfinden berufen. Das tun Sie beispielsweise angesichts der Frauenbildnisse von Horst Janssen, wenn Sie schreiben: „hier steht als Urteilslizenz nur die Neigung, und kein kritisches Ritual soll daran hindern, nun einfach das Entzücken und die Ergriffenheit zu bezeugen, die der Anblick so vieler großer Meisterschaften weckt“.

Als Kritiker üben Sie viele Berufe aus: Sie sind ein korrigierender und Zensuren erteilender Lehrer und unerbittlicher Zensor, Sie sind verteidigender Advokat, urteilender Richter und anklagender Staatsanwalt zugleich, Sie geben sich als Diktator und Gesetzgeber, aber auch als Freigeist, als sanftmütiger Freund und enthusiastischer Bewunderer, vor allem aber sind Sie als Kritiker ein Sprachkünstler von hohen Graden, gewiss geschult an der Kunst Thomas Manns mit seinen selbstgefälligen Satzperioden und an Karl Kraus, dem Meister des entlarvenden Zitats; in erster Linie aber sind Sie mit jedem Wort unverkennbar Hans Wollschläger: feinziseliert bis in die Grammatik und Rechtschreibung hinein und, wenn’s drauf ankommt, auch grobschlächtig. Wer nur ihr elitäres Pathos wahrnimmt und als autoritäre Arroganz in Misskredit bringt, der überliest die Passagen in Ihrem Werk, die von Bescheidenheit, Dankbarkeit, ja Demut gegenüber Ihren großen Autoritäten zeugen. Sie wissen selbst am besten, wen ich hier meine: Lessing, Goethe, Schlegel, Schopenhauer, Karl Kraus, Sigmund Freud, Thomas Mann und Arno Schmidt. Und das sind nur einige Ihrer literarischen Götter. Die musikalischen, philosophischen und historischen Autoritäten treten noch hinzu.

Sie sind eben durch und durch – pardon! – ein Universalgenie. Bewohner von Himmel und Hölle zugleich. Kein Wunder, dass mir niemand zuverlässig sagen konnte, wohin ich diesen Brief adressieren soll. Ich werde ihn sicherheitshalber ans Universum richten. Denn dort sind Sie unverkennbar zuhause. Ihre gnädige oder vernichtende Antwort erwarte ich geduldig. Lassen Sie sich nur Zeit!

Bis dahin bleibe ich

Ihr unverändert treuer Leser Wulf Segebrecht.

Hinweis der Redaktion: Zum 10. Todestag von Hans Wollschläger am 19. Mai 2017 fand in Bamberg ein Gedenkabend statt. Zu den Beiträgen gehörte der hier veröffentlichte Brief Wulf Segebrechts.

Titelbild

Hans Wollschläger: Von Sternen und Schnuppen I. Bei Gelegenheit einiger Bücher.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
311 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3892449376

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Titelbild

Hans Wollschläger: Von Sternen und Schnuppen II. Bei Gelegenheit einiger Bücher.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
301 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3835301004

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