Das Verlangen nach wissenschaftlichem Austausch

Über den Briefwechsel zwischen August Wilhelm Schlegel und Wilhelm von Humboldt

Von Jürgen HannederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Hanneder

„Ein junger Dichterling, mit dem ich ziemlich viel umgehe“, so beschreibt Wilhelm von Humboldt am 30.11.1788 brieflich seinen Göttinger Studienfreund August Wilhelm Schlegel.[1] Da Humboldt – anders als das Zitat vermuten lässt – im selben Jahr wie Schlegel geboren ist, soll in diesem Schlegel-Jahr, welches zugleich ein Humboldt-Jahr ist, an den späteren wissenschaftlichen Austausch der beiden Studienfreunde erinnert werden.

Der Briefwechsel wurde bereits im Jahre 1908 ediert[2] und unter Beteiligung des Jenaer Indogermanisten Delbrück vor allem in Hinblick auf sprachwissenschaftliche Aspekte kommentiert. Durch den Aufschwung der Schlegel-Forschung in den letzten Jahren und die erweiterten Kenntnisse über sein indologisches Umfeld lohnt ein erneuter Blick auf diesen Briefwechsel.

Über die frühe Beziehung der beiden in den Göttinger Studentenjahren haben wir keine Aufzeichnungen. Schlegel scheint einen Brief Humboldts, den er nach seiner Hochzeit an ihn nach Göttingen geschickt hatte, nicht beantwortet zu haben.[3] Als Schlegel dann später an Humboldt schreibt, handelt es sich um eine Bitte um Hilfe in der Not. Die gemeinsame Göttinger Freundin Caroline Böhmer, Schlegels spätere erste Frau, war in Mainz gefangengenommen worden, und Schlegel wie auch Humboldt suchten nach Möglichkeiten, sie aus französischer Gefangenschaft zu retten. Einige Zeit verbrachten die beiden dann gemeinsam in Jena, die weiteren Treffen waren eher kurz.

Ein Hauptthema des späteren Briefwechsels ist die Begeisterung für das neue Gebiet der Sanskritstudien, die Schlegel seit 1818 als Bonner Professor und Humboldt ab 1821 als Privatgelehrter betrieben. Während dieses Studiengebiet Schlegels bisweilen als Flucht vor den eigentlichen Aufgaben der Forschung, nämlich im Bereich der klassischen Literatur, oder aber als Flucht vor germanistischen Studien ausgelegt wurde, traf Humboldt kein solches Urteil. Doch war Humboldt in den Augen der Nachwelt kein Romantiker und daher auch nicht Objekt des späteren Romantiker-Bashings, was sich etwa darin zeigt, dass Humboldts wissenschaftliche Fehler dem damaligen defizitären Forschungsstand zugeschrieben wurden, Schlegels Fehler aber seinem Romantikersein, auch wenn Humboldt im Bereich der „romantischen“ Schwärmerei, so man diese vielbemühte Kategorie hier anwenden möchte, seinen Zeitgenossen, wie wir sehen werden, um nichts nachsteht.

Die spätere briefliche Kommunikation – es geht um rund 40 Briefe, die zwischen Schlegels Berufung nach Bonn (1818) und wenige Jahre vor Humboldts Tod (1835) datieren – erweckt den Eindruck, dass sich die beiden trotz früherer Kontroversen schätzten, auch wenn sie im Umgang eine offizielle Distanz wahrten. Humboldt, der ihn zu Studentenzeiten als „theurer Schlegel“ ansprach, bevorzugt nun ein förmliches „ew. Hochwohlgeboren“, und Schlegel redet den Staatsminister a.D. mit „Excellenz“ an. Vielleicht war die lange Bekanntschaft durch zu viele Kontroversen geprägt gewesen, um ganz unbefangen an die Studentenzeit anknüpfen zu können. Humboldt hatte im Jenaer Konflikt der Romantiker zu Friedrich Schiller gehalten und insbesondere gegen Schlegels Frau Caroline, die einen schlechten Einfluss auf ihn habe, erhebliche Vorbehalte. Als Humboldt seinen Briefwechsel mit Schiller selbst herausgab, ließ er die entsprechenden Briefe unveröffentlicht. Im „indologischen“ Briefwechsel scheinen die Gräben durch die gemeinsame Begeisterung für das Studienfach überbrückt.

Der Hauptteil des heute erhaltenen Briefwechsels zwischen Schlegel und Humboldt beginnt im Jahr 1818. In einem nicht erhaltenen Brief hatte Schlegel an Humboldt geschrieben, an das frühere Bekanntschaftsverhältnis angeknüpft und sich für die Fürsprache Humboldts bei seiner Berufung nach Berlin bedankt. Humboldt antwortete, dass er daran keinen Anteil habe, sich aber über den erneuerten Kontakt freue, insbesondere, da sie beide nun vielseitige linguistische und andere Interessen teilten. 1818 ging man zumindest in Berlin davon aus, dass Schlegel dort seine Professur antreten würde – die zeitlich begrenzte Abordnung nach Bonn aus persönlichen Gründen wurde erst später zu einer dauerhaften – und Humboldt nennt es „eine angenehme Aussicht, wieder einmal in Ihrer Nähe zu leben.“[4]

Das fein geknüpfte, aber weit gespannte Briefnetzwerk erweist sich als effektive Informationsquelle, denn in einem Anhang zum selben Brief berichtete Humboldt – zu dieser Zeit noch Gesandter in London –, aus dem soeben eingetroffenen Brief seines Bruders Alexander gehe hervor, dass die Berufung Schlegels noch nicht erfolgt sei. Er solle daher direkt beim Staatskanzler vorstellig werden und vor allem auf ein angemessenes Gehalt drängen. Humboldt schließt mit den Worten: „Sie bedürfen nirgend einer Empfehlung; sonst erhalten Sie jede, die Sie wünschen, mit großem Vergnügen mit umgehender Post von mir.“ Im folgenden Jahr zog sich Humboldt von seinen Ämtern zurück und widmete sich als Privatier verstärkt der Sprachforschung. Mit einem nicht erhaltenen Brief, der die Zusendung eines Bandes der Schlegelʼschen Zeitschrift Indische Bibliothek begleitet haben dürfte, beginnt nun ein intensiver Austausch.

Humboldt antwortet am 5.5.1821 mit einem umfangreichen Brief, in dem er Schlegel berichtet, dass er seit Beginn des Jahres intensiv Sanskrit gelernt hätte, wobei sein Augenmerk eher auf „die Sprache als die Literatur“ gerichtet sei. Roger Paulin kontrastiert in seiner Biografie The Life of August Wilhelm Schlegel an einer Stelle Humboldts Interesse an der Philosophie, wie sie sich in seinem Artikel über die Bhagavadgītā[5] spiegelt, mit Schlegels „rein“ philologischem Ansatz. Doch wie Paulin erläutert, ist eine solche Gegenüberstellung nicht zu rechtfertigen, denn bei Schlegels Indieninteresse handelt es sich um eine Art „omni-philology“, die auf ein enzyklopädisches Wissen über Indien in allen erdenklichen Bereichen, von Astronomie bis Zoologie, zielt. Die Mythologie, auch die Religion, am Rande auch die Philosophie, ist integraler Bestandteil dieses philologischen Interesses. Der Briefwechsel zeigt auf das Eindrücklichste, dass die beiden Gelehrten nur gewaltsam in die erst später geprägten akademischen Fachbezeichnungen einzupassen sind.

Humboldt war im Sanskrit nach eigenen Angaben Autodidakt, denn er schreibt an Schlegel über Bopps Ausgabe und Übersetzung der Nala-Episode, dem einzigen Buch, welches damals als Einstieg ins Sanskrit zur Verfügung stand:[6] „Ich weiß, was ich dem Nalas, gegen dessen Latein sich allerdings viel sagen läßt, verdanke. Ich habe schlechterdings aus ihm Sanskrit gelernt. Denn ich habe, bis ich ihn ganz durchgelesen hatte, gar keinen mündlichen Unterricht gehabt.“[7] Später konnte Humboldt Fragen auch mit Bopp in Berlin klären,[8] aber das Entscheidende war ohnehin die sorgfältige, sozusagen philologische Lektüre, zu der Schlegel schreibt:

Meine Belesenheit ist auch noch sehr gering; meine Methode war, dieselben Stücke immer wieder zu lesen, und nicht abzulassen bis ich entweder mit dem Verständniß, oder mit der Ursache des Nichtverstehens ganz im klaren war. Da darf kein Tüttelchen ohne die strengste Musterung vorbeygelassen werden. Wenn wir erst alle Schwierigkeiten des Leichten einsehen, dann werden wir für das Schwere gehörig gerüstet seyn. Wie sehr sich die ersten Herausgeber und Übersetzer mit dem Verstehen oft getäuscht haben, ist kaum zu glauben. Hier ist ein Beyspiel. Die Herausgeber des Hitôpadesa zu Serampore finden in ihrem Manuscript einen Vers, der an die Stelle eines andern in einem Distichon gesetzt zu werden bestimmt war, nebst der Randglosse: „Irgendwo in einer Handschrift findet sich diese Leseart“; sie rücken dieses alles in den Text, und drucken es wie Prosa.[9]

Die ersten Briefe dienen vielfach der Klärung von Anfängerproblemen und der Diskussion des Wissensstandes über das Sanskrit, der naturgemäß noch sehr unvollkommen ist. Es ist für heutige Sanskritisten nicht uninteressant zu sehen, welche Überlegungen Humboldt zum Sanskrit anstellt, etwa wenn er sich die Frage stellt, ob der status absolutus der Nomina, also die Stammform, eine „Fiktion der grammatischen Theorie“ sei. Auf diese völlig berechtigte Frage antwortet Schlegel, dass dies keine Fiktion, sondern eine schlichte Tatsache sei, da in Nominalkomposita die Worte gewöhnlich in dieser Stammform erscheinen. Vielmehr seien die lateinischen Grammatiker im Irrtum, wenn sie den Nominativ „für das nackte Wort selbst nehmen“.[10] Schlegel bringt Beispiele aus mehreren Sprachen und bezieht in die folgende Abhandlung des Problems auch die Frage nach dem Status der Verbalwurzeln im Sanskrit ein. Angefüllt mit solchen fachlichen Fragen wachsen einige der Briefe zu enormer Länge und enthalten ganze wissenschaftliche Essays.

Aus dem Briefwechsel spricht immer wieder die Begeisterung über das neuerschlossene Studiengebiet sowie das Verlangen nach wissenschaftlichem Austausch. Humboldt steht zu dieser Zeit räumlich und persönlich Schlegels wissenschaftlichem Kontrahenten in Berlin, Franz Bopp, deutlich näher, aber es ist dennoch bemerkenswert, dass er den schriftlichen Austausch mit Schlegel so vorantreibt. Den Brief vom 5.5.1821[11] endet er mit den Worten:

Ich werde den Sommer in Schlesien zubringen, bitte Sie aber doch, wenn Sie mir die Freude machen wollen, die eine recht große für mich seyn wird, mir zu schreiben, Ihren Brief nur hierher zu addressieren. Ich bekomme ihn auf diesem Wege gleich schnell und mit mehr Sicherheit.
Erhalten Sie mir und der Zeit, die wir vor langen Jahren zusammen zubrachten, und die mir immer sehr theuer bleibt, Ihr gütiges Andenken […].

Neben den wissenschaftlichen Abhandlungen gibt es auch persönliche Anknüpfungspunkte. Als Schlegel in Paris Alexander von Humboldt trifft, schreibt er:[12]

Ihren Bruder habe ich recht wohl und heiter verlassen: noch kurz vor meiner Abreise speisten wir sehr vergnügt zusammen im Palais royal. Er hat mir versprochen, mir etwas für die Indische Bibliothek zu geben: wenn er nur Wort hält! Die gleiche Bitte möchte ich an Ew. Excellenz wagen. Es liegt so manches in dem Umfange Ihrer Untersuchungen, was in den Kreis meiner Zeitschrift gehört, und wenige Seiten von Ihrer Hand würden für mich ein Geschenk vom größten Werthe seyn.

Alexander von Humboldt schrieb jedoch keinen Beitrag für die Indische Bibliothek. Die Zeitschrift bestreitet Schlegel vor allem mit eigenen Beiträgen, zu denen einige umfangreiche, aus dem Briefwechsel entstandene Artikel Wilhelm von Humboldts treten.

Beide Wissenschaftler teilen eine Entdecker- und Forscherfreude, die sich auf die Sanskritsprache und -literatur richtet. Neu zugängliche Werke werden begierig aufgenommen, und man bemüht sich gemeinsam, obsolete Auffassungen zu überwinden und die Kenntnis Indiens erstmals auf wissenschaftlichen Boden zu stellen:

Es wird bald einmal ein großer Artikel Berichtigungen nöthig seyn, denn es wird in Deutschland Mode, daß die Crethi und Plethi nicht nur von den Indischen Alterthümern sondern auch vom Sanskrit schwatzen, ohne ein Wort davon zu wissen. – Ich werde nicht umhin können, gegen die Vorhalle des wackern Ritter vieles einzuwenden; unmöglich kann ich seinen vorbrahmanischen Buddhaismus durchgehen lassen.[13]

Die Idee, der Buddhismus sei historisch älter als der Hinduismus, war eine solche aus der Luft gegriffene Theorie. Eine noch absurdere ist die vom Kampf der Brahmanen gegen die „Brahmen“. Hierzu muss man wissen, dass das Sanskritwort brāhmaṇa, als Berzeichnung des obersten Standes der indischen Gesellschaftsordnung, im deutschen als „Brahmánen“ (mit Längung und Betonung des falschen Vokals) umgesetzt wurde, im Englischen wurde es zu „Brahmin“, das eher in Richtung der richtigen Aussprache geht.[14] Diese wäre zu verkraften, wenn nicht ein so vielgelesener Autor wie Sonnerat diese Dopplung phantasievoll ausgestaltet hätte, wie Schlegel kritisiert:[15]

Sonnerat weiß eben daselbst viel artiges von einem grausamen Kriege zwischen den Brachmanen und den Bramen zu erzählen, wobei die halbe Bevölkerung Indiens umgekommen, und die Bramen zuletzt Sieger geblieben seyen. Er hat den Brahmanen, die sich noch heute eben so nennen, wie zur Zeit Alexanders, aus der Verderbnis ihres eignen Namens mächtige Gegner erweckt. Es ist grade, als wenn ein Geschichtschreiber von einem Vertilgungskriege zwischen den Franzosen und den Frenchmen meldete.

Schlegel sieht seine Aufgabe hier in der Hebung der Allgemeinbildung zu Indien, die quellenbasierte Forschung als ein Gegengewicht gegen die wilde Spekulation. Dass er und die nachfolgende Indologie immer wieder mit einem „romantischen“, im Sinne eines schwärmerischen Indienbildes in Verbindung gebracht wird, passt schwerlich zu seinen Werken, ist aber für geisteswissenschaftliche Theorien so unerlässlich, dass es kaum mehr zu berichtigen ist. Schlegels aufklärerische Absicht ist indes recht deutlich:[16]

Mit dem Sanskrit ist es vollends bey unsern Landsleuten eine wahre Wuth davon zu sprechen, ohne es zu wissen. Herr Rhode in Breslau, dem wir auch eine artige Vergleichung des Koptischen mit dem Plattdeutschen verdanken, will den Colebrooke über das Wort siddhânta zurecht weisen, es könne unmöglich demonstratio heißen.

Was den Stil der Kommunikation betrifft, so ist festzustellen, dass der intensive Austausch auch einen immer freundschaftlicheren persönlichen Ton bewirkt:[17]

Die Zahl der vollgeschriebenen Blätter erinnert mich daran, Ihre Geduld nicht auf eine zu starke Probe zu stellen. Der Empfang Ihres Briefes vergegenwärtigte mir lebhaft, welche Mittheilungen und Anregungen ich dadurch einbüße, daß ich nicht in Berlin lebe. Mich fesselt hier der schöne Rhein, die mildere Luft, die fast ländliche Ruhe und Beschränktheit, und dann die günstige Lage für mancherley Reisen; nun auch schon die Gewohnheit und die Scheu vor einer neuen Einrichtung. Doch ist meine schließliche Ansiedelung hier noch nicht höheren Orts entschieden, und ich habe meinerseits Berlin nicht ganz aus den Augen verloren. Auf jeden Fall hoffe ich bald einmal wieder mit Ihnen zusammenzutreffen, wie ich ja schon in so manchen Städten und Ländern das Glück hatte.

Tatsächlich hatte Schlegel einen umfangreichen Brief geschrieben, der im Druck 16 Seiten umfasst. Er legt Humboldt darin sein wissenschaftliches Programm für die nächsten Jahre dar, vor allem die Editionsprojekte, und er antwortet auf seine Fragen zum Sprachvergleich. Es geht aber auch um Fragen der Übersetzung und vieles mehr. Humboldt antwortet nun in einem 25-seitigen Brief:[18]

Ew. Hochwohlgebohren haben mir durch Ihren ausführlichen und lehrreichen Brief vom 23. Julius eine Freude gemacht, für die ich Ihnen nicht genug danken kann. Ich bin dadurch an die Zeit erinnert worden, in der wir uns so oft über wissenschaftliche Gegenstände zu unterhalten pflegten, und in die ich mich immer so gern zurückversetze. Damals geschah es freilich mündlich. Allein bis ich vielleicht wieder einmal das Vergnügen habe, in Ihrer Nähe zu seyn, erlauben Sie wohl, daß ich mir schriftlichen Ersatz verschaffe. Ich bitte Sie, an die Beantwortung meiner Briefe immer nur dann zu denken, wenn es Sie von gar nichts andrem wichtigem zurückhält.
Ich danke Ihnen vor Allem für Ihre Beantwortung meiner Fragen über das Sanskrit. Ich habe den ganzen Sommer nichts andres getrieben, und daher wenigstens mehr Fortschritte gemacht, als im vergangenen Winter. Es schien mir nöthig, einmal eine große Zeit dem Studium zu widmen, um mich wenigstens in den Anfangsgründen fester zu setzen.

Die Autoren erlegen sich, was Themenvielfalt und Umfang anbelangt, keinerlei Beschränkung auf. Nur am Ende des langen Briefes schreibt Humboldt: „Ew. Hochwohlgeboren werden eine Scheu vor meinen Briefen bekommen, und es gefährlich finden jemanden zu schreiben, der eine so freie Muße hat, als ich.“[19] Schlegel entschuldigt sich, dass er im Semester mit drei Vorlesungen täglich den Brief nicht „einigermaßen nach Würden“[20] beantworten kann.

Philologische Entdeckerfreuden

Humboldt ist Schlegel in einem nicht unähnlich: In reiferem Alter ließen sich beide von einem neu zugänglichen, ganz unbekannten Studiengebiet, der indischen Literatur, begeistern. Humboldt, der wie alle Indologen die Berichte in den Asiatischen Untersuchungen[21] las, meinte: „trostlos ist es gar, wenn man nichts als Namen und Titel hört.“[22] Von so spannenden Texten zu hören, ohne Aussicht, sie in absehbarer Zeit lesen zu können, war quälend und Neuerscheinungen sah man begierig entgegen: „Ich erhalte erst jetzt den Catalog der Buchhandlung der Ostindischen Compagnie für 1822, und sehe, daß an Sanskrit-Texten in Indien eben nichts neues erschienen ist.“[23]

In der Tat konnten sich die Indologen in Deutschland nur durch eine Reise nach England in den dortigen Handschriftensammlungen einen Eindruck wenigstens einiger der vielen Texte verschaffen, die englische, in Indien arbeitende Indologen erstmals beschrieben hatten. Humboldt will aber einen literaturwissenschaftlichen Eindruck der indischen Literatur, er möchte wissen, ob die philosophische Literatur immer metrisch sei, ob es eine „höhere, wissenschaftliche“ Prosa gibt, ob es historische Werke gibt, „die man gemeinhin abläugnet“ und vieles mehr. Beide Forscher teilen die Wissbegierde und Begeisterung über eine erstmals zugängliche außereuropäische Literatur.

Aus indologischer Sicht ist es spannend zu beobachten, wie die erste Generation von Indologen ohne den Kontakt mit einheimischen Gelehrten elementare Probleme löste. Zum Beispiel hatte Bopp aus sprachwissenschaftlichen Gründen dort, wo die Nominativendung für ein (rekonstruiertes) s steht, auch ein s gedruckt, was Schlegel für seine lateinische Umschrift übernimmt. Der Eigenname „Nala“, der heute in der endungslosen Stammform zitiert wird, wurde daher zu „Nalas“. Bopp tut dies aber auch in der indischen Devanāgarī-Schrift und erzeugt dadurch eine Art neuer Orthografie, was Humboldt zu Recht kritisiert:[24] „Ich bin schon lange darüber mit Bopp in Streit, daß er auch im Devanagari Druck in seiner Grammatik in den Paradigmen den Singularis und Pluralis immer mit s endigen läßt. Es scheint mir dies durchaus unstatthaft, da, wo das Wort allein steht, [25] schließen muß. Wie die Sprache heute liegt, müßte auf das s ein surder Buchstabe folgen.“ Häufig geht es um – heute banal erscheinende – Verständnisprobleme, die sich aus den recht unzureichenden Grammatiken und Wörterbüchern erklären, und gelegentlich teilt man die Lösung schwieriger Stellen mit.

Eine solche Stelle ist Bopps Übersetzung von Nala 14.11, wo eine Schlange (eigentlich ein Nāga) sagt: padāni gaṇayan gaccha svāni. Bopp, der als Grammatiker weiß, dass sich das Reflexivpronomen sva auf das Subjekt des Satzes beziehen soll, übersetzt pedum numerans, i, meorum und Schlegel wundert sich:

Wie einem über eine oft gelesene Stelle doch endlich ein Licht aufgehen kann, davon ist mir noch heute ein Beyspiel vorgekommen. Ich las wegen der von Ihnen angeführten Stellen das 14te Capitel des Nalas im Zusammenhange. Immer hatte ich mich sl. 11.1. an den Füßen der Schlange geärgert, Füßen in solcher Zahl als wäre von einem Kellerwurme die Rede, da doch die Schlange in ihrer eigentlichen Gestalt nur verkleinert sich als ein Ring um den Finger des Nalas gewunden hat. Aber ich mußte mich dazu bequemen, weil Bopps auf Glauben angenommene Erklärung mich verhindert hatte, die Stelle scharf ins Auge zu fassen. Nun sehe ich, daß swâni gar nicht auf die redende Schlange bezogen werden kann, und alles wird mir klar. Die Schlange sagt zum Nalas: „Gehe umher, und zähle die eignen Schritte, so viele dir beliebt!“ – Der Gebrauch des swa ist hier zwar von dem des Lateinischen suus verschieden, aber das ist er oft. Wenn er nach Ihrer Methode an Beyspielen entwickelt würde, so bliebe, glaube ich, kein Zweifel mehr übrig.[26]

In der späteren Berliner Ausgabe des Boppʼschen Nalus ist der Fehler berichtigt. Er zeigt, dass – wie könnte es anders sein – die Sanskritisten der ersten Generation anfangs noch elementare Fehler machten und es auf dem Kontinent keinen Lehrer gab, der einem entscheidend hätte weiterhelfen können. Das „Orakel“, also der beste Sanskritkenner, den man befragen konnte, war Colebrooke. Doch die Lernkurve war steil. Nach einem Jahrzehnt war man bereits in der Lage Pāṇinis Grammatik zu lesen.

Zur Zeit des Briefwechsels war die scientific community der Orientalisten überschaubar. Man las die Erzeugnisse der befreundeten Kollegen, aber auch solche der Gegner, wobei die Reaktionen auf letztere naturgemäß unterhaltsamer sind. Über seinen Münchner Kollegen Othmar Frank, dem Schlegel „Mystifikation“ aus religiösen Gründen vorwirft, schreibt er an Humboldt: „Herr Othmar Frank hat mich angegriffen: er sieht nicht ein, daß ich ihn bisher geschont habe.“[27] Ein größerer Streit sollte sich an Schlegels erster kritischer Edition eines Sanskrittextes entzünden.

Die Bhagavadgītā

Die Bhagavadgītā, eine aus dem großen Epos Mahābhārata ausgekoppelte Episode, wurde im vormodernen Indien vielfach kommentiert, aber ihr Aufstieg zum nahezu wichtigsten Text des Hinduismus vollzog sich erst im 19. Jahrhundert, als der Text gedruckt und übersetzt vorlag. Der erste Druck in Indien im Jahre 1808 enthält keinerlei Information über die Herkunft und Erstellung des Textes. Er wird wie in Palmblatthandschriften im Querformat gesetzt, wobei die Seitenzählung auf der Rückseite jedes Folios zu finden ist. Dem Text vorangestellt ist, wie in devotionellen Ausgaben üblich, ein Ritualtext, am Ende findet sich im Kolophon eine Datierung nach indischen Zeitrechnungen sowie die Erwähnung von Bābū Rām als Herausgeber. Auf der letzten Zeile findet sich ein Druckfehlerverzeichnis.

Schlegel kann mit seiner ersten kritischen Textausgabe, die auf in Europa zugänglichen Handschriften beruhte, zahlreiche Fehler in der Ausgabe berichtigen, seine lateinische Einleitung und Übersetzung erschließt den Text der gelehrten Welt. Dass sie eine Wirkung auf die indische Rezeption gehabt haben könnte, lässt sich ausschließen. In der Praxis waren es wohl eher die englischen Übersetzungen, welche die moderne indische Rezeption beförderten.[28]

Die Wirkung der Aussagen europäischer Gelehrter verpufften aber dennoch nicht. Zu Schlegels Lebzeiten vollzog die englische Kolonialmacht in Indien einen folgenschweren Schritt: Im Streit darum, wie das indische Bildungssystem unter englischer Kolonialherrschaft weiterentwickelt werden sollte, gab es zwei Lager: den anglicists, die für eine weitgehende Anglisierung eintraten, standen die orientalists gegenüber. Emblematisch für die Auffassung der schließlich siegreichen angliciststs war die Minute upon Indian Education des englischen Politikers Macaulay, welche die Minderwertigkeit der indischen Bildung und Literatur, und damit auch der Kultur an sich zu enthalten schien.[29] In diesem Kontext wurden europäische Aussagen über den Wert der indischen Kultur plötzlich hochbrisant, und die positive Rezeption der indischen Kultur und Religion in Europa wurde zur Kronzeugin gegen die Position Macaulays.

Dass Schlegel auf der Seite seiner englischen Kollegen zu den orientalists neigte, ist offensichtlich. Und dass er seine Kritik der englischen Kolonialpolitik auch öffentlich üben wollte, zeigt sein Brief an einen Beamten im Bildungsministerium, Johannes Schulze, in dem er den Plan einer öffentlichen Vorlesung in England explizit in einen politischen Kontext stellt: „Sehr viele Engländer, vornehme Staatsmänner nicht ausgenommen, haben nur verworrene oder ganz verkehrte Vorstellungen von Indien: die Methodisten haben auch hierauf einen nachtheiligen Einfluß gehabt.“[30] Doch die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, waren denkbar begrenzt. Niemand in Indien wird die Indische Bibliothek oder Schlegels Editionen gelesen haben, und der Briefwechsel zwischen Schlegel und Humboldt erschien erst 1908 im Druck. Doch die Auffassung, dass die deutschen Gelehrten zu einer positiveren Sicht der indischen Kultur gelangt waren als die Engländer, zieht sich wie ein roter Faden bis heute durch das indische Deutschlandbild.[31]

Für Indologen stellt die Schlegelʼsche Bearbeitung die erste quellenkritische, philologischen Kriterien genügende Bearbeitung eines Sanskrittextes dar. Schlegel wollte mit dieser Methode die Indienforschung auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen und populäre Irrtümer überwinden. In der vor allem nichtindologischen Literatur werden Schlegel indes alle möglichen Sekundärmotive für die lateinische Übersetzung dieses Textes unterlegt, wie etwa die Bildung eines klassischen Kanons, wo doch die Hauptleistung aus fachlicher Perspektive in der kritischen Edition des Originaltextes besteht. Aus indologischer Sicht fragt man sich, wie er diesen Eindruck hätte vermeiden können – außer natürlich durch einen Wechsel des Faches.

Humboldt hatte wie andere Intellektuelle die englische Übersetzung von Wilkins gelesen, war vom Inhalt fasziniert und erwartete nun sehnlichst den Sanskrittext, also die Schlegelʼsche Ausgabe des Originaltextes aus den Handschriften mit lateinischer Übersetzung. Am 17.3.1823 entschuldigt sich Schlegel, dass Humboldt sich noch weiter gedulden müsse:[32]

Ew. Excellenz habe ich wiederum sehr um Nachsicht zu bitten. Indessen bin ich dießmal ganz gegen meinen Willen in Rückstand gekommen. Ich wünschte melden zu können, daß die Abhandlung wirklich im Druck sey, und ich bin nicht Schuld an der Verzögerung. Das ganze Manuscript des 4ten Heftes war schon vor dem Fasten fertig; aber es haben sich, wie es zu gehen pflegt, allerley verdrießliche Hindernisse eingestellt: bald fehlte es an Papier, bald an Setzern und Druckern. Endlich wird doch daran gesetzt: ich werde meinen besten Fleiß auf die Correctur wenden, die Indischen Wörter setze ich selbst.

Als das Werk dann herauskommt, findet es in Humboldt einen begeisterten Leser. Aber bald erscheint eine extrem kritische Rezension im Journal Asiatique.[33] Dort diagnostiziert Schlegels Pariser Kollege Langlois schwere Übersetzungfehler, nennt einige Stellen „inintelligible“, bringt immer wieder „autres exemple de cette obscurité dans la traduction“ und scheint sich generell nicht mit den Prinzipien von Schlegels lateinischer Übersetzung anfreunden zu können.

Dass nun Schlegel, der sich in seiner Jenaer Zeit als scharfzüngiger Literaturkritiker geschult hatte, dagegenhalten würde, war Humboldt aus der langen Bekanntschaft nur zu klar. Manchmal versucht er ihn darin zu bremsen:[34]

Wenn Sie mir aber erlauben, Ihnen offen meine Meinung zu sagen, so würde ich auch in Ihrer Stelle diesmal auf den Spott und selbst das Spötteln verzichten, und einen ernsten Ton annehmen, in dem Sie aber deutlich äußerten, daß das Chézysche Betragen, sowie Colebrooke es sehr gut in seinem Briefe sagt, dem wahren Geist ächter Wissenschaft und Wahrheitsliebe durchaus widerspricht. Ich glaube, das wird in Frankreich viel mehr Eindruck machen, und den Gegner ganz in sein Unrecht stellen, da bei einer ironischen Behandlung doch immer eher der Bespöttelte in Schutz genommen wird, und doch vielleicht in der Ironie die Verletzung einer gewissen Pietät gefunden werden könnte. Denn weil nun einmal Chézy früher Sanskrit gewußt hat, als Sie Sich damit beschäftigten, so fehlen doch die Anwendungen der Begriffe von Lehrern und Schülern nicht, so thöricht ich sie auch halte, da z.B. weder Bopp noch Sie, soviel mehr Sie beide doch hier ein Recht dazu hätten, mich haben dies Lehrerverhältniß fühlen lassen. Chézy arbeitet selbst nichts für das Publikum, aber ärgert sich, wenn andre es thun. Das ist die ganze kleinliche Erbärmlichkeit. Das fühlt man aber gewiß auch in Paris, wie bei uns.

Ähnliches geschieht auch im Hinblick auf die Rezension der Bhagavadgītā, hinter der Schlegel vermutlich nicht zu Unrecht Chézy vermutet. Chézy hatte Schlegel die Benutzung einer Bhagavadgītā-Handschrift verwehrt, und als er die Veröffentlichung dennoch nicht verhindern konnte, ließ er Langlois eine Negativrezension verfassen, so ist zumindest die Schlegelʼsche Sicht der Dinge. Humboldt liest die Rezension ebenfalls und schreibt tröstend an Schlegel:[35]

Während dieser Arbeit stieß ich auf Langlois Recension, jedoch nur die der 6. ersten Gesänge. Ich gestehe, daß sie mich indignirt hat. So offenbare kleinliche Scheelsucht, eine solche hämische Partheilichkeit, und das alles gegen Ihre Uebersetzung, die ich für meisterhaft halte, wenn sich auch an einzelnen Dingen kritteln läßt und ließe. Dabei schien mir seine Kenntniß und noch mehr seine Art, die Sache zu behandeln, gar nicht so, daß sie große Achtung einflößen könnte. Vorzüglich ist er in philosophischen Ideen zurück, und man kann wohl mit Wahrheit sagen, daß er das Gedicht, als philosophisches Ganzes, auch schlechterdings nicht verstanden hat. Man kann nichts Entstellenderes und Magreres lesen, als seine sogenannten Auszüge.

Humboldt äußert sich, seiner bisherigen Praxis folgend, sehr ausführlich zu den Kritikpunkten und Schlegel druckt in seiner Indischen Bibliothek[36] nicht nur Humboldts Reaktion zum Thema, sondern auch seine eigenen Bemerkungen. Dabei ist Humboldts Kritik nicht zu einseitig, er gibt Langlois in manchen Punkten recht, die Schlegel ohne Rechthaberei gelten lässt. Schlegel inszeniert den Abdruck aber genüsslich, denn mit Humboldt hatte er als Gegenrezensenten ja einen sehr bekannten und hochwillkommenen Autor gewonnen.

Schlegels eigene Einleitung endet mit einer unmissverständlichen Warnung: „Hr. Langlois hat seitdem mit seinen Kritiken fortgefahren, und zwar auf eine Weise, welche mich bewogen hat, seine Befugniß zum Richteramt etwas näher zu prüfen, und für so viele Bereitwilligkeit im Zurechtweisen ihm den Gegendienst einer gründlichen Zurechtweisung zu leisten.“ Einige der Langloisʼschen Kritikpunkte offenbaren in der Tat ein mangelhaftes Textverständnis: „C’est ca que signifie le mot samâdhi, qu’on rend vaguement par contemplatio; c’etait plutôt continentia“.[37]

Humboldt wendet sich auch gegen Langloisʼ Einschätzung der Gītā, der sie mit der griechischen, lateinischen, arabischen und persischen Literatur vergleicht, und zu einem verhaltenen bis abwertenden Urteil gelangt. Humboldt antwortet mit einem angesichts der sonst von ihm geübten Zurückhaltung überschwänglichen Urteil:

Das hier aufgeführte aesthetische Urteil möchte ich nicht zu vertreten haben. Ich finde in der Gita nichts, wodurch man veranlaßt würde, sie als ein zur Gedächtnishülfe in Verse gebrachtes Werk anzusehen […]. Die Vergleichungen mit Homer und den Griechen, die man leider so oft anstellt, scheinen mir sehr unpassend, dagegen gewiß, daß diese Episode des Maha-Bharata das schönste, ja vielleicht das einzige wahrhaft philosophische Gedicht ist, das alle uns bekannte Literaturen aufzuweisen haben.

Der Drang, dem kaum fundierten ästhetischen Urteil Langloisʼ etwas entgegenzusetzen, führt Humboldt zu einer nicht besser fundierten Gegenthese. Der Sanskritdruck war erst wenige Jahrzehnte alt, und die wenigen gedruckten Werke in Europa schlecht zu beschaffen, Handschriften nur in Paris und London zu konsultieren. Humboldts Kenntnis der indischen Literatur beschränkte sich also auf eine Auswahl der ohnehin verschwindend kleinen Menge an gedruckten Büchern. Man hätte vermutlich mit seiner Zustimmung nach wenigen Jahren mit dem Bekanntwerden größerer Ausschnitte aus der indischen Literatur diese Bewertung ad acta legen können, aber das Zitat wurde ohne Ansehen des Kontexts seiner Entstehung zum ständig wiederholten Beleg entweder für den Wert der Gītā oder auch für die Konstruktion einer German Gītā.

In einem Brief beschreibt Humboldt selbstkritisch seinen Überschwang:[38]

Jetzt ist es mir um so lieber, die Antwort verschoben zu haben, da ich Ihnen sagen kann, daß ich die ersten 10. Gesänge des Gita gelesen habe. Bemerkungen, die Sie interessiren könnten, werden Sie von mir, und am wenigsten nach der Lesung des bloßen Abdrucks schon selbst nicht erwarten. Aber danken thue ich Ihnen recht herzlich für die große Freude, die mir das Lesen schon dieses Theils des Gedichts gewährt hat. Es ist mir in solchen Dingen eine gewisse Kindlichkeit geblieben, und ich kann nicht abläugnen, daß mich während dieses Lesens ein paarmal das Gefühl einer wahren Dankbarkeit gegen das Schicksal überrascht hat, das mir vergönnt hat, diese Dichtung so gut, wie es mir nun jetzt eben damit geht, in der Ursprache zu vernehmen. Es ist mir, als würde mir etwas recht Wesentliches gefehlt haben, wenn ich, ohne das, hätte die Erde verlassen müssen. Man kann nicht sagen, daß man gerade dadurch neue Wahrheiten entdeckt. Der unbeschreiblich fesselnde Reiz liegt nicht einmal in der Bestätigung längst erkannter. Aber man wird von einem so wundervollen Gefühle alterthümlicher, großartiger und tiefsinniger Menschheit ergriffen, daß man wie in Einem Punkt die geistige Entwickelung aller Menschengeschlechter und ihre Verwandtschaft mit dem Reiche alles Unsichtbaren zu empfinden glaubt. Die Sprache erscheint ganz anders in diesen Ueberbleibseln der ältesten Zeit. Der Gedanke scheint inniger mit den Worten verschmolzen, und in dem Laute, der Bewegung dieser, ihren Anklängen an verwandte Begriffe und Bilder fühlt man immer mehr, als den einzelnen Gedanken, ja selbst als ein Individuum, wirklich das geistige Walten eines ganzen Zeitalters. Nichts was ich bisher im Sanskrit gelesen, hat mir einen solchen Eindruck hinterlassen, ich begreife indeß, daß, wer das Stück nur in der Uebersetzung, und sey es auch die beste, liest, das gar nicht empfinden kann. Die Uebersetzung eines solchen Werks gleicht wirklich der Beschreibung eines Gemäldes. Farben und Licht fehlen.

Solche und andere Bemerkungen haben in der Sekundärliteratur eine große Wirkung entfacht und zu weitreichenden Deutungen über eine romantische Indienbegeisterung angeregt. Humboldt habe seine „spiritual ancestors“ gefunden, eine „perennial philosophy“, oder er habe den Text auf der Suche nach der blauen Blume der Romantiker gelesen.[39] Ob diese Deutungen angemessen sind, muss der Leser selbst beurteilen, mir erscheinen sie eher als ein Festhalten an altbekannten Deutungsmustern, die von den eigentlichen indologischen Inhalten der Diskussion weit wegführen.

Dass im Rahmen des diesjährigen Jubiläums der beiden Briefeschreiber hier nur der Korrespondent Wilhelm von Humboldt erwähnt wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schlegel mit einer großen Zahl von internationalen Indologen[40] im brieflichen Kontakt stand und aus diesen Briefwechseln nicht weniger interessante Schätze zu heben wären. Mit der Marburger Digitalen Ausgabe der Schlegelʼschen Korrespondenz steht der Forschung hierfür ein ganz ausgezeichnetes Werkzeug zur Verfügung.

Anmerkungen:

[1] Philip Mattson (hrsg.): Wilhelm von Humboldt. Briefe. Band 1. De Gruyter 2014, S. 138.

[2] Briefwechsel zwischen Wīlhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel. Hrsg. Albert Leitzmann. Halle 1908. Im Folgenden als Leitzmann zitiert.

[3] So Humboldt in seinem Brief vom 25.5.1793. Philip Mattson (hrsg.): Wilhelm von Humboldt. Briefe. Band 2. De Gruyter 2014, S. 154.

[4] 10.5.1818 (Leitzmann, S. 3).

[5] „Ueber die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Maha-Bharata“. In: Wilhelm von Humboldt’s gesammelte Werke. Erster Band. Berlin 1841, S. 26–109.

[6] Franciscus Bopp: Nalus, carmen sanscritum […] London 1819. Bopps Veröffentlichung war fast das einzige gut erhältliche Buch, mit dem man – in Verbindung mit einer Grammatik – Sanskrit lernen konnte. Dem Text war eine sehr wörtliche lateinische Übersetzung beigegeben, die von Schlegel aus stilistischen Gründen sehr kritisiert wurde, obwohl sie gerade dadurch einen idealen Einstieg bot.

[7] 30.12.22 (Leitzmann, S. 113–114).

[8] Man hat Paris gerne als das Mekka der Sanskritisten bezeichnet, was daran lag, dass nur dort und in England die nötigen Referenzmaterialien, wie etwa Grammatik und Wortlisten zu finden waren. Friedrich Schlegel hatte dort Sanskrit-Unterricht bei dem Schotten Alexander Hamilton, andere waren trotz ihres Paris-Aufenthalts – so Bopp nach eigenen Angaben (Salomon Lefmann: Franz Bopp, sein Leben und seine Wissenschaft. Berlin 1891, Anhang, S. 117) – de facto Autodidakten.

[9] 21.12.22 (Leitzmann, S. 103).

[10] 23.7.1821 (Leitzmann, S. 14).

[11] (Leitzmann, S. 11).

[12] 23.7.1821 (Leitzmann, S. 26).

[13] 23.7.1821 (Leitzmann, S. 27).

[14] Ähnliche Dopplungen gibt es etwa bei „tibetisch“ versus „tibetanisch“. Letzteres ist eine Adjektivbildung nicht vom Nomen „Tibet“, sondern vom englischen Adjektiv „tibetan“.

[15] Indische Bibliothek 2, S. 52.

[16] 19.5.23 (Leitzmann, S. 155–156).

[17] 23.7.1821 (Leitzmann, S. 27–28).

[18] 1.11.1821 (Leitzmann, S. 28).

[19] 1.11.1821 (Leitzmann, S. 45).

[20] 25.11.1821 (Leitzmann, S. 46).

[21] Gemeint sind die Asiatick Researches, die seit 1806 erscheinen.

[22] 21.6.1823 (Leitzmann, S. 160).

[23] 17.–23.3.1823 (Leitzmann, S. 131).

[24] 18.9.26 (Leitzmann, S. 209).

[25] Die Edition des Briefwechsels verwendet – obwohl sie kein Nagarī, sondern Umschrift verwendet – hier einen Doppelpunkt. Humboldt, der in seinem Brief aber Nāgarī schreibt, meint aber Visarga (ḥ).

[26] 21.12.1822. (Leitzmann, S.105).

[27] 29.10.26 (Leitzmann, S. 217).

[28] Gandhi las bekanntlich die Bhagavadgītā in der englischen Übersetzung von Edwin Arnold.

[29] Das Schriftstück enthält in der Tat solche Passagen, tatsächlich wurde aber vor allem die Verkehrssprache der Mogulzeit, also das Persische, vom Englischen ersetzt, da man nicht glaubte, das Sanskrit könnte für breite Schichten die Funktion einnehmen, die es immer für die Oberschicht hatte: als Kommunikationssprache für ganz Indien.

[30] 2.8.1829 (Körner. Erster Theil, S. 484).

[31] Sie wird jedoch fast ausschließlich auf den einzigen in Indien weithin bekannten deutschstämmigen Indologen Max Müller bezogen, der aber zeitlebens in Oxford wirkte und daher englisch schrieb.

[32] 17.3.1823 (Leitzmann, S. 129).

[33] Tome IV (1824).

[34] 5.3.26 (Leitzmann, S. 193–194).

[35] 17.6.25 (Leitzmann, S. 179–180).

[36] Band 2.4 (1827), S. 218–258.

[37] Indische Bibliothek 2, S. 235.

[38] 21.6.23 (Leitzmann, S. 157–159).

[39] Marianne Cowen, zitiert in Eric J. Sharpe: The Universal Gītā. London 1985, S. 19.

[40] Und natürlich nicht nur mit diesen. Bereits der Briefwechsel mit Alexander von Humboldt ist ausführlicher als der mit Wilhelm von Humboldt.