„Mir war, als hielt’ zusammen/ Uns Eine Rind’ umschlossen“

August Wilhelm Schlegels Widmungsgedicht „An Fridrich Schlegel. Im Herbste 1802“

Von Cornelia IlbrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cornelia Ilbrig

I.

Wenn es sich bei August Wilhelm Schlegels Widmungsgedicht „An Fridrich Schlegel. Im Herbste 1802“[1] auch um einen literarischen Text handelt, so referiert es doch in weiten Teilen – auf jeden Fall bis zur elften Strophe – auf wirkliche Fakten, sodass im lyrischen Ich August Wilhelm, im lyrischen Du Friedrich Schlegel wiedererkennbar wird. Zum Verständnis des Gedichts ist es notwendig, die zahlreichen Anspielungen auf reale Begebenheiten zu entschlüsseln – zu diesem Zweck werden zunächst das lyrische Ich mit August Wilhelm Schlegel, das lyrische Du mit Friedrich Schlegel identifiziert.

Das Gedicht handelt erstens vom gemeinsamen Wirken der Brüder in jüngster Vergangenheit, ihren Zielen und Idealen, die die kühne frühromantische Programmatik entscheidend prägten, zweitens von ihren getrennten Wegen in der Gegenwart, und drittens von der Hoffnung für die Zukunft, die unterschiedlichen, aber sich gegenseitig ergänzenden Begabungen und Interessen der Brüder zu einem großen Ganzen zusammenführen zu können.

Das Gedicht lässt sich entsprechend in drei große Abschnitte gliedern; hinzu kommen die erste und die letzte, 16. Strophe als Rahmungen, in denen das zu Sagende vorbereitet beziehungsweise das Gesagte zusammengefasst wird. Entsprechend beginnt das Gedicht nach der obligatorischen Anrufung – „O Bruder“ (v. 1) – gleich mit einem Bedauern über die räumliche Entfernung zwischen beiden: August Wilhelm Schlegel lebte damals in Berlin, während Friedrich Schlegel im Sommer mit Dorothea nach Paris gezogen war. Danach wird an die Idee einer gleichberechtigten Zusammenarbeit im Zeichen der „Sympoesie“ oder – allgemeiner – „Sympraxis“[2] erinnert: „In Wissenschafts-Bezirken,/ Und in der Kunst Gefilden/ Gemeinsam stets zu bilden“ (v. 6–8). Diese Verse muten wie eine Poetisierung der „Vorerinnerung“ zur im Jahre 1798 von den Brüdern Schlegel neu gegründeten Zeitschrift Athenäum an, in der es heißt:

„In Ansehung der Gegenstände streben wir nach möglichster Allgemeinheit in dem, was unmittelbar auf Bildung zielt; im Vortrage nach der freyesten Mittheilung. Um uns jener näher zu bringen, hielten wir eine Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten, um welche sich ein jeder von uns an seinem Theile bewirbt, nicht für unnütz.“[3]

In den Strophen zwei bis vier geht es jedoch zunächst um gegenwärtige Forschungsinteressen. Während sich Friedrich Schlegel in Paris auf der Suche nach einer neuen Mythologie ganz der Erforschung des Mittelalters und der indischen Kultur widmet,[4] hat sich August Wilhelm Schlegel in Berlin ganz der Übersetzung des spanischen Autors Pedro Calderón de la Barca verschrieben. Wenn Schlegel dabei die „Sehnsucht“ (v. 44) verspürt, dem Dichter „nachzusingen“ (v. 43), so folgt er der schon in seinem Text „Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters“ formulierten Theorie von der  „poetischen Übersetzung, welche keinen von den charakteristischen Unterschieden der Form auslöschte, und seine Schönheiten, so viel möglich, bewahrte, ohne die Anmaßung ihm jemahls andre zu leihen; welche auch die misfallenden Eigenheiten seines Styls, was oft nicht weniger Mühe machen dürfte, mit übertrüge“ [5].

In der fünften Strophe formuliert August Wilhelm Schlegel nochmals das Anliegen, dass räumliche Entfernung nicht zu Entfremdung führe, sondern weiterhin – wiederum in Ergänzung ihrer unterschiedlichen Fertigkeiten – ein wechselseitiger Austausch und eine gegenseitige Bereicherung mit den Ergebnissen ihrer Arbeit stattfindet:

Wie uns Natur gepaaret,
Als Brüder uns gesendet,
Und diesem mehr gespendet,
Was jenem mehr gebricht (v. 50–53)

Gleichzeitig bildet diese Strophe den Übergang zum nächsten Teil, den Strophen sechs bis elf, in denen das „Traumgesicht“ als eine umfassende Metapher für die im Zeichen der „Sympraxis“ stehende Zusammenarbeit in der Jenaer Wohngemeinschaft betrachtet werden kann. So fasst August Wilhelm Schlegel den im Athenäumsfragment 125 zum Ausdruck gebrachten Gedanken, „zwei Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles sein, was sie könnten“, im Gedicht in das Bild des Baumes:

Mir war, als hielt’ zusammen
Uns Eine Rind’ umschlossen
In hoher Baumgestalt […]
War mir’s, als ob mein Reden
In eins mit deinem schmolz.
Es wollte solch Geflister
Uns wechselnd überreden
Zu theilen unsre Kräfte.
Ich sagte: Laß die Wurzeln
fest in dem Boden wurzeln,
Zu gründen unser Holz.
Du sagtest: Treib die Säfte
Hinan zum Wipfel stolz (v. 56–77)

Gemeinsam, so der Traum des lyrischen Ichs, loten das Ich und das Du das Universum aus. Das Du erhält dabei die Rolle der Baumwurzeln, das Ich übernimmt die des Baumwipfels. Das Du soll in die dunkelsten Tiefen vordringen (v. 81–84), das Ich sich empor in lichte Höhen aufschwingen (vgl. v. 89–97). Für die grenzüberschreitende Tätigkeit des Bruders – seine durch kulturanthropologischen Forschungsdrang motivierte Ursprungssuche – verwendet August Wilhelm Schlegel den romantischen Topos des Bergwerks:

Du senktest ohne Grausen
Dich in die Nacht hinunter,
Und fandst den Weg ohn’ Augen
Durch ehrne Felsenklammern
Zu kühler Wasser Kammern
Voll eisenschwangern Schaums (v. 81–86)

Die Bergwerksmetaphorik steht in der Romantik unter anderem für unerforschte und verborgene Tiefenschichten des Menschen und der menschlichen Kultur. In den Strophen 13 und 14 wird besagter Topos nochmals aufgegriffen; das „Du“ tritt in der Rolle des Geologen auf, der „der Vorzeit Spuren/ Im Steingepräge sehen“ (v. 142f.) kann:

Du thust indeß im harten
Gesteine manchen Schlag,
Und förderst aus der Erden
Edles Metall zu Tag (v. 151–154)

In Opposition dazu steht August Wilhelm Schlegels weltlich ausgerichtete universal ausgreifende und damit ebenfalls grenzüberschreitende Tätigkeit als Netzwerker, Kommunikator und Übersetzer:

So schlang sich dicht der Wipfel
Aus Ästen, Zweigen, Sprossen;
Den Sternen, Mond und Sonne,
Den Lüften, Thau und Regen,
Streckt’ ich die Arm’ entgegen,
Und liebevoll das Haupt (v. 92–97)

Resümierend blickt das lyrische Ich in der elften Strophe auf die gemeinsame – und in der Jenaer Zeit ein stückweit realisierte – Utopie einer „progressiven Universalpoesie“ zurück, zu deren wichtigsten Bestimmungen es gehört, „die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen“:

O Bruder! Wie verbündet
Wir schon so gut gerungen,
Daß nur der Neid es schilt;
Uns tiefer stets gegründet,
Und höher stets geschwungen,
Uns weiter stets gebreitet,
Zwar mit getheilter Stärke,
Doch dienend Einem Werke (v. 111–118)

Die Strophen 12 bis 15 richten sich dann auf die Zukunft. Schlegel bedient sich hierfür erstens der Metaphern des Schiffs und der Insel (Strophen 12 und 13). Das „Du“ wird dabei als Steuermann gesehen, der die Richtung vorgibt; das lyrische Ich selbst schreibt sich die Rolle desjenigen zu, der die Segel führt und damit die Stabilität wahrt. Das Ziel, die an Flora, Fauna und wertvollen Erzen reiche Insel, ist wie das Bergwerk ein Topos. Er steht für Isolation, Einsamkeit und Gefährdung sowie – in diesem Zusammenhang – für Zweisamkeit fernab von allen gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen, in der sich die unterschiedlichen Begabungen und Interessen frei entfalten können. Hier verschreibt sich das erd- und weltverbundene lyrische Ich der irdischen Flora und Fauna der Inselwelt, während es das Du auf seiner Spuren- und Ursprungssuche in die unterirdischen Tiefen zieht.

Die Bildlichkeit ändert sich abermals in Strophe 14: Endlich in der „Heimath“ (v. 144) angekommen, kann nun jeder seiner Tätigkeit nachgehen, mit der er sich auf der Insel vertraut gemacht hat. Das lyrische Ich sieht sich in der Rolle des Gärtners und Winzers, der sät, pflanzt und pflegt, was er angebaut hat, während der Bruder, das Du, als Bergmann „Edles Metall zu Tag“ (v. 154) fördert. Der Alltag der beiden bleibt jedoch nicht auf diese Rollenverteilung beschränkt. Wesentlich wird nun in Strophe 15 der Austausch beziehungsweise die Ergänzung der Fertigkeiten und Interessen: allerdings nicht im Sinne einer engen sympraktischen Zusammenarbeit, sondern im Anschluss an die eigenständige intensive wissenschaftliche Tätigkeit: Während das Ich aus den Schätzen, die der Bruder ans Licht befördert hat, „künstlich Schalen/ Und Trinkgefäße“ (v. 156f.) bilden will, erhält das Du die geernteten Reben, um Wein daraus herzustellen, der dann bei den großen geselligen Runden – sicher erinnert sich Schlegel da an die anregenden Treffen mit Freunden in der überaus gastfreundlichen Jenaer Wohngemeinschaft – sprudeln darf (vgl. v. 164f.). Es ist somit fraglich, ob sich auch die von August Wilhelm Schlegel perspektivierte Zukunft des Brüderpaars als „Sympraxis“ beschreiben lässt: Ziel ist zwar ein ständiger Dialog und wechselseitiger Austausch, jedoch geht zunächst jeder für sich seinen eigenen Forschungsvorhaben und Erkenntnisinteressen nach.

Strophe 16 ist, wie die erste Strophe, eine Anrufung: an die „Lust des edlen Schaffens“ (v. 166) im freien vereinten Geiste in Opposition zum philiströsen Besitzstreben (v. 169f.) und an die gemeinsame faustische Erkundung dessen, „was die Welt/ Im Innersten zusammenhält“[6]:

Die Gottheit zu erkunden
In Welten und Naturen,
Der Dinge Signaturen,
Wie alles ewig eins. (v. 171–174)

II.

Das Gedicht hat 16 Strophen mit jeweils elf Versen. Das Versmaß folgt relativ gleichmäßig einem dreihebigen Jambus, welcher der schnell voranschreitenden Dynamik und Entwicklung entspricht, die August Wilhelm Schlegel seinem Bruder in diesem Gedicht im Rückblick vorstellt und als Zukunftsperspektive aufzeigt, der Rhythmus entspricht in weiten Teilen dem Metrum, nur in wenigen Strophen sind die Betonungen gegenläufig zum eigentlichen Metrum, so zum Beispiel in der zwölften Strophe, in denen das Ich und das Du am Versanfang betont werden (v. 124f., 128f.).

Das Reimschema ist äußerst komplex und beweist die Meisterschaft August Wilhelm Schlegels in lyrischen Formen. Es entspricht der Vielschichtigkeit im Verhältnis der Brüder – dem Spannungsverhältnis zwischen extremer Nähe – besonders im Rückblick auf die sympoetische Zusammenarbeit in der Jenaer Zeit – und der gegenwärtigen räumlichen Trennung und thematischen Entfernung voneinander.

Eine Strophe enthält jeweils fünf Reime, und zwar durchgängig in der Ordnung abcabdeecdc. Nur der dritte Reim – c – kommt immer dreimal vor, die Reime a und b fallen nach dem fünften Vers ganz weg. Schlegel experimentiert mit verschiedenen Reimformen. Anzitiert, aber nur unvollständig ausgeführt, werden der verschränkte Reim und der Kreuzreim: erster am Anfang jeder Strophe, letzterer am Strophenende. Vollständig hingegen ist der Paarreim „ee“ in den Versen 7 und 8, der damit einerseits ein Zentrum der jeweiligen Strophen bildet, andererseits aber eben nicht direkt in der Mitte liegt (das wären Vers 5 und 6), sondern immer zwei Verse darüber hinausgeht. Diese Position entspricht wie das dynamische, temporeiche Metrum sowohl dem frühromantischen Programm der Progressivität als auch dem Verhältnis des Brüderpaars, für das der Paarreim formal auch stehen kann. Die Zeit, in der die sympoetische Zusammenarbeit in Jena zentral für das Werk und das Wirken der beiden Brüder war, ist vorüber. Die vorangehenden Reime stehen im Gegensatz dazu für getrennte Wege und große Entfernungen; die Perspektive des Gedichts ist nicht die Rückkehr zur frühromantischen Sympoesie, sondern der ständige, wechselseitige Austausch der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne des „freyen Geistvereins“ (v. 169).

Anmerkungen:

[1] Das Gedicht wird mit Angabe des Verses zitiert nach August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 243-250.

[2] Dieser Begriff wurde erstmalig von Novalis verwendet.

[3] Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Erster Band, erstes Stück, Berlin 1798, III.

[4] Zu Friedrich Schlegels Indien-Studien vgl. beispielsweise den Brief an seinen Bruder vom 26.11.1803 (http://august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/, abgerufen am 13.5.2017), das Interesse am Mittelalter zeigt sich bei beiden Brüdern recht früh (vgl. z.B. einen Brief von Friedrich an A.W. Schlegel vom 11.2.1792); zur Mittelalter-Forschung der beiden Brüder vgl. beispielsweise den etwas späteren Brief vom 15.5.1807 (http://august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/letters/, abgerufen am 13.5.2017)

[5] August Wilhelm Schlegel: Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters. In: Die Horen. Eine Monatsschrift herausgegeben von [Friedrich] Schiller. Bd. 6, Jg. 1796, 4. Stück. Tübingen 1796, 57–112, hier S. 109. Digitale Edition von Jochen A. Bär. Vechta 2015. (Quellen zur Literatur- und Kunstreflexion des 18. und 19. Jahrhunderts, Reihe A, Nr. 1661.)