Ende der Verklärung?

Bob Dylans nachgereichte Rede zum Nobelpreis für Literatur ist teilweise plagiiert. Die Deutungsdebatte hat bereits begonnen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Es war knapp, aber er hat es doch noch geschafft. Kurz vor Ablauf der Frist reichte Bob Dylan seine lange erwartete – und nach den Regularien der Schwedischen Akademie notwendigen – Rede beim Nobelpreis-Komitee ein. Es ist eine bereits auf den ersten Blick ungewöhnliche Rede: Eingebettet in zarte Pianotöne erzählt Dylan von seinem Verhältnis zu Literatur, wie sie ihn und sein Schreiben geprägt hat. Am Ende hält er dennoch fest, dass er nun mal ein Songschreiber sei, und Songs seien ausschließlich dazu da, ‚performt‘, also in ein musikalisches Korsett gebettet ihrem Publikum dargeboten zu werden – ob dieses nun in einem Live-Konzert oder vor der heimischen Stereoanlage sitzt („oder wie man sonst heute eben Musik hört“).

Bereits an diesem Punkt gab es erste Zweifel an der Angemessenheit von Dylans Rede; man sprach von Ironie, von Sarkasmus, von Respektlosigkeit. Tatsächlich aber steht die Aufnahme in der Tradition von Dylans jahrelang gesendeter Radio-Show Theme Time Radio Hour, der Sänger und Dichter spricht mit der Stimme des weisen Mittlers historischer populärer Musikkulturen, welche diese Sendung zu einem durchaus hörenswerten Ereignis gemacht haben, dessen Ästhetik nun auf die Nobelpreis-Rede übertragen wurde.

Dass die transportierten Inhalte nun nicht gerade einer solchen Rede würdig sind, steht auf einem anderen Blatt. Als sei er dazu gezwungen worden, widerspricht Dylan sich nach nur wenigen Minuten selbst und geht – fast widerwillig, wie es scheint – auf drei literarische Texte ein, die ihn und sein Schreiben beeinflusst haben: Homers Odyssee, Melvilles Moby Dick sowie, etwas überraschend, Remarques Im Westen nichts Neues. Was der Ausgezeichnete zu den Texten zu sagen hat, ist so in etwa auf dem Niveau eines literaturwissenschaftlichen Proseminars und somit Wasser auf die Mühlen all derer, die ihn für eine denkbar schlechte Wahl für den Literaturnobelpreis angesehen haben. Nun wird dieser aber für das eigene Schreiben und nicht für philologische Glanzleistungen vergeben, und der Umstand, dass Dylan den Preis (hoffentlich) nicht für die immanente ästhetische Brillanz seines lyrischen Werks sondern eher für dessen kulturhistorische Bedeutung erhalten hat, ist schon zur Genüge diskutiert worden und soll an dieser Stelle nicht noch einmal aufgegriffen werden. Was jedoch wenige Tage nach der Publikation der Rede nach und nach an die Öffentlichkeit kam, ist schon eher diskussionswürdig.

Offensichtlich, so fand die Journalistin Andrea Pitzer des Online-Journals Slate heraus, hat Dylan sich für seine Rede großzügig bei den in den USA äußerst populären Sparks Notes bedient. Diese kann man sich als Online-Äquivalent zu den seit Jahrzehnten jedem Schüler und College-Studenten bekannten Cliff Notes vorstellen, die einfache, aber dennoch anspruchsvolle Kurzanalysen literarischer Werke enthalten. Pitzer konzentriert sich dabei auf Dylans Analyse von Moby Dick und findet nicht weniger als elf Stellen, die teilweise wörtlich abgeschrieben wurden, wobei Dylan immer wieder das eine oder andere Wort ergänzt, gestrichen oder abgeändert hat. Dies ist deshalb besonders auffällig, weil in der Sparks Notes-Analyse Begrifflichkeiten fallen, die im Roman so nicht vorhanden sind und zum Teil selbst Spekulationen oder Interpretationen sind. Von einem Zufall kann man bei dieser Häufung nicht mehr sprechen. Tatsächlich erinnert die Gegenüberstellung der Texte auf Slate jenen Blogs, mit denen Politiker wie Carl-Theodor zu Guttenberg als Plagiatoren ihrer Doktorarbeiten entlarvt wurden.

An der Korrektheit der Vorwürfe gibt es demnach kaum einen Zweifel. Komplizierter jedoch ist die nun aufkommende Debatte darüber, warum Dylan plagiiert hat. Dabei scheinen sich drei Lager herauszukristallisieren:

1) Er war zu faul, selbst eine Rede zu verfassen und hat demnach die Frechheit besessen, diese zusammenzuklauen. Vielleicht hat das sogar ein Mitarbeiter für ihn gemacht, die Guttenberg-Variante also. Das Preisgeld nämlich wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen.

2) Die Rede soll seine Verachtung für die Akademie und die Auszeichnung, die er zuvor ja schon bei anderen Gelegenheiten kaum verhehlen konnte, unterstreichen. Er wirft ihnen also einen plagiierten Text hin und lässt sie ins offene Messer laufen. Sollte dies zutreffen, wäre es jedoch konsequent, das Preisgeld nicht anzunehmen oder es zumindest für einen wohltätigen Zweck zu spenden.

3) Dylan führt die auf seinen Alben seit (spätestens) ‚Love and Theft‘ dominante Form des unmarkierten musikalischen und textlichen Zitierens und Collagierens, das Heinrich Detering in seiner Studie Die Stimmen aus der Unterwelt beschrieben hat, konsequent fort und sieht die Rede als weiteres Kapitel seines literarischen Schaffens an.

Es steht zu befürchten, dass Punkt Drei unter Dylan-Forschern in absehbarer Zeit die Deutungshoheit gewinnen wird. Tatsächlich hat die Verklärung von Dylans Collagenkunst mittlerweile eine Dimension erreicht, bei der die Frage erlaubt sein muss, ob man nicht doch seit Jahren auf einen Künstler hereinfällt, der seinen durchaus berechtigten Ruf als künstlerischer Innovator dazu nutzt, seine wachsende Ideenlosigkeit mit unlauteren Mitteln zu unterwandern. Wobei der Einfall, einen Klassiker der amerikanischen Literatur mit abgeschriebenen, weitläufig bekannten Interpretationshilfen zu erklären, nicht gerade vor Originalität strotzt. Aber wer weiß, was für Quellen sich sonst noch so offenbaren, wenn man Dylans Rede intensiver untersucht. Dialoge aus B-Movies aus den 50er Jahren? Ein vergessener Pop-Song aus den 60ern? Ein Tweet von Donald Trump? Die Zukunft wird es zeigen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz