Ein Fall ins Bodenlose

In seinem Roman „Nichts bleibt“ lässt Willi Achten seinen Helden in einen Strudel der Gewalt geraten

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kommt einer im Privatleben zurecht, der als Kriegsfotograf die schlimmsten Gräuel auf Schlachtfeldern rund um den Planeten gesehen hat? Dem das Leid anderer, das er aus der Nahdistanz ablichtet, zum eigenen Ruhm verhilft? Einer, der die Luft an- und die Kamera stillhalten muss, wenn vor ihm ein Mensch stirbt. Jemand wie Robert Capa (1913–1954), James Nachtwey (geb. 1948) oder – denn auch Frauen haben die Schrecken des Krieges im Bild festgehalten – die sich Gerda Taro nennende deutsche Fotografin Gerta Pohorylle (1910–1937), die bis zu ihrem Tod auf dem Schlachtfeld Lebens-und Arbeitsgefährtin von Capa war.

Der im niederländischen Vaals lebende deutschsprachige Lyriker und Romancier Willi Achten hat einen ehemaligen Kriegsfotografen zum Helden seines vierten Romans Nichts bleibt gemacht. Franz Mathys ist kein Unbekannter in der Branche – eines seiner Fotos wurde gar mit dem World Press Photo Award, der begehrtesten Auszeichnung für Fotojournalisten weltweit, geehrt. Doch als der Leser ihm zum ersten Mal begegnet, hat er sich für einen Sommer zurückgezogen auf den Hof seines Vaters inmitten einer ländlichen Idylle, von der er hofft, dass sie ihn die bedrängenden Bilder von Steinigungen in Somalia und den Leichenbergen von Srebrenica vergessen lässt.

Aber die Gewalt scheint Mathys nicht loslassen zu wollen. Als er eines Nachts von Schüssen geweckt wird und – gefolgt von seinem Vater – den vermeintlichen Wilderern im Wald das Handwerk legen will, gerät er an zwei verrohte junge Männer, die rund um das Töten von Tieren Pseudo-Kunsthappenings veranstalten. Sein Vater wird von den beiden zusammengeschlagen und landet anschließend in der Intensivstation, wo er später seinen Verletzungen erliegt. Mathys beginnt daraufhin einen Racheplan zu schmieden, der ihn immer mehr von den Menschen, die ihm noch Halt geben könnten, entfernt und in eine Spirale sich beständig steigernder Brutalität hineinreißt.

Nichts bleibt ist ein Roman, mit dem sein Autor lange gerungen hat. Tief ist er eingedrungen in die Psyche eines Menschen, der Gewalt als Fotograf erst dokumentiert, ehe ihn die Wut über den Verlust seines Vaters selbst zum Gewalttäter macht. Dass er auf diesem Weg nicht nur den Vater, mit dem ihn eine tiefe Liebe verbindet, verliert, sondern die zunehmende Blindheit, mit der er nur noch auf Rache sinnt, ihn auch immer mehr von seiner Ex-Frau und dem gemeinsamen Sohn sowie seiner neuen Liebe, einer jungen Lehrerin, entfremdet, macht die Tragik dieses Mannes aus. Am Ende bleibt ihm als einziger Vertrauter nur noch der Forstverwalter Noeten, mit dem er seinen Wahn und die Überzeugung teilt, Gleiches könne nur mit Gleichem vergolten werden.

Ganz großartig – und gänzlich ungewöhnlich für einen Kriminalroman, als den der Bielefelder Pendragon Verlag Achtens Buch verkauft – sind die Naturbeschreibungen, die einen großen Raum für sich beanspruchen. Und das zu Recht, spiegeln sich in der sich wandelnden Natur doch auch die Seelenzustände des Romanhelden. Ist da zunächst ein großer Friede, ein Eins-Sein des Menschen mit Wald und Feld, Fluss und See zu spüren, macht bereits der die Stille zerreißende erste Schuss zu Beginn des Buches dieses Idyll kaputt. Am Ende dann vermag Franz Mathys in der kalten Bergwelt, in die er seine Feinde gelockt hat, nur noch eine Verbündete zur Vollstreckung seiner Rache zu sehen, etwas, dass dem Menschen nichts zu sagen hat:

Die Natur ist Natur, sie kennt uns nicht, so wie ein Virus und ein Bakterium uns nicht kennen. Sie agieren ohne Willen, ohne Absicht […]. Wir treten in keinen Dialog mit der Natur. Wir sprechen mit der Natur, sie aber nicht mit uns. Nicht der Berg, nicht der Sturm, nicht die Wiesen haben ein Interesse an uns, so wie wir eines an ihnen haben […]. Die Natur schweigt. Wenn sie vermeintlich spricht, führen wir ein Selbstgespräch.

Nichts bleibt ist kein leichtes Buch. Es verlangt seinen Lesern einiges ab. Ungeschönt, weil ständig im Kopf des Helden präsent, Tag und Nacht, schildert Achten, was Franz Mathys an den Kriegsschauplätzen dieser Welt gesehen und mit seiner Kamera festgehalten hat. Kaum weniger eindringlich – und vielleicht ein bisschen zu sehr auf die Spitze getrieben – sind jene Szenen, die im pervertierten Theater der Grausamkeit zweier Wohlstandssöhnchen spielen, die im Schutze des Reichtums ihrer wohlhabenden Familien das Töten von Tieren und die Erniedrigung von Menschen als Kunst und Protest verkaufen.

Auf der anderen Seite aber hat Achtens Buch auch Passagen, wo es ausbricht aus dem fatalen, das Denken seines Helden immer ausschließlicher beherrschenden Kreislauf von Gewalt und Rache. Etwa dann, wenn das Verhältnis von Mathys Vater zu seinem Enkel – im Buch heißt er nur „der Junge“ – geschildert wird. Beide begeistern sich für die Taubenzucht. Dass das geliebte Hobby dem Jungen, der an einer Kontaktallergie leidet, fast das Leben kostet, macht die dunkle Seite dieser Leidenschaft aus und führt letztlich dazu, dass die mit einem neuen Partner zusammenlebende Mutter den Jungen zu sich nimmt, weil sie weder dem Vater noch dem Großvater mehr vertraut. Als schließlich auch die Liebe des Franz Mathys zu der jungen Lehrerin Karen an seiner rasenden Eifersucht zerbricht und der Tod des Vaters ihm die letzte Brücke zur Realität jenseits seines Wahns zerstört, bleibt tatsächlich – wie es bereits der Romantitel andeutet – nichts mehr, was Achtens tragischen Helden von seinem verhängnisvollen Weg abbringen könnte.

Titelbild

Willi Achten: Nichts bleibt.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2017.
464 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783865325686

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