Damals in Podlachien

Ignacy Karpowicz’ großartiger Roman „Sonka“ erzählt eine tragische Liebesgeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein kleiner Weiler in Podlachien im Jahr 1941, im Osten Polens, wo eine weißrussische Minderheit lebt: Während des Kriegs verliebt sich die Bauerntochter Sonka (beziehungsweise Sonia) in den deutschen Soldaten Joachim und wird schwanger. Allein dieses Sujet ist bereits hochbrisant, ja geradezu explosiv, denn es trifft mitten in die Debatten um die Vergangenheit Polens. Gemäß dem offiziellen polnischen Geschichtsbild würde man Sonka wohl als „Nazihure“ bezeichnen. Doch von einer Verteufelung seiner Hauptfigur ist der polnische Autor Ignacy Karpowicz (geb. 1976) weit entfernt. Wenn er in seinem Roman Sonka die Lebensgeschichte dieser Frau erzählt, so ist er bemüht, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er lässt die Protagonistin dabei vorwiegend selber berichten. Seit langem hat man kein Buch mehr gelesen, das von einem solch zutiefst humanistischen Zugang geprägt ist!

Sonka weist viele Ähnlichkeiten mit einer antiken Tragödie auf, und zwar nicht allein in Auswahl und Umsetzung des Themas, sondern auch in der Sprache. Bereits die ersten zwei Seiten sind eine Wucht: Auf ihnen wird Sonka eingeführt, die inzwischen eine alte Frau ist und auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer in ihrem Dorf lebt, das nun nahe der weißrussischen Grenze liegt. Die Protagonistin lebt schon lange allein; Gesellschaft leisten ihr lediglich eine Kuh, ein Hund und eine Katze. Sonkas Leben geht zur Neige, und im Stillen hält sie Rückschau auf ihr tragisches Schicksal:

„Es war einmal vor langer Zeit – so begann Sonia besondere Sätze, Sätze, in denen weder Kühe noch Schweine noch Hühner, weder Feiertage noch Brot noch Steuern, weder Heu- noch Kartoffelernte und auch keine Hagelschläge vorkamen; so begann sie Sätze, die irgendwo im Kehlkopf ins Stocken gerieten; die auf einem glatten, zahnlosen Kiefer strandeten und schließlich wieder in den Körper hinabglitten: zurück in die Lunge, ins Herz und hinein in den Staub, der sich zwischen alten, abgenutzten Organen zu Klumpen ballte.“

Die ersten Zeilen des Romans stecken bereits ein ganzes Erdenleben ab. Sonka erzählt auf fesselnde Art und Weise davon, was genau 1941 und danach geschehen ist. Die Handlung setzt mit einer Panne eines Mercedes mit Warschauer Kennzeichen im Weiler Królowe stojły ein. Der Fahrer ist ein noch ziemlich junger und recht erfolgreicher Regisseur und Schriftsteller, Igor Grykowski, der mit seinem Leben allerdings unzufrieden ist. Warum er in diese Gegend gefahren ist, wird selbst im weiteren Verlauf des Romans nie ganz klar. Sonka, die gerade ihre Kuh getränkt hat, lädt Igor spontan auf eine frische Milch ein. In der Folge entspannt sich allmählich ein Gespräch zwischen den beiden, in dem sich Sonka nach und nach öffnet und ihr langes Leben schildert.

Sie sieht in Igor ein wenig den zurückgekehrten Joachim. Sonja ist sich natürlich im Klaren darüber, dass dies nicht stimmen kann, aber sie spürt zugleich, dass endlich der Besucher erschienen ist, dem sie ihre Geschichte anvertrauen kann. Letztendlich hat man nur dann wirklich gelebt, wenn einem jemand zugehört hat. Igor seinerseits ist von Beginn an äußerst beeindruckt von Sonkas Gesicht, einem, „wie es das Leben eigentlich nicht mehr zeichnete“: Es „schien einer Ikone entsprungen“. Igor wittert denn auch – nicht ganz uneigennützig – sogleich einen vorzüglichen Stoff für ein neues Theaterstück.

Was in den Kriegsjahren und danach genau passiert ist, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Wie aber in diesem Roman erzählt wird, ist atemberaubend! Das liegt sowohl am Stil als auch an der Struktur des Texts. Ignacy Karpowicz betreibt nämlich in der Folge ein überaus raffiniertes Spiel mit den verschiedenen Zeitebenen. Da wäre zunächst das Heute – die (ungefähre) Gegenwart, in der die Begegnung von Sonka und Igor stattfindet. Die wichtigsten Ereignisse aus Sonkas Schicksal liegen indes weit zurück: Sie setzen im August 1941 ein und spielen sich in ein, zwei Jahren ab. Dieser zweiten zeitlichen Ebene ist der größere Teil des Romans gewidmet. Und schließlich gibt es noch ein Danach: Denn ein Jahr nach ihrem Zusammentreffen wird Igors Theaterstück über Sonkas Leben uraufgeführt. Szenen daraus sind zusammen mit Reaktionen der Kritik und des Publikums in den Roman eingewoben. In der zweiten Hälfte des Textes vermischen sich die drei Ebenen zusehends. Hinter diesem Konstruktionsprinzip verbirgt sich auch eine feine, manchmal lediglich implizit vorhandene, stets aber noch vernehmbare metapoetische Reflexion durch den Autor: Was ist geschehen? Wie wird es erinnert? Und wie wird daraus Kunst?

Freilich, das Buch dreht sich vorwiegend um Sonka und ihre schicksalhafte Liebe. Doch auch Igor rückt mit der Zeit ins Blickfeld: Es stellt sich nämlich heraus, dass er eigentlich Ignacy Gryki heißt und selber in Podlachien, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Sonkas Weiler, geboren ist. Als Heranwachsender hatte er aber gemeint, seine weißrussischen Wurzeln ablegen zu müssen, um sich in der polnischen Mehrheitsbevölkerung behaupten zu können. Nun wird er in der Begegnung mit Sonka wieder mit der eigenen Herkunft konfrontiert. Was dabei in der deutschen Übersetzung nur ansatzweise wiedergegeben werden kann: Karpowicz streut in sein Polnisch immer wieder weißrussische Sätze und Ausdrücke ein – vor allem aus dem Munde der Protagonistin. Der Roman erinnert somit auch an die zahlenmäßig zwar kleinen, aber dennoch existierenden ethnischen und religiösen Minderheiten in Polen, die von der Literatur und der Publizistik meist etwas vernachlässigt werden. So ist die Weißrussin Sonka nicht etwa katholisch, sondern orthodox aufgewachsen. Karpowicz schildert die damalige bäuerliche Lebenswelt in Podlachien, ohne sie zu idyllisieren. All dies verleiht dem Roman zum einen ein gewisses folkloristisches Kolorit. Zum anderen weist der Autor mit dem Schauplatz Podlachien aber auch auf einen Landstrich hin, dem im 20. Jahrhundert übel mitgespielt wurde. Sonkas persönliche Tragödie ist daher auch in einem breiteren historischen Kontext zu sehen. Der Roman ist sicher auch autobiografisch grundiert, vor allem bei der Figur Ignacy/Igor ist das zu vermuten.

Ignacy Karpowicz gibt seiner Erzählung hie und da Züge eines Märchens. Auch an die einstmals wichtige „bäuerliche Strömung“ der polnischen Literatur der Nachkriegszeit fühlt man sich bisweilen erinnert. Sonkas individuelles Schicksal wird durch eine solche Kontextualisierung noch einmal zusätzlich eingebettet und ins Allgemeingültige gehoben. Sonkas Geschichte erhält etwas Zeitloses, Parabelhaftes. Zu dieser Wirkung tragen im Übrigen nicht zuletzt die vielen aphoristischen Stellen bei, die sich im Text finden. Das lässt einen mitunter an Wiesław Myśliwski denken, der in seinem Traktat vom Bohnenenthülsen (2006) einen solchen gnomischen Stil perfektioniert hat.

Ebenso kunstvoll wie mit den Zeitebenen geht der Autor auch mit der Erzählperspektive, oder genauer: den Erzählperspektiven, um. Solange Sonka beziehungsweise Igor/Ignacy berichten, erscheint diese unverfälscht. Sobald jedoch in der dritten Person erzählt wird, verknäueln sich die verschiedenen Wahrnehmungen. Dann kann unter Umständen nicht mehr jedes geäußerte Urteil, jeder vorgenommene Vergleich auf eine konkrete Figur zurückgeführt werden. Hier tritt dann jeweils ein übergeordnetes erzählendes Bewusstsein an die Oberfläche, das über die Möglichkeit verfügt, die Ereignisse einzuordnen. Dabei findet sich auch manche ironische Bemerkung oder gar satirische Spitze. Selbst Sonkas Kuh Mućka versinkt ab und zu in Gedanken. Das ist nun nicht etwa als ein Mangel des Romans zu werten – im Gegenteil: Ignacy Karpowicz hat hier im Grunde genommen den klassischen Chor der antiken Tragödie untergebracht – er hat ihn in den unterschiedlichen Perspektiven quasi aufgelöst.

Ignacy Karpowicz’ Roman Sonka ist unbedingt lesenswert. Für die Hauptfigur gab es übrigens ein reales Vorbild: Leon Tarasewicz, ein verwandter Maler, erzählte dem Autor die entsprechende Geschichte. Dass man dies weiß, ist aber für die Lektüre letztlich völlig unerheblich. Denn entscheidend ist nur, was Karpowicz aus den Tatsachen gemacht hat: nämlich einen sprachlich und inhaltlich überzeugenden Roman – emotional, aber auch brutal, doch gerade in der Figur Sonkas immer von einem tiefen Pazifismus getragen.

Titelbild

Ignacy Karpowicz: Sonka. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Katharina Kowarczyk.
Berlin Verlag, Berlin 2017.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013439

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