Neuere Migrationsliteratur in einer Diskursfalle

Thomas Hardtke, Johannes Kleine und Charlton Payne legen den Sammelband „Niemandsbuchten und Schutzbefohlene“ vor

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 2017 erschienene Sammelband zu Flucht-Räumen und Flüchtlingsfiguren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist das Ergebnis zweier Tagungen: 2015 in Berlin und 2016 in Greifswald. Motiviert wurde dieser Band, wie es die ersten Absätze der Einleitung vermuten lassen, durch Migrationsbewegungen jüngerer Zeit. Dabei soll er auch zeigen, so die Herausgeber, dass die inhaltlich breite und an Perspektiven reiche deutschsprachige Literatur weit über die aktuellen Entwicklungen und derzeitige politische Aushandlungsprozesse hinausgeht. Als den historischen Beginn der Gegenwartsliteratur setzten die Herausgeber die frühen 1990er Jahre an. Analysiert werden dabei nicht nur die neuesten Migrationsbewegungen sondern auch die Fluchtgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, zumal die Flucht als literarischer Topos verschiedenen Konzepten nationaler Geschichtsschreibung kritisch nachzugehen erlaubt.

Eine besondere Stärke des Bandes liegt darin, dass er kanonische Texte der deutschsprachigen Exilliteratur mit aktuelleren Werken von AutorInnen mit und ohne Migrationserfahrung verbindet und sich dabei auf Forschungsliteratur neueren Datums bezieht. Eine Analyse von Repräsentationsstrategien, wie sie in dem vorliegenden Band mehrmals unternommen wird, kann zudem beleuchten, wie Wissen produziert und Diskurse geführt werden. Die hier behandelten Texte bieten sodann vielfache Einsichten in die Mechanismen der Produktion sozialer Bedeutung. Denn die Literatur kann nicht nur Existenzen abbilden oder narrative Mittel zur Schilderung der Fluchterfahrung ausprobieren, sondern auch zeigen, wie stereotype, weniger reflektierte Konzepte von Flüchtlingsfiguren Eingang finden in die Sprache des Alltags.

Unterschiedliche Aspekte der Flüchtlings- und Migrationsthematik werden in fünf Themenbereichen beleuchtet, die sich wiederum aus insgesamt 17 Beiträgen zusammensetzten.

Der erste Teil widmet sich der Identität und Identitätslosigkeit: Hansjörg Bay untersucht hier Sherko Fatahs Roman Das dunkle Schiff, der sich als ein postheroischer Text den alten Rezeptionsmustern entziehe, da Fatah aus der Sicht seines Protagonisten erzählt, der sich an menschenverachtenden Verbrechen beteiligt, ohne dass er der Erklärung und Beurteilung durch eine überlegene Instanz unterworfen wird. Warda El-Kaddouri liest Abbas Khiders Der falsche Inder und Das dunkle Schiff von Sherko Fatah als zwei sehr unterschiedliche Fluchtnarrative, die verschiedene Gründe und Arten der Flucht mit der Dimension der Religiosität verbinden. Zudem sei die Neuorientierung zu einem radikalen Islam in Deutschland die Folge einer aufgrund eines geringen Identifikationsangebots gescheiterten Verortung der Migranten in der neuen Heimat. Anhand des Romans Auswandertag von Klaus Oppitz, der eine rein fiktionale und zudem eine kontrafaktische Geschichte erzählt, zeigt Stefan Alker, dass dieser Text mangels der Autorität der Erfahrung auf Standard-Erzählmuster zurückgreift und somit auf einen „universalisierenden Diskurs“ verweist, der jedoch um eine satirische Analyse gegenwärtiger politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen bereichert wird.

Im zweiten Teil des Sammelbandes stehen Orte und Ortlosigkeit im Fokus: René Kebelmann fragt am Beispiel Alle Tage von Terézia Mora nach der sprachlichen und inhaltlichen Repräsentation von Flucht, insbesondere der Traumata, Ortlosigkeit, Herkunft sowie Identität, und kommt zu dem Schluss, dass dieser Roman den Flüchtling als Konstrukt verschiedener, ambivalenter Zuschreibungen und Projektionen in den Mittelpunkt rücke und dazu jede Vorstellung von Heimat und Freude als antipodische Elemente in Frage stelle. Dabei biete der Roman aufgrund seiner narrativen Struktur, die sich durch die Abwesenheit eines durchgängigen Erzählers und die Unbestimmtheit der Zeit und des Ortes, auszeichnet, mehrere verschiedene Lesarten. Des Weiteren führt Christian Luckscheiter vor, dass Peter Handkes Bücher nicht nur von Flüchtlingsfiguren, sondern auch von Flüchtlingsorten geprägt sind. Doch anders als in den meisten Narrationen über die Migrationserfahrung werde hier ein positives Bild der Flucht als Selbstbefreiung postuliert. Handkes Flüchtlingsfiguren seien als „Experten der Bewegung“ und die „Phänomenologen der neuen Nomadizität“ dabei als Repräsentanten einer postnationalen Lebensform und als Helden einer anderen Migrationsliteratur die „Auswanderung aus der Nationalliteratur“ vorantreibend. In den Romanen Der falsche Inder von Abbas Khider und Transit von Anna Seghers erweist sich die Überlebenskunst, die stets mit dem Ortswechsel verbunden ist, so Hanna Maria Hofmann, als ein Spiel mit der eigenen Identität, sogar bis zu ihrem Verlust.

Der dritte Teil behandelt die Erzählstrategien der Migrationsliteratur: Sabine Zubarik sieht in Lutz Seilers Roman KRUSO trotz seiner Fokussierung auf die Gestrandeten einen Roman über Flüchtlinge. Diese werden für ihre Flucht mit einem dreifachen Verschwinden bestraft, und zwar erstens aus dem gewohnten Umfeld, zweitens mit dem realen Tod im Meereswasser und drittens dem „memorialen“ Verschwinden als eine zur Unkenntlichkeit entstellte Wasserleiche, die aufgrund fehlender Identifikation mit einer Nummer versehen und im Zwischenstatus der Konservierung an Un-Orten – hermetisch verriegelten namenlosen Massengräbern – aufbewahrt wird. Denn erst eine personale Zuordnung macht eine Bestattung möglich. David Österle nähert sich diskursanalytisch Elfride Jelineks Drama Die Schutzbefohlenen, dessen Begrifflichkeit wesentlich dem Krisenvokabular aus dem Bereich von Naturkatastrophen entnommen wurde. Ans Licht komme auch die für die Sprachbilder des Flüchtlingsdiskurses charakteristische Strategie, die traumatischen Erfahrungen der Fluchtsuchenden zu relativieren und die Rollen von Geflüchteten und Ansässigen paradoxal zu verkehren. Die kulturellen Selbstentwürfe der Immer-schon-Ansässigen werden außerdem als eine diskursiv hervorgebrachte Konstruktion entlarvt. Wie es in der Sprache zur Bewältigung des Traumas (working truth) kommt und welche Indizien, wie z.B. der Wiederholungszwang der traumatischen Szenen, es für die Phase des acting out gibt, beschäftigt Svetlana Arnoudova, die in ihrem Aufsatz am Beispiel des Debütromans Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić die Versprachlichung und Erzählbarkeit der Fluchtgeschichte analysiert. Martina Sablotny zufolge wird in Die Welt ist groß und die Rettung lauert überall von Ilja Trojanow sowie in Die Abenteuer des Joel Spazierer von Michael Köhlmeier mithilfe der Spielmetapher erzählerische Selbstbehauptung der Figuren erreicht. Zudem erschaffe das Erzählen in beiden Romanen einen Freiraum zur erzählerischen Selbstbestimmung.

Im vierten thematischen Teil konzentrieren sich die BeiträgerInnen auf die historischen Fluchtsujets: Doerte Bischoff wirft einen Blick auf die Auseinandersetzung der Wissenschaft und der Gegenwartsliteratur mit den Exilromanen und echten Kriegsexilanten. Während Norbert Gstreins Buch Die englischen Jahre gewissermaßen noch an der Schwelle eines Exildiskurses stehe, der vor allem die Notwendigkeit akzentuiere, durch die Sicherung der Dokumente an die Vertriebenen zu erinnern, sei die Abwendung von diesem Narrativ in Michael Lentz‘ Pazifik Exil deutlich vollzogen. Denn die Fülle des Materials werde hier spielerisch mit fiktionalisiertem Material kombiniert. Beide Texte problematisieren dabei Formen und Erscheinungsweisen kultureller Erinnerung, die eine Rhetorik der Selbstvergewisserung und Homogenisierung reproduzieren. Charlton Payne betrachtet am Beispiel Ursula Krechels Shanghai fern von wo die Literatur als ein Zeugnis der Flüchtlingsschicksale, als eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Dokumenten, in denen die Erinnerungsspuren der Betroffenen auffindbar seien. Wie Katrin Max zeigt, wurde die Flucht in der ehemaligen DRR, abhängig von ihrer Richtung, unterschiedlich sprachlich konnotiert, und zwar hieß die Einwanderung aus den ehemaligen Ostgebieten „Umsiedlung“, während die Republik-Flucht als ein „ungesetzlicher Grenzübertritt“ betitelt wurde, wodurch derselbe Akt abhängig von seiner Richtung der Fluchtbewegung als ein legitimer Vorgang oder als krimineller Akt bezeichnet wurde. Von dieser Verstellung ausgehend beobachtet Max, dass Christoph Heins Roman Landnahme als Roman der Gegenwartsliteratur bestimmte Schreibstrategien der DDR-Literatur fortführe, indem gewisse, für die Interpretation relevante Details nur durch äußerst dezente Andeutungen oder gar durch erst zu entschlüsselnde Informationen mitgeteilt würden.

Im fünften und letzten Teil des Sammelbandes steht der literarische Diskurs im Vordergrund: Alexandra Ludewig sieht den Richard aus Jenny Erpenbecks Roman gehen, ging, gegangen in einer vorübergehenden Rolle des Ersatzvaters für die afrikanischen Flüchtlinge. Um der eindimensionalen Darstellung des Flüchtlingshelfers in den Medien entgegenzuwirken, schlägt Ivo Theele eine Literatur vor, die das Potential habe, einen Beitrag zur öffentlichen Debatte zu leisten, indem sie die Figur des Fluchthelfers differenzierter darstellt. Er sieht also die Literatur als einen sensibilisierenden und wahrnehmungserweiternden Gegenpol für die politische bzw. öffentliche Debatte. Für Sarah Steidl ist der Flüchtling – am Beispiel Abbas Khiders Roman Der falsche Inder – ein Grenzengestalter. Denn Khider inszeniere Rasul als eine Person, die bereits seit frühester Kindheit Praktiken der Grenzziehung hinterfragt hat. Die Grenzen seien in diesem Roman weitaus mehr als geografische Gegebenheiten, da sie als politisch konstruierte und geschützte Linien über die Routen und das Weiterkommen der Flüchtigen bestimmten.

Zusammenfassend lassen sich zwei relevante Leistungen dieses Sammelbandes hervorheben, nämlich der Rückgriff auf die aktuelle (interdisziplinäre) Forschungsliteratur und die Analyse vieler neuer Werke der Gegenwartsliteratur. Zu konstatieren bleibt allerdings, dass die Beiträge in einer Art „Diskursfalle“ bleiben und kaum über die traditionellen Forschungsfragen hinausgehen. Dennoch sind sie mit Gewinn zu lesen, vor allem aufgrund der vielen abgedeckten Facetten der Flüchtlingsthematik. Daher ist der Sammelband allen am Fluchtdiskurs Interessierten zu empfehlen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thomas Hardtke / Johannes Kleine / Charlton Payne (Hg.): Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Deutsche Gegenwartsliteratur und Medien, Band 22.
V&R unipress, Göttingen 2016.
326 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783847106814

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