Gespaltenes Erzählen

Hermann Kinders „Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit“

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Konstanzer Autor und Literaturwissenschaftler Hermann Kinder hat mit Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit einen Roman vorgelegt, der die jüngste Vergangenheit der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit der aktuellen Gegenwart in Beziehung setzt. Geschildert wird aus Sicht eines namenlosen Ich-Erzählers das Leben von „E“ bis zu dessen Freitod im Jahre 1963.

Die Verbindung von Gegenwartsbezug und Vergangenheitsreferenz ist ein bekanntes Verfahren aus realistischen Texten. Man könnte sogar einen Zusammenhang zwischen Kinders erstem literaturwissenschaftlichen Werk, der Magisterarbeit über Raabes Odfeld und Hastenbeck aus dem Jahre 1968, und seinem aktuellen Buch herstellen. Genau das Verhältnis von Fiktion und autobiographischer Erinnerung zur privaten wie öffentlichen Geschichtsschreibung ist ja nicht nur Raabes großes Thema, sondern auch das Thema Kinders als Schriftsteller. Bereits in Der Schleiftrog wird das Verhältnis von Geschichte und Erzählung, von der Möglichkeit, den Objektivitätsdrang der Geschichtserzählung mit dem Willen zur Subjektivierung zu verbinden, sehr deutlich. Das aber verbindet den Autor Kinder mit dem Literaturwissenschaftler Kinder.

Der Name des jungen Mannes, dessen Porträt Kinder zeichnet, lautet E. Dieser E wird im Text auf eine mehrfache Art und Weise charakterisiert – erstens durch seine eigenen Tagebucheinträge, dann durch einen etwas im Hintergrund verfahrenden Erzähler, der E, seine Brüder und die allgemeinen Zeitläufte der fünfziger und sechziger Jahre in den Blick nimmt, und dann schließlich durch die aktuellen Notizen eines Ich, der sich als jüngerer Bruder von E zu erkennen gibt. Kurz gesagt: ein klassisches realistisches Verfahren, die Polyphonie der Erzählerstimmen so zu konstruieren, dass letztlich unklar bleibt, worum es im Text eigentlich geht.

Es ist auch deswegen realistisch, weil es die Realität des Erzählten durch das Erzählen selbst in die Distanz rückt, in der sie für den Leser wieder lesbar wird. Wie wir seit Hans Blumenbergs Dekonstruktion der Gehlen’schen Anthropologie der Institutionen wissen, hält die Wirklichkeit kein Mensch aus. Durch realistische Verfahren setzt die Literatur die Wirklichkeit auf Distanz − nicht nur für den Leser, sondern auch für den Schreiber.

Die Distanz zwischen dem Früher und dem Heute wird immer wieder thematisiert. So hat es im Früher kein Wasser in „PET-Flaschen“, keine „Avocados, keine Auberginen“, nur „Vater und Mutter“ gegeben, wohingegen das Heute durch den technischen Fortschritt gekennzeichnet wird, den der Ich-Erzähler in gewohnt kulturkritischer Manier kommentiert bzw. durch seine Lektüren durchscheinen lässt: Öffentliche Intimität erscheint als Exhibitionismus und somit als Sennett’scher „Terror der Intimität“.

E ist für das Kinder’sche Projekt, Geschichte im Medium der Einzelbiographie lesbar werden zu lassen, eine exemplarische Figur, ja, eine im Sinne des realistischen Programmatikers Ruge aus dem 19. Jahrhundert, ‚wahre‘ Figur. „In der Poesie heißt Realismus, wirkliche Ideen und wirkliche Ideale hervorzubringen und durch wahre Figuren so hindurchscheinen lassen, daß diese Figuren den Erdgeschmack verlieren und der Idee ebenbürtig werden, die sie auszudrücken haben“, schreibt Ruge. E ist eine ‚wahre Figur‘ der fünfziger Jahre. Seine Fluchten in die Lektüre, die ihn davon abhalten, in der Schule zu reüssieren, sein Suizidversuch, der ihn in die Psychiatrie bringt, seine Flucht aus der Schule, sein Drängen, sich mit Hilfe des Schauspielens aus den Fängen des eigenen Ich zu befreien; all dies miteinander verwobenen Diskurse und Narrative machen E zu einer Figur, an der gesellschaftliche Phänomene wie Bildungsaufstieg, der ja nichts anderes ist als die Befreiung aus den Hindernissen der Herkunft, les- und erkennbar werden.

Kinders Roman ist auf den ersten Blick nicht immer einfach zu lesen, doch beim zweiten Lesen entpuppt sich der Roman als erzähltechnisch avancierter Text, der realistisch wirkt, ohne in die platte Widerspiegelung des Wirklichen abzugleiten. Die Lektüre lohnt sich – für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler ohnehin.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hermann Kinder: Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit.
Weissbooks, Frankfurt am Main 2016.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783863371029

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