Zwischen Probenkeller und großer Freiheit

In Thomas Brussigs Roman „Beste Absichten“ verhindert die Wende den Durchbruch einer großen Band

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt Thomas Brussig seit zweieinhalb Jahrzehnten als einen Geschichtenerzähler von Rang. Dass das, was er uns erzählt, nicht immer hundertprozentig mit der Realität übereinstimmt, mit der es dennoch durch feine Fäden verbunden ist, hat man freilich auch längst geahnt. Spätestens seit seinem letzten Roman Das gibt’s in keinem Russenfilm (2015), in dem der Berliner Autor sein eigenes Leben zum Thema gemacht hat – allerdings in einen historischen Rahmen gestellt, der weder Wende noch Wiedervereinigung kennt, ja uns Lesern sogar unterjubeln will, den „Kampf der Systeme“ habe letzten Endes die DDR für sich entschieden – steht aber fest: Dem Mann ist wirklich nicht zu trauen. Einmal hinter der Schreibmaschine sitzend, gehen ihm nur zu gern die literarischen Pferde durch. Dann wird es zwar in der Regel ziemlich lustig, aber einem Lügendetektor sollten die entsprechenden Seiten nicht unbedingt vorgelesen werden.

Vielleicht ist es das – die Gefahr, nicht ganz ernst genommen zu werden –, was Brussig veranlasst hat, den drei Teilen seines aktuellen Romans diesmal je eine unwahrscheinlich anmutende, aber wahre Anekdote voranzustellen. Sowohl die Geschichte des Kugelstoßers Ralf Oesterreich, dessen sagenhafter Zschopauer Weltrekord aus dem Jahr 1976 nie Eingang in die offiziellen Leichtathletik-Statistiken fand, als auch jene der misslungenen DDR-Flucht eines Gubener Autoschlossers mit einem ausrangierten und flugunfähig gemachten Armeehubschrauber klingen nämlich zunächst wie Erfindungen des Autors selbst. Und dass im Jahr 1971 im Stausee der Thüringer Lütsche-Talsperre ein amphibischer Prototyp des Pkw Wartburg auf Probefahrt ging, scheint eher eine Münchhauseniade zu sein als ein Tatsachenbericht. Alle drei Geschichten, die Brussig der verrückten DDR-Realität entnommen hat, haben nur den einen Zweck: eine vierte zu beglaubigen. Oder in den eigenen Worten des Autors: „Wenn es möglich ist, dass jemand einen Weltrekord erzielte, der vor der Welt verborgen blieb, dann ist es auch möglich, dass es eine große Band gab, die niemand kannte.“

Diese letzte Behauptung gehört nun freilich der Vergangenheit an, denn mit dem neuen Roman Brussigs werden die fünfköpfige Formation und ihr Manager Äppstiehn – benannt nach dem Beatles-Macher Brian Epstein – ein für allemal dem Vergessen entrissen. Und das macht Thomas Brussig genau so, wie man es von ihm kennt, ja inzwischen fast erwartet: voller Witz, eloquent, erfindungsreich und hinter allem Scherz und jenseits von Satire und Ironie durchaus auch mit einem Schuss tieferer Bedeutung versehen.

Aus Sicht des rein zufällig in die Managerrolle einer Band mit dem wenig anziehenden Namen „Die Seuche“ geratenen Helden erlebt der Leser auf knapp 200 Seiten nicht nur die kurze Karriere dieser Gruppe mit, sondern auch und vor allem das historische Drumherum, sprich: die letzten Jahre der DDR, die Wendezeit und das langsame Ankommen der Ostdeutschen in ihrer neuen Realität. Es beginnt in einem maroden Berliner Probenkeller, für den Brussigs gewitzter Erzähler eine Tür organisiert, damit nicht jede Nacht ein anderes Bandmitglied die Instrumente bewachen muss, setzt sich fort über erste öffentliche Auftritte auf Familien- und anderen Feiern in den „Fresswürfel“ genannten, klobigen Gaststätten der DDR-Neubaugebiete und endet mit einem New Yorker Auftritt, den sogar Yoko Ono mit Wohlgefallen verfolgt.

Dazwischen liegen vielversprechende Ansätze zu einer großen Karriere, die aber immer wieder im Sande verlaufen – einerseits, weil Äppstiehn zwar voller verrückter Ideen steckt, ihm zu Epstein aber doch noch eine ganze Menge fehlt, andererseits, weil die Wende die ambitionierten Musiker zunächst einmal auf neue Wege führt. Denn endlich darf man von der großen Freiheit nicht mehr nur in kleinen Liedern singen, sondern sie am eigenen Leib erfahren. Die Musik tritt in den Hintergrund, weil plötzlich das Geld eine viel größere Rolle als in den Zeiten spielt, als man noch für eine warme Mahlzeit zu den Instrumenten griff. Und so kommt es, dass die Mitglieder der Band sich schnell aus den Augen verlieren, obwohl ein geschickter Coup ihres mit allen Wassern gewaschenen Managers – er hat den in die Prager Botschaft der Bundesrepublik geflüchteten, ausreisewilligen DDR-Bürgern ihre stehengelassenen Autos mit Westgeld billig abgekauft, um sie umso teurer in Berlin wieder zu verkaufen – für die finanziellen Mittel sorgte, um „Die Seuche“ endlich professionell auszurüsten und groß herauszubringen.

Doch es ist nicht mehr die Zeit, in der man die Musik zum Überleben brauchte. Und so geht jeder nun seinen eigenen Weg. Der Ex-Manager beginnt ein Jura-Studium – „Ihr Ostler müsst Jura studieren. Sonst werdet ihr alle auf das furchtbarste verarscht“, hat ein Verwandter aus dem Westen ihm den Weg gewiesen –, besinnt sich aber schnell wieder auf seine eigentlichen Talente. Mit einem Fahrradkurierdienst wird der ehemalige Keyboarder zum reichen Mann, während sich Bassist Rainer in die „Neue Musik“ stürzt, Schlagzeuger Micha die Computerbranche für sich entdeckt, Gitarrist André eine Szenekneipe eröffnet und Sängerin Silke als Messe-Hostess und Bühnentechnikerin ihr Auskommen sucht.

Nur einmal noch kommen die fünf Musiker und ihr Manager zusammen. Auf einer gemeinsamen Reise nach New York, einem Jugendtraum, geträumt in einem Land, in dem man sich New York als Reiseziel bis zur Rente aus dem Kopf schlagen konnte, gibt man das Geld, das Äppstiehns Autodeals einst einbrachten, aus, erinnert sich an die alten Zeiten und greift sogar noch einmal zu den Instrumenten, bevor man für immer auseinandergeht.

Es hat in den letzten Jahren eine Reihe von Büchern gegeben, mit denen sich Brussigs Beste Absichten vom Thema her durchaus vergleichen lassen. Dass dieser Roman allerdings kein bloßer Nachläufer eines Trends ist, merkt man ziemlich schnell. Alexander Osangs Buch Comeback (2015)beispielsweise kommt, da sein Autor die DDR-Kultbands „Silly“ und „Pankow“ beim Schreiben im Kopf hatte, authentischer daher. Der autobiografisch geprägte Roman Alle Nähe fern (2015) des „Pankow“-Sängers André Herzberg wiederum schlägt ungleich ernstere Töne an, weil er über das Thema Musik hinaus die Geschichte einer jüdischen Familie über einen Zeitraum von 100 Jahren ins Auge fasst und gleichzeitig eine Art Selbsttherapie seines Autors zur Bewältigung einer Lebenskrise darstellt  Andere in letzter Zeit erschienene Texte wie die Erinnerungen des „Rammstein“-Keyboarders Christian „Flake“ Lorenz an sein Leben als Musiker in der DDR und danach – Der Tastenficker: An was ich mich so erinnern kann (2015) – sind eher szeneinterne Berichte.

Möglicherweise besitzt Brussigs kleiner Roman deshalb noch die meiste Ähnlichkeit mit Sven Regeners Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt (2013). Das eine Buch spielt im sich wandelnden deutschen Osten Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Das andere begleitet Regeners Antihelden Frank Lehmann als Tourbusfahrer auf eine Rave-Revival-Tour von Berlin bis ins norddeutsche Schrankenhusen-Borstel Mitte der 90er. Beide Romane stammen von Autoren, deren Texte seit jeher ihren je eigenen Sound besitzen. Und hier wie da geht es um die Herausforderungen einer Zeit, der Lehmanns schräge Helden am liebsten für immer entfliehen würden, während die Mitglieder der „Seuche“ sich aus einem Ersatzleben, das für sie die Musik darstellte, plötzlich in eine Freiheit entlassen sehen, die ihnen ganz neue Horizonte eröffnet. Wende Ost hier, Wende West da – vielleicht wird man in einigen Jahrzehnten besser begreifen, wie schwierig es für die Deutschen war, sich nach 40 Jahren Trennung wieder zusammenzuraufen, wenn man diese beiden – scheinbar so leichten – Bücher noch einmal aus dem Regal hervorholt.

Titelbild

Thomas Brussig: Beste Absichten. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972436

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