Holocaustliteratur im Deutschunterricht

Rezeptionsformen von Anne Franks „Tagebuch“ und John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ empirisch untersucht

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Einsatz von Texten zum Holocaust im Deutschunterricht der Sekundarstufe ist seit vielen Jahren und Jahrzehnten keine Seltenheit mehr. Nicht zuletzt wegen der Einsatzmöglichkeiten von entsprechenden Medienverbünden aus Buch, Verfilmung, Comic und Hörversion ist die Kanonisierung des authentischen Tagebuch der Anne Frank weit vorangeschritten. Auch nach dem Erfolg des fiktiven Romans Der Junge im gestreiften Pyjama stellt sich die Frage, welche qualitativen Unterschiede und spezifischen Chancen sowie Risiken sich bei der Rezeption von Holocaust-Literatur ergeben. In einer lesens- und erkenntnisreichen Studie, die als Promotionsschrift an der Pädagogischen Hochschule Weingarten 2014 abgeschlossen wurde, untersucht Katharina Prestel mit qualitativ-empirischen Mitteln die Rezeptionsweisen der beiden genannten Texte durch Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 und 10 an Realschulen.

Prestel zeigt unter Berücksichtigung von literaturwissenschaftlichen Konzepten und didaktischen Überlegungen, welche genuine Perspektiven von den jugendlichen Leserinnen und Lesern auf die Texte eingenommen werden: „Diese Studie versucht, sich den Perspektiven der Schüler(innen) anzunähern. Dafür werden bewusst Texte ausgewählt, die dem Kanon entsprechen. Es soll ermittelt werden, wie Schüler(innen) auf die Texte, die ihnen vorgesetzt werden, reagieren.“ Das besondere Verdienst der Studie liegt in der empirischen Ermittlung, dass die Zuschreibung von Kategorien wie Authentizität, Fiktionalität und Empathie zwar eine gewisse Bedeutung für den jeweiligen Rezeptionsprozess besitzt, jedoch nicht in dem in der Sekundärliteratur oftmals unterstellten Maße. Die Studie strebt insofern explizit danach, „die Ermittlung der Rezeptionsakzente, die Schüler(innen) der Sekundarstufe für die ausgewählten Texte setzen“, transparent zu machen.

Prestels Dissertation ist als qualitative Studie klassisch gegliedert: Um zu untersuchen, wie Jugendliche Textauszüge aus diesen beiden Werken rezipieren, geht sie in vier Schritten vor: Eingangs liefert sie einen knappen Forschungsüberblick zum Thema Holocaust-Literatur in Theorie und Empirie, ferner stellt sie grundlegende Konzepte der Untersuchung vor, die um die Schlüsselbegriffe „Authentifizierung“, „Fiktionsbezug“ und „Empathie“ kreisen. Der zweite Teil der Studie umfasst die qualitativ-empirische Untersuchung mit dem etablierten Siebenschritt aus Begründung der Textauswahl und Ermittlung der Rezeptionsangebote, Darstellung der Forschungsmethodik und Pilotierung der Studie, Datenerhebung, Datenaufbereitung, Datenauswertung mit der Qualitativen Inhaltsanalyse sowie Ermittlung der Schwerpunkte der Rezeption und Reflexion der Gütekriterien qualitativer Forschung mit Fokus auf Validität und Reliabilität. Im dritten Kapitel erfolgt die Darstellung der Untersuchungsergebnisse, wobei Prestel zunächst den Kategorien „Authentizität“, „Fiktion“ und „Empathie“ in den Interviews nachspürt, daran anknüpfend die drei Typen der Rezeption im Längsschnitt darstellt und schließlich aus methodologischen Gründen zu einer Revision der drei Rezeptionstypen im Querschnitt gelangt. Im abschließenden vierten Teil der Studie reflektiert sie die Ergebnisse hinsichtlich der drei Rezeptionstypen „beschreibender“, „fragender“ und „wertender Typ“. Sie konstatiert: „Gegebenenfalls müsste […] das zur Datenanalyse verwendete Kategoriensystem überarbeitet werden. Besonders die Kategorien ‚beschreibend‘ und ‚fragend‘ müssten […] von den Kategorien abgegrenzt werden, die einen aufgabenunabhängigen Zugang zum Text beschreiben.“

Des Weiteren wirft sie die Frage auf, inwieweit Authentizität, Fiktion und Empathie didaktische Anknüpfungspunkte für die Unterrichtsplanung und konkretes Unterrichtshandeln bieten. Ihr ambivalentes Fazit: „Aus der Verteilung der Rezeptionsakzente sowie den abgeleiteten Typen der Rezeption wird ersichtlich, dass die in der Fachliteratur präferierten Konzepte ‚Authentizität‘, ‚Fiktion‘ und ‚Empathie‘ von den Schüler(inne)n nicht schwerpunktmäßig thematisiert werden.“

Ein umfangreicher Anhang lässt die eingesetzten Mittel der empirischen Studie deutlich werden: Leitfadeninterviews, Transkriptionen, Reminding-Verfahren, Kodiereinheiten sowie ein Ausschnitt aus dem Fragebogen zum Vorwissen werden neben anderen eingesetzten Erhebungsmitteln dokumentiert.

Einige Ergebnisse der Studie werden in der kommenden Zeit sicherlich zu vertiefenden Diskussionen in Didaktik und Literaturwissenschaft führen: Etwas überraschend relativiert Prestel den Erkenntniswert ihrer Studie für zwei Rezeptionsformen, indem sie konstatiert: „Dabei steht allerdings besonders bei den zwei Rezeptionstypen ‚beschreibend‘ und ‚fragend‘ zur Debatte, inwiefern sie als Folge der Aufgabenstellung verstanden werden können.“ Sie führt dies multikausal auf das eingesetzte Verfahren, den Einflussfaktor der Lesekompetenz und das Aufgabenformat zurück, also auf externe Effekte, die ihr Forschungsdesign genauer hätte reflektieren können.

Unabhängig davon ist bedenkenswert, dass die interviewten Schülerinnen und Schüler die Begriffe „Authentizität“, „Fiktionalität“ und „Empathie“ nur selten selbständig zum Schwerpunkt ihres Zugangs heranziehen, vielmehr sei es „relevant, welcher Bezug zu ihrem eigenen Erleben besteht“. Das wird auch gestützt durch den Befund, dass sich „immer wieder Hinweise auf assoziative Verknüpfungen mit Filmen, Bildern und Dokumentationen finden“, die jenseits von Fiktionalitätskompetenz Rezeptionsprozesse beeinflussen.

Deutlich macht die verdienstvolle Studie auch, dass weitere empirische Forschungen zur Rezeption und zum Einsatz von Holocaustliteratur im Schulunterricht erforderlich sind, um datengestützt und empirisch abgesichert Qualitätsstandards und Wirkungseffekte des Lektüreeinsatzes ermitteln und nachweisen zu können. Horizonterweiternd zu dieser Thematik sind Prestels Analysen allemal.

Titelbild

Katharina Prestel: Rezeptionen des Holocaust. Schülerinnen und Schüler lesen Anne Franks „Tagebuch“ und John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“. Eine qualitative Studie.
Metropol Verlag, Berlin 2017.
250 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783863313289

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